Jahresrückblick 2018 – Top 50 Reissues

29.11.2018
In immer entlegenere Nischen wurde in diesem Jahr nach Reissues geforscht: bei indigenen Völkern, in mexikanischen Planetarien oder in den 1980er Jahren in Belgien aufgeführten Theaterstücken. Wir haben euch mal die besten herausgesucht.
Die Sharks sahen 2018 ihren Fellen beim Davonschwimmen zu. Kaum ein heiliger Gral, der nicht von den Indiana Jones’s der Reissue-Industrie mit einem Peitschenschlag aus zusammenbrechenden Katakomben gefischt, rundpoliert und für alle sichtbar ausgestellt wurde. Christy Essien, das Mkwaju Ensemble oder das Peter Brötzmann Octet und das Ströer Duo: Die Discogs-Mediane konnten in den vergangenen Monaten leise seufzend in sich zusammenfallen.

Das hat seine negativen Seiten. Denn war die Idee nicht einst, das Neue mit offenen Armen zu empfangen, anstatt uns alte Lasten aufzuschultern? Positive Nebenwirkungen waren allerdings genauso zu vermerken: Midori Takada, Lena Platonos, Alanis Obomsawin, Beverly Glenn-Copeland und K. Leimer beispielsweise werden zwar viel zu spät, dafür jedoch ausgiebig gewürdigt. Nachträgliche Gerechtigkeit? Vielleicht, aber nicht allen wird diese zuteil – weil es nicht mehr möglich ist. Jóhann Jóhannsson verstarb Anfang des Jahres, Ursula LeGuin wenige Monate später. Alice und John Coltrane, die Elecktroids (alias James Stinson), Suba (Mitar Subotic) oder natürlich J Dilla werden nicht erleben, wie neue Generationen ihre alten Platten in Zukunft als Inspirationsquellen vor sich hertragen.

Vor allem können die Nerds von heute durch die Alben – die empfehlenswertesten Zusammenstellungen aus Archivbeständen findet ihr erneut bei den Compilations des Jahres – von gestern mehr lernen, als es einie handelsübliche humanistische Bildung vermittelt. Ob indigene Motive (Obomsawin, Luis Perez, Umeko Ando) oder wichtige missing links aus der Musikgeschichte (Giles, Giles & Fripp, Christoph de Babalon, Robert Görl) und vor allem kulturelle Eigenheiten aus anderen Ecken dieser Erde (nach zuletzt West- und Südafrika war das in diesem Jahr vor allem Südostasien, genauer Japan) lassen sich mitnehmen und, wer weiß, vielleicht sogar neue Schlüsse über eine globalisierte Welt zu. Bleibt nur wie jedes Jahr zu mahnen: Nehmt es bloß nicht für selbstverständlich hin.


Die Top 50 Reissues findest du auch [bei uns im Webshop](https://www.hhv.de/shop/de/jahresrueckblick-2018-top-50-reissues-editor-s-choice/i:D2S12SP11439.)

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Alanis Obomsawin
Bush Lady
Constellation • 1985 • ab 24.02€
In einem Jahr, in dem identitätspolitische Diskurse von rechter wie von linker Seite den Mainstream immer mehr für sich einnahmen, wurde die Neuauflage von »Bush Lady« zwangsläufig politisch aufgeladen. Gute Zeiten also für Alanis Obomsawin, die nicht nur mit ihrem Schaffen als Dokumentarfilmerin, sondern auch mit dem 1984 aufgenommenen Album explizit politische Vorurteile gegenüber indigenen Völkern Nordamerikas aufnahm und etwa im Titelstück satirisch überspitzt. Das aber ist nur eine der Facetten, welche dieses mehr als willkommene Reissue auf engem Raum bietet. KC

Alice Coltrane
Lord Of Lords
Superior Viaduct • 1972 • ab 26.99€
Neben Miles Davis hat kaum eine andere Figur im Jazz dermaßen viel experimentiert wie Alice Coltrane und anders als der Prince of Darkness hat sie sich dabei selten in die Nesseln gesetzt. »Lord of Lords«, ihr letztes Impulse!-Album von 1972, spiegelt den zunehmend spiritistischen Werdegang wider, dem mit den Folgealben »Universal Consciousness« und »World Galaxy« eine Trilogie gewidmet wurde. Mit Versatzstücken aus der klassischen Musik und tonnenweise Orgelklängen bringt Coltrane den Stoff, aus dem der Kosmos gestrickt ist, subtil zum Beben. KC

