Records Revisited: Elecktroids – Elektroworld (1995)

14.12.2018
Wer sind sie und wenn ja wie viele? Diese Frage haben sich seit der Erstveröffentlichung von »Elektroworld«, dem 1995 erschienenem, einzigen Album der Elecktroids, so einige gefragt. Die Hinweise auf einen Urheber haben sich verdichtet.

Was tun, wenn die lang ersehnte Zukunft plötzlich angekommen ist? Wenn alle nervösen Wünsche in Erfüllung gegangen sind, alle Vorfreude sich endlich in bloßen Genuss der Gegenwart auflöst und verpufft? Die eine Möglichkeit ist, anderen die Tür aufzuhalten und ihnen ein lautes »Welcome to the future!« zuzurufen. Kommt rein, macht mit, es wird schon – und zwar geil. Zumindest solange, bis die Ernüchterung eintritt. Was tun, wenn schon alles getan wurde? Worauf noch freuen, wenn alles bereits eingetreten ist? Auf die anfängliche Ekstase folgt das Dilemma. Das erste und wohl genau aus diesem Grund einzige Album des anonymen Projekts Elecktroids begrüßte 1995 einen knappen Monat nach der Debüt-EP »Kilohertz« aus der zur Gegenwart geronnenen Zukunft sein Publikum auf Warp und wusste nach dem Ende der elf Tracks auch nicht weiter. Damit fängt es rückblickend betrachtet perfekt die Hybris der 1990er Jahre ein.

»Elektroworld« hieß dieses Album natürlich und selbstverständlich war es als Update einer anderen Platte gedacht, die einst die Zukunft angekündigt hatte. Zwischen Kraftwerks »Computerwelt« aus dem Jahr 1981 und der musikalischen Antwort der Elecktroids lagen 14 bewegte Jahre. Das ab 1968 in Entwicklung befindliche ARPANET, der Vorläufer dessen, was heute als Internet bekannt ist, ging im Februar 1990 vom Netz, weil sich nunmehr die gesamte Welt mit minimalen Mitteln einklinken wollte und konnte. Währenddessen fiel der Eiserne Vorhang. 1989 erdreistete sich Francis Fukuyama, das »Ende der Geschichte« überhaupt auszurufen: Die liberale Demokratie hätte sich als sozio-ökonomische Gesellschaftsform durchgesetzt, ab hier an sei keine Entwicklung mehr zu erwarten und jegliche Kunst würde ihre Funktion verlieren. Welcome to the last future ever.

Der Kunst und genauer der Musik allerdings war es bis dahin zumindest bedingt durch den technologischen Fortschritt extrem gut gegangen:

Auf »Elektroworld« steht alles ständig unter Strom und wiegt doch gewaltig auf und ab wie ein unergründlicher Ozean.

Drummachines und Synthesizer waren endlich auch für Normalsterbliche erschwinglich geworden, die Macht über die Produktionsmittel schien sich neu zu verteilen und der Beat wollte einfach nicht aufhören. Juan Atkins veröffentlichte zuerst 1984 mit Rick Davis die Single »Techno City« und ein Jahr später als Cybotron »No UFO’s« und legte damit den Grundstein für Techno, der spätestens 1988 mit der Compilation »Techno: The New Dance Sound of Detroit« nach Europa herüber schwappte. Die Schöne Neue »Elektroworld« kam einer Utopie gleich, dem Phantasma einer durch und durch vernetzten, egalitären Welt. Electro und Techno trommelten mit steten Schlägen den Rhythmus dazu vor.

Wer genau sich hinter dem Pseudonym Elecktroids verbarg, das wurde erst lange später offenbar. Nach viel Mauschelei um eine Detroiter Supergroup schmuggelte Warp 2008 einen Hinweis auf James Stinson in seinen Online-Store. Der im Herbst 2002 verstorbene Produzent ist vor allem als Mitglied des Duos Drexciyas an der Seite von Gerald Donald oder für sein Solo-Schaffen als The Other People Place bekannt. Wo »Lifestyles of the Laptop Café« sechs Jahre nach der Veröffentlichung von »Elektroworld« der Euphorie mit unterschwelligem Unwohlsein und den schönsten Basslines diesseits der Jahrtausendwende begegnete, war James Stinsons Schaffen als Elecktroids noch die perfekte Antwort auf die Impulsgeber des Electro-Genres, Kraftwerk. Deren Aufbruchsstimmung wich im Laufe der elf Tracks dem hysterischen Gefühl des Angekommenseins. Mit nahezu mythischer Verklärung schmeißt dieses Albums mit den Buzzwords des neuen Zeitalters um sich: »Japanese Elecktronics«, »Silicon Valley« und »Time Tunnel« heißen drei der Tracks, bisweilen werden die Titel mantrahaft wiederholt. Das Neue als Religion der Repetition.

Obwohl es durchaus nicht unwahrscheinlich ist, dass Stinson für das Album Unterstützung von Donald und eventuell noch zwei weiteren Produzenten – Alex Lugo und Dennis Richardson von Ultradyne waren immer wieder im Gespräch – erhielt, trägt es neben allen Kraftwerk-Verweisen unverkennbar seine Handschrift. Vom Opener »Future Tone« über »Silicon Valley« und »Midnight Drive« mit seinem blubbernden Scat-Gesang kündigt sich schon der Sound von The Other People Place an, während »Perpetual Motion« von denselben Schaumkronen-Synthesizer geprägt ist wie der eine oder andere Drexciya-Track und »Check Mate« oder »Stone Gun« sacht zwischen Stinsons B-Boy-Vergangenheit oder aber Donalds späteren Produktionen als Dopplereffekt zu vermitteln scheinen. Vor allem die Verbindung zwischen den Elecktroids und den 1995 schon längst international etablierten Drexciya ist schnell hergestellt: Kaum etwas leitet Elektrizität besser als Wasser. Auf »Elektroworld« steht alles ständig unter Strom und wiegt doch gewaltig auf und ab wie ein unergründlicher Ozean.

All das macht aus »Elektroworld« eine unbedingt zeitlose Platte. Doch ist sie auf