Basa Basa
Homowo
Vintage Voudou • 1983 • ab 18.99€
Als Basa Basa Soundz mischte diese ghanaische Band das Clubleben im Accra der unruhigen 70er Jahre auf, wobei die prominente Unterstützung von Black President Fela Kuti sicherlich ihr Quäntchen zum Erfolg beitrug. Für das finale dritte Album änderten sie 1979 ihren Namen in Basa Basa Experience, heuerten den südafrikanischen Synthesizer-Frickler Themba »T. Fire« Matebese an und wiesen damit den Weg in eine neue Epoche: Nichts dokumentiert den Übergang zwischen spätem Highlife und frühem Synthie-Disco-Sound so gut wie »Homowo«. SK

Bernard Parmegiani
OST Rock
Transversales Disques • 1982 • ab 23.99€
Vielleicht wird Musique concréte als Hörerlebnis erst wirklich konkret, wenn sie einen visuellen Auftrag hat, denke ich so bei mir, während ich die Neuauflage von Bernard Parmegianis Soundtrack zu dem 1982 erschienenen Film »Rock« höre. Tatsächlich war der zur Groupe de Recherches Musicales gehörende Parmegiani selten fokussierter. Die Stücke sind selten länger als 2 Minuten und erinnern mich an Michel Chion, der sich ja in seinen Kompositionen auch daran abarbeitete, Audio und Visio in Einklang zu bringen. SH

Beverly Glenn-Copeland
Beverly Glenn-Copeland
Super Sonic Jazz • 1970 • ab 21.99€
Neues Jahr, neue Reissues von Beverly Glenn-Copeland. Nach einer Neuauflage von »Keboard Fantasies« Ende 2016 beziehungsweise 2017 nimmt Super Sonic Jazz mit Copelands zweiter LP eine Schaffensphase in den Fokus, die den träumerischen Blues-Folk seines Debüts – offenkundig klammheimlich in Kanada durch MajikBus nachgepresst – in psychedelischen Tönen und ekstatisch ausufernden Kompositionen auflöst. Wären wir alle schon früher auf diese Platte gestoßen, wären uns die Freak Folk-Jahre erspart geblieben. KC

Brigitte Fontaine & Areski Belkacem
Vous Et Nous
Kythibong • 1977 • ab 29.99€
Das sechste gemeinsame Album von Brigitte Fontaine und Areski Belkacem. Total drüber das ganze Ding, da geht einfaches alles. Wenn mal jemand fragt, was das sein soll, kreative Freiheit, einfach dieses Album vorspielen. Lullaby-Folk, Spoken-Word, wahnwitziges Geschnatter, Trance, Afrika, das Mittelalter. In Zeiten von Trump und Co. ist es wichtig das mal wieder zu betonen: Es kann auch Großartiges entstehen, wenn man seinen Verstand ausschaltet. PK

Gleich zweimal hat es C.Memi 2018 in die Wiederverwurstungmaschinerie geschafft, absolut unverzichtbar hierbei insbesondere die erste EP der Japanerin aus dem Jahr 1983. Weightlesser Drummachine-Pop, gimmicky Chanson-Schunkelei, eine Transzendenzballade und ein Kinderlied für Frankenstein – wenn die Japaner es richtig machen, dann aber richtig. FA

Cecil McBee
Mutima
Everland Jazz • 1974 • ab 19.99€
Ein Mann im Schatten seines Instruments. So könnte man das Cover von [»Mutima«](https://www.hhv-mag.com/de/review/10208/cecil-mc-bee-mutima,) dem 1974 veröffentlichten Debütalbum von Cecil McBee verstehen. Zum Glück stimmt das nicht für die Palette an Stilen und Tonlagen, die der Bassist dann auf dieser Platte ausbreitet. Und das klingt stets klug auf den Punkt, nix Beliebigkeit. Bei allem pastosen Jazz mit spirituellen Neigungen, der gerade Konjunktur hat, ist dies eine Erinnerung daran, dass reduziert und konzentriert mindestens genauso aufregend sein kann. TCB

Christoph De Babalon
If You're Into It I'm Out Of It
Cross Fade Enter Tainment (CFET) • 1997 • ab 29.99€
Selbst im Dunstkreis von Digital Hardcore wirkt Christoph de Babalon rückblickend wie ein Sonderling und sein zweites Album »If You’re Into It, I’m Out Of It« nach wie vor nicht von dieser Welt. Während England noch träumte, dass es dystopischer als im Darkside Jungle nicht werden könnte, bewies er mit einem extremen Nebeneinander von unwohligen Ambient-Flächen und irrlichternden Breaks das Gegenteil. Wenn Musik töten könnte, wäre sie höchstens halb so bedrohlich wie dieses Monstrum. KC

Christy Essien
One Understanding
Afrodisia • 1979 • ab 26.99€
Christy Essien-Igbokwe forderte 1979 »One Understanding« von ihrem Publikum ein, war sich aber mit sich selbst hochgradig uneins. Von »Respect Your Man« über »You Can’t Change a Man« hin zu »I’ll Be Your Man« spannt sich reichlich kognitive Dissonanz auf, das aber ist nur logisch: Die First Lady of Song konnte sich schon schwerlich zwischen Disco, Funk und Soul entscheiden. Dass »One Understanding« jedoch alles mit größtmöglicher Eleganz zusammenführt und in ein versöhnliches »Goodybye« auflöst, rechtfertigt endgültig den Legendenstatus der LP. KC

Colman
Daedalus
Musique Plastique • 1986 • ab 21.99€
Musik zu Theateraufführungen aus den 1980er Jahren wieder auf Platte aufzulegen, gehörte 2018 zum (räusper) guten Ton. Tiefer in die Nische kann man ja kaum kriechen. So wurde uns Musik von Nuno Canavarro, Daniel Bacalov, Todd Barton, Walter Verdin und Roberto Musci wieder gewahr, Komponisten, die allesamt auch für die die Welt bedeutenden Bretter komponierten. So hat Séance Centre’s Sublabel Musique Plastique dem »Daedalus« von John Gilbert Colman auch neue Flügel verliehen. Ein 1986 von Regisseur Guy Cassier mit behinderten Kindern aus Antwerpen entwickeltes Stück über die griechischen Mythen, in denen neben der Bewegung und der Kdie Musik maßgeblich die Erzählung trug. Das Ergebnis ist eine echte Entdeckung. SH

DsorDNE
E Un Sole
Dark Entries • 1990 • ab 25.99€
Josh Cheeons Lebensmission wöchentlich den rarsten Scheiß für jedermann zugänglich zu machen, kulminierte 2018 unter anderem auch in einer Reissue des sensationellen EBM-Synthpops von DsorDNE. »È Un Sole« hat mit »Delitto E Passione« einen festivalkompatiblen hypersexuellen Hit, aber insbesondere auch die experimentelleren Momente hier sollten zumindest für Toresch-Fans von größtem Interesse sein. FA

Eblen Macari
Musica Para Planetarios
Seance Centre • 1987 • ab 28.99€
Und wenn man glaubte, nerdiger als die Vertonung belgischer Off-Theater-Stücke der 1980er Jahre kann die Veröffentlichungspolitik der Plattenlabels nicht werden (siehe Colman), wird mit »Musica Para Planetarios« von Eblen Macari eben, der Titel verrät es auch schon, 1987 entstandene Musik für das Luis-Enrique-Erro-Planetarium in Mexico City veröffentlicht. Unglaublich gute Musik, das sei noch ergänzt. SH

Über anderthalb Jahrzehnte ist es her, dass James Marcel Stinson seinen irdischen Körper hinter sich ließ und nach Lardossia aufbrach, die Trauer aber scheint intensiver denn je. Nachdem Warp und Clone im Verbund sein The Other People Place-Werk neu auflegten, überließ die britische Institution dem niederländischen Imperium nun das schmale aber bahnbrechende Schaffen der Elecktroids. Obwohl »Elektroworld« eventuell im Verbund mit Gerald Donald entstand, trägt diese Platte Stinsons Halbschrift. »Welcome to the future!«_ KC

Emilio Santiago
Emilio Santiago
Far Out • 1975 • ab 24.99€
Für »Bananeira« allein schon würde sich diese Platte lohnen. Sie bietet allerdings noch weitaus mehr – exzellenten Bossa-Soul, Spiritual Soul, Soul-Soul. Dazu Funk, wie sich das für die Música Popular Brasileira eben auch gehört. Und den samtig-hinreißenden Gesang von Emilio Santiago sowieso. Hatte ich erwähnt, dass sein Hit »Bananeira« darauf ist? TCB

Eric Demarsan
OST Le Cercle Rouge
We Release Jazz • 2018 • ab 23.99€
Wer nach den Bläsern gleich im ersten Song sich diesem Album nicht zu Füßen wirft, der ist anders als ich. Eigentlich wollte ich’s krasser sagen, habe mich dann aber doch für die einfachste wahre Wendung entschieden. »Le Cercle Rouge« ist ein französischer Gangster Film, der Soundtrack von Eric Demarsan ist Jazz, der in der Bar den obskuren Hinterausgang mitdenkt. PK

Fennesz
Endless Summer
Editions Mego • 2018 • ab 23.99€
Schlechtes Timing können sich Editions Mego nicht vorwerfen lassen: Mitten in den Dürresommer 2018 legten sie ein Reissue von Fennesz’ Überalbum »Endless Summer« aus dem ähnlich klimakriselnden Jahr 2001 vor. Die brutal knirschende Schönheit des Originals büßte auch über die Zugabe zweier Bonustracks nichts an Konsequenz ein, im Gegenteil: Greller als in diesem Jahr strahlten Fennesz’ Beach Boys-Abstraktionen und -Destruktionen nie. Eine Platte für immer, ein Album für jede Jahreszeit, eine Rotlichtlampe für die Hosentasche. KC

Garrett List
Your Own Self
Black Sweat • 1972 • ab 19.99€
Schreibt man ja eigentlich einfach nicht, weil so lange so abgeschmackt war und alles bedeuten kann: das Wort Schönheit. Inzwischen ist sie im Sprachgebrauch aber deutlich unterrepräsentiert. Und bezüglich Garrett Lists »Your Own Self« passend, so passend. Vor allem der erste von zwei Tracks auf diesem Lang(!)spieler ist die PURE SCHÖNHEIT. Die seelenlose Bezeichnung für Spoken Word auf einem Frauenchor auf leichtem Doppelbass auf perfekt temperierten Trompeten und Holzschlägern mit steifen Nippeln lautet Avantgarde-Minimalismus. Tatsächlich ist das einfach Höheres Bewusstsein in Töne gegossen, hierzu werden Wale an der Gletscherpforte des Universums geboren. PK

Giles, Giles & Fripp
The Brondesbury Road Tapes
Tiger Bay • 2018 • ab 18.99€
King Crimson spielen ja immer noch. Oder wieder. Und sind immer noch gut. Giles, Giles & Fripp, die Vorgängerband, waren auch gut. Was man nicht so ganz merkt, wenn man bloß ihr eher lahmes Studioalbum hört. Sehr gut daher, dass diese sehr viel besseren Demotapes, die »The Brondesbury Road Tapes«, des Trios – ein paar Jahrzehnte verspätet – endlich an die Öffentlichkeit gelangt sind. Und klarstellen, dass damals schon sehr viel latenter King Crimson in Giles, Giles & Fripp darauf wartete, losgelassen zu werden und exzentrisch zu rocken. TCB

[»Was Meister zu Meistern macht, ist dass bei ihnen absolute Kontrolle und Chaos miteinander regieren«_](https://www.hhv-mag.com/de/feature/10242/records-revisited-j-dilla-the-shining-2006,) schreibt Kollege Kunze über, eh klar, J Dilla im Booklet der diesjährigen Neuauflage von »The Shining«. Posthume Veröffentlichungen haben gemeinhin einen schweren Stand, hier aber müssen sich nach wie vor die Überlebenden dem Werk eines Meisters unter Meistern geschlagen geben. Auf Beats wie diesen werden noch selbst Leute wie Common und d’Angelo auf die Rückbank verbannt. Hört hin, lernt, geht verändert daraus hervor. KC

Jean C. Roche
Birds Of Venezuela
Sub Rosa • 1973 • ab 17.99€
Vögel. Viele Vögel. Fremde Vögel. Vögel, die gar nicht klingen wie Vögel. Sondern wie Elektrowesen aus einer anderen Welt oder verfremdete Stimmen. Was der französische Ornithologe Jean-Claude Roché 1973 aus Venezuela mitgebracht hat, birgt sowas wie magische Kräfte. Sicher, das sind zunächst mal Naturaufnahmen mit reichlich Gezwitscher, aber in diesen Aufnahmen steckt so viel seltsam schöne Musik, dass sie fast süchtig macht. »Birds Of Venezuela« ist für mich die Reissue des Jahres, no doubt. TCB

Jesse Sharps Quintet & P.A.P.A.
Sharps And Flats
Outernational Sounds • 2018 • ab 32.99€
2018 war auch ein unglaublich gutes Jahr für den Jazz. Gerade auch was Wiederentdeckungen betrifft. Neben verschollenen Sessions von John Coltrane, und vergessenen Live-Mitschnitten von Charles Mingus, war da noch der ermutigend groovende Spiritual Jazz von »Sharps & Flats«. Darauf sechs 1985 aufgenommene Stücke vom Jesse Sharp Quintet und eine 1979 entstandene 16minütige Suite vom Pan-Afrikan People’s Arkestra (P.A.P.A.) des Bandleaders Horace Tapscott. Jesse Sharp ist übrigens einer der wichtigsten Figuren des Jazzszene von Los Angeles, der Musiker wie Phil Ranelin, Dwight Trible und Kamasi Washington in seinen Orchestern einband. SH

Jóhann Jóhannsson
Englabörn & Variations
Deutsche Grammophon • 2018 • ab 35.99€
Am Ende stand der Anfang. Jóhann Jóhannsson starb kurz bevor ihn Hollywood endgültig rauskanten konnte, genauso aber wenige Wochen vor der Neuauflage seines Erstlings »Englabörn«. Von all den wichtigen Platten des Isländers ist es das vielleicht rundeste und hellsichtigste – nicht nur in Hinsicht auf den folgenden Neo-Klassik-Boom, sondern ebenso in Anbetracht seiner folgenden Karriere. »Englabörn« ist das Album, in dem schon alles angekündigt und meisterhaft ausformuliert wurde, bevor sich irgendwer für Jóhannssons Schaffen interessierte. KC

John Beltran
Ten Days Of Blue
Peacefrog • 1996 • ab 24.99€
John Beltran war immer eine Art producer’s producer, der die halbe Techno-Welt zu seinen Fans zählen kann – aber eben nur die halbe. 50% vom Kuchen reichen eben aber auch, wenn sie süßer und saftiger als der Rest schmecken. Schon bevor 2018 ein Reissue-intensives Jahr für Beltran wurde (Placid Angles auf Flash Forward, Indio auf Delsin), kündigte Peacefrog mit »Ten Days of Blue« eine Neuauflage der besten Detroit-not-Detroit-Techno-Platte der Welt an. Er wusste zwar nichts davon, zuletzt aber schien eine Einigung erreicht. KC

John Coltrane
Both Directions At Once: The Lost Album
Impulse • 2018 • ab 28.99€
Sehr, sehr frischer Jazz. Auch wenn er schon 55 Jahre alt ist. 1963 entstand diese lange verschollene Session, deren Tonbänder auf Umwegen zumindest als Mono-Kopien wiederentdeckt wurden. Die Stücke weisen ein bisschen zurück und ein bisschen voraus, klingen so spontan wie aufgeräumt. Darunter gleich zwei »Untitled Originals«, für die es nicht einmal richtige Namen gibt. Egal, Coltrane und sein Quartett sind stets in Bestform zu erkennen. Kamasi Washington sieht daneben etwas alt aus. TCB

K.Leimer
Music For Land And Water
Les Giants • 2018 • ab 22.99€
New Ageism werden also ausgerechnet dann ausgepackt, wenn die Zukunft sich schon lange aus dem Staub gemacht haben. Das sind schon mal heitere Aussichten, gelegentlich kommt es darüber allerdings zu überfälligen Einsichten. K. Leimer erlebte mit seinen sanften Eso-Klängen auch dank RVNG Intl. ein Comeback, mit »Music for Land and Water« legte Les Giants noch vor Jahresabschluss ein Anfang der achtziger Jahre veröffentlichtes Album nach, das im Dauerfeuer der Eindrücke eine große Flasche Balsam rüberreicht. KC

Lena Platonos
Lepidoptera
Dark Entries • 1986 • ab 19.99€
Von der Krise Griechenlands ist derzeit ja nicht mehr so die Rede. Dafür hat die Grande dame der griechischen elektronischen Musik Lena Platonos mit ihren Alben aus den 1980er Jahren seit einiger Zeit wieder einen formidablen Auftritt. Vor allem bei Leuten, die sie vorher noch gar nicht kannten. Die bisher schönste Neuauflage, die Dark Entries dankenswerterweise übernommen haben, kam in diesem Jahr mit »Lepidoptera« in die Läden. New Wave und Chanson, und das alles auf Griechisch. TCB

Luis Perez
Ipan In Xiktli Metztli / Mexico Magico Cosmico / El Ombligo de la Luna
Mr Bongo • 2017 • ab 23.99€
Nicht selten werden neue Formen aus der intensiven Zerlegung vergangener Stile gewonnen und was für die Clubszene des Jahres 2018 gilt, das war 1981 umso wahrer. Luis Perez machte es seinem Publikum mit » Ipan In Xiktli Metzli, México Mágico Cósmico, En El Ombligo De La Luna« nicht allein per Titel schwer ihm hinterherzukommen, irgendwann aber schloss es dann doch zu dem Mexikaner auf. Perez synthetisiere über vier Stücke zeitgenössische mit traditionellen Formen zu einem zeitlosen Ganzen. KC

Mkwaju Ensemble (Midori Takada)
Mkwaju
WRWTFWW • 1981 • ab 22.99€
Der grassierende Hype um Midori Takada spült zugegebenermaßen nicht ausschließlich Gold an die Oberfläche, immerhin dieser heilige Gral der Japan-Digging-Crowd und darüber hinaus war dann doch so willkommen wie ein sommerlicher Platzregen: Das kurzlebige Mkwaju Ensemble wurde von niemand anderen als Joe Hisaishi produziert und brachte 1981 die Aufbruchstimmung der Minimal- und Jazz-Szene Japans auf einen phasenhaft verschobenen Punkt, der neuen Horizonten entgegen sprang. Eine in jeglicher Hinsicht unerreichte LP. KC

Nexda
Words & Numbers
Mannequin • 2018 • ab 19.99€
Nexda klingen auf »Words And Numbers«, als hätten Joy Division mit Augustus Pablo rumgehangen, als wäre, wasweißich, Sheffield ein Stadtteil von Kingston. Was Nexdas Post-Punk so sexy macht, ist nicht nur der Dub, der den Song-Skeletten wabbliges Fleisch auf die Knochen legt. Es ist vor allem die Dominanz der Percussions! Darüber halb-gesprochene Vocals, die sich für nichts interessieren, obwohl sie alles fühlen. Saxophon. Nur gut. PK

Oren Ambarchi
Grapes From The Estate
Black Truffle • 2004 • ab 32.99€
Jahresrückblicke ohne Schallplatten unter Beteiligung von Oren Ambarchi kann ich nicht ernst nehmen. Und weil der Australier inzwischen so lange dabei ist, und seine Schallplatten, wie das formidable »Grapes From The Escape« von 2004 inzwischen wiederaufgelegt werden, ist er inzwischen mindesten zwei Mal vertreten. Schmollt doch, ihr Ungläubigen! SH

Park Jiha
Communion
Glitterbeat • 2018 • ab 19.99€
Hackbrett, Mundorgel und Blockflöte – an sich eine denkwürdig unglücklich Kombination. Bei Park Jiha allerdings heißen die Instrumente yanggeum, saenghwang und p’iri und klingen etwas anders als ihre europäischen Verwandten. Vor allem sind da Parks kompositorische Fähigkeiten, die das Durch- zum Miteinander verflechten, in eine Richtung treiben und damit eine Neuinterpretation koreanischer Musikformen vorantreibt. Nach einem inoffiziellen Release vor zwei Jahren machte Glitterbeat ihr wundersames Debüt »Communion« einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. KC

Patricia Escudero
Satie Sonneries
Equilibrio • 1986 • ab 22.99€
Patricia Escuderos kühle Satie-Interpretationen haben es unter anderem auch deswegen in die Selector-Bubble geschafft, weil »Satie Sonneries« ursprünglich auf Grabaciones Accidentales herauskam, sicher aber auch weil »Gymnopedie III« eigentlich schon lange die französische Nationalhymne sein sollte und Escudero 1987 die brillant naheliegende Idee hatte, statt Pianos Synths zu benutzen. Instant Wärmflasche, 2018 auch wieder außerhalb der UpForTrades-Mafia erschwinglich. FA

Peter Brötzmann Octet
Machine Gun
Cien Fuegos • 1968 • ab 29.99€
Coleman, Taylor und Coltrane hatten den Weg geebnet, das Peter Brötzmann Octet ging ihn bis zum Ende und bog dann links ab. Ihr 1968 aufgenommenes Album »Machine Gun« ist selbst für Free Jazz-Verhältnisse extrem: extrem brutal, extrem kreischig, extrem strukturlos, extrem witzig. Hintergründiger Humor war nämlich selbst noch vor dem Hintergrund des (angeblich so) revolutionären Jahres 1968 möglich. Vor allem aber waren die drei Tracks extrem widerwillig. Hier bedeutete der Sound der Nachkriegsgeneration eine Kampfansage an ihre Eltern. KC

Lustige Entdeckungen: »Frame Loop« enthält Aufnahmen, die Peter Zummo gemeinsam mit Arthur Russel 1984 jeweils in einem Take aufgenommen haben. Offengestanden, sieht man von dem nicht einmal einminütigen Zwischenspiel »Song I: Extract« ab, ist eigentlich nur ein Stück, »Song II« darauf zu finden, in verschiedenen Varianten und Launen vorgetragen. Das klingt dann so zwischen avanciertem Jazz und kindlich-naivem Mit-Posaune-und-Bratsche-um-den-Weihnachtsbaum-laufen. Passt dann auch zu jetzigen Jahreszeit. SH

Robert Görl of DAF
The Paris Tapes
Grönland • 2018 • ab 17.99€
In die diesjährige Liste für den Record Store Day musste man schon wieder sehr genau schauen oder Bowie-Ultra sein, um etwas zu finden, auf das man sich so richtig freuen konnte. »The Paris Tapes« von Robert Görl war eines der wenigen Highlights abseits der absurden auf 5.000 Stück (sic) limitierten Releases auf farbigem Vinyl von irgendwelchen All Time Greats. Eingespielt Mitter der 1980er Jahre, legen diese rein instrumentalen Aufnahmen Zeugnis einer schweren Zeit für das Yin von D.A.F ab. Melancholische Synths vor allem; wenn hier Extase stattfindet, dann beinhaltet sie immer direkt die Angst vor dem Abklingen ebendieser. PK

Roger Doyle
Oizzo No
Cacophonic • 1975 • ab 17.99€
Selten hat eine Schallplatte so gut zu einem Label gepasst wie »Oizzo No« von Roger Doyle zu Cacophonic. Nach dem Hören könnte dem einen oder anderen Katzenjammer wie die schönste Musik erscheinen. Höre: »Ceol Sidhe«! Dennoch ist solche Musik heutzutage, wo FCK AFD-Aufkleber aus Fernsehfilmen retuschiert werden, ein wichtiges Statement: nämlich für die Kunstfreiheit. Denn der Krach hat System, der Schmerz ist gewollt, die Aufmerksamkeit ist gefordert. Da setzt sich einer neben alle Stühle: Jazz? Pfff. Musique concréte? Hmmpf. Klassik? Oink. Das Leben ist keine Dampferfahrt im Hotelfahrstuhl. Weißt du ja selber… SH

Spontaneous Overthrow
All About Money Remastered
Numero Group • 1984 • ab 27.99€
»All About Money« heißt dieses vergessene, und in diesem Jahr von Numero Group veröffentlichte, 1984 entstandene Kleinod von Spontaneous Overthrow. Und der Titel ist nur ironisch zu verstehen, denn auch nach aufwendiger Restaurierung bleibt dieser Outsider Soul nur etwas für – genau! – Outsider. Und für Leute, die den Groove auch fühlen, während die die melodischen Töne höchstens im Ansatz getroffen werden. SH

Stano
Content To Write In I Dine Weathercraft
Allchival • 1983 • ab 30.99€
Stano. »Content To Write In I Dine Weathercraft«. Irischer Postpunk. Spoken Word Poetry. Michael O’ Shea. Drum Machines. Eigentlich wäre hier noch Platz für 200 Zeichen mehr, aber wofür? FA

Steve Elliott
Completion Of A Miracle
Rain&Shine • 1982 • ab 20.99€
Steve Elliott ist hier allein schon deswegen vertreten, weil ihr jetzt auf Instagram endlich auch gelangweilt über euer Rührei in die Ferne blicken könnt und casual »Completion Of A Miracle« neben eurem Rane MP2016 im Bildhintergrund drapieren könnt. Wem Likes eher egal sind: das ist in erster Linie vogelfreier DIY-Boogie, der Pop und insbesondere Prince gerafft hat und selbst im käsigsten Moment noch rotzig bleibt. FA

Ströer Duo
Fluchtweg Madagaskar
Dark Entries • 1982 • ab 19.99€
Deutschlands musikhistorische Keller scheinen nach wie vor eine wenig erforschte Flora musikalischer Kuriositäten zu beherbergen. Bestenfalls versprengten Connaisseuren mit speziellem Hang zu Krautrock und deutschem Fusion bekannt, ist »Fluchtweg Madagaskar« vom Ströer Duo ein Beispiel dafür, wie sehr sich noch immer die Feldforschung in unwegsamen hiesigen Plattenarchiven lohnen kann. Experimentelles mit Frank-Zappa-Geschmäckle wird da gefördert, aber auch viel exotisch-elektronische Verklärung durch den Zuckerfabrik-Studiofilter gedrückt. Unten träufelt dann das thematische Kondensat aus bürgerlicher Romantik und humorvollem Eskapismus heraus – bedingungslos stimulierend, vielleicht aber nicht immer leicht verdaulich. NS

Suba
Wayang
Offen Music • 2018 • ab 22.99€
Es klingt zu schräg, um wahr zu sein, doch wird Vladimir Ivkovic sicherlich mit der Veröffentlichung von Subas »Wayang« keinen Jelinek abgezogen haben: Hier handelt es sich zweifellos um waschechte Aufnahmen von Mitar Subotic, besser bekannt unter seinem Rex Illusivi-Pseudonym, die dieser Mitte der Neunziger im brasilianischen Quasi-Exil aufgenommen hat. Dabei zog er sich die ganze Welt auf die Festplatte, rührte sie einmal gut um und spuckte sie als beinah pathologisch eklektische World-Music-Mischung wieder aus. Ein irrwitziger Trip, heute wohl mehr denn damals. KC

1983, Mainz, Proberaumdaddelei, vermutlich davor nach Düsseldorf zum Pyrolator-Konzert gefahren und einfach mal aufgenommen. Wer Sueño Sueño wirklich waren, weiß niemand so genau, da sie aber mit ihrem nun über Mind Records wiederveröffentlichten Tape »Add Mosphere« exakt klingen wie der zweite Teil von JD Twitchs »Kreaturen Der Nacht«-Sampler, dürfte die verspätete Kanonisierung nur eine Frage der Zeit sein. FA

Sympathy Nervous
Sympathy Nervous Colored Vinyl Edition
Minimal Wave • 1980 • ab 36.99€
Das erste Album von Sympathy Nervous war bisher vor allem eins: teuer. Dank Minimal Wave kann man sich Yoshifumi Niinumas Gadget-Porn nun aber endlich ohne Schnappatmung nähern und nüchtern feststellen, dass sich hier 1980 schon Kraftwerk und Derrick May heimlich getroffen haben, Industrial noch atmen und Avantgarde auch mal in Proto-Rapbeats enden durfte. FA

Takehisa Kosugi
Catch-Wave
Superior Viaduct • 1975 • ab 25.19€
Die Nachbereitung des Erbes der Taj-Mahal Travellers läuft auf Hochtouren und macht vor dem Solo-Schaffen Takehisa Kosugis keinen Halt. Umso besser. Mit »Catch-Wave« machte Superior Viaduct dem Discogs-Schwarzmarkt kurz vor Jahres Ende einen fetten Strich durch die Rechnung und tat der Welt einen großen Gefallen. Abstruse, verkiffte Vokal-Manipulationen und elektronische Drones führen gleichsam indische Traditionen wie die damals noch recht junge Neue Musik von Karlheinz Stockhausen oder Toru Takemitsu weiter. KC

Too $hort
Shorty The Pimp
Get On Down • 1992 • ab 25.99€
»Shorty The Pimp« ist im wahrsten Sinne des Wortes geil. Die Beatgerüste sind roh und nackt, die Samples sind anzügliche Dessous, der G-Funk ist mit P-Funk gespeist und der wiederum hat sein P zwischen »Psychedelic« und »Plainfield« im Porno geparkt, in einem repräsentativ übertriebenen Pimpmobil. Der Rap von Too Short ist tiefergelegt, trägt seine Verlobungsringe selber und käme nie auf die Idee, eine Hoe zu einer House Wife zu machen. Stattdessen lässt er ihr – ihnen – die kalifornische Sonne aus dem Arsch scheinen, ganz für sich allein. CN

Umeko Ando
Ihunke
Pingipung • 2018 • ab 20.99€
Von Umeko Ando hatte ich vorher, offen gesagt, gar nichts mitbekommen. Umso toller die Überraschung, was die 2004 gestorbene Ainu-Sängerin aus dem Norden Japans auf diesem Album anstellt. Folk, Minimal Music, Field Recordings, alles so vertraut wie fremd zugleich. Gefasst, traurig und rätselhaft ist das. Und mehr als Stimme und eine fünfsaitige Harfe braucht es dafür auch nicht. Keine Ahnung, wovon auf »Ihunke« im Einzelnen erzählt wird. Aber ich glaube ihr jedes Wort. TCB

Ursula K. Le Guin & Todd Barton
Music And Poetry Of The Kesh
Freedom To Spend • 2018 • ab 21.99€
Die feministischen Science-Fiction-Romane von Ursula K. Le Guin müsste man auch endlich mal lesen. Zu hören gibt es seit diesem Jahr jedenfalls wieder ihr mit dem Komponisten und Sounddesigner Todd Barton entstandenes Album »Music And Poetry Of The Kesh« von 1985. Die Kesh gab es zwar nicht, reale Vorbilder für diese nordkalifornische Zivilisation hatte Le Guin aber schon. Virtuelle Ethnomusik mit Drones und sonderbaren Texten. Eine sehr fein hippieske Sache.TCB

Vashti Bunyan
Just Another Diamond Day
Branch Music • 1970 • ab 20.99€
Nach der Erstveröffentlichung ihres Debütalbums »Just Another Diamond Day« sollte es fast drei Jahrzehnte dauern, bis das Interesse an Vashti Bunyan wieder aufflammte. Vielleicht kein Zufall, dass um die Jahrtausendwende Reissue um Reissue nachgelegt wurde, denn Bunyan gehört mit ihren klassischen und doch eigenwilligen Folk-Kompositionen zu den Stifterfiguren der damals aufkommenden Weird America-Szene – obwohl oder gerade weil sie Britin war. Das funktioniert auch 2018 mit der ersten Neuauflage seit 14 Jahren. KC

Virna Lindt
Shiver
Les Disques Du Crepuscule • 1983 • ab 29.99€
Keiner kann Pop so professionell wie die Schweden. Und da das nicht bloß für Abba, Dr. Alban und Robyn gilt, sondern etwa auch für die gelernte Übersetzerin [Virna Lindt](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/5677/virna-lindt,) ist ihr Debütalbum »Shiver« von 1984 – danach gab es leider bloß noch eine weitere LP von ihr – mehr als überfällig. Synthiepop und Agentenfilmsoundtrackpastiches, die von heute aus betrachtet wie ein Vorgriff auf die Neunziger klingen. Souveräne schwedisch-britische Zusammenarbeit. Ob es sowas nach dem Brexit noch geben wird? TCB


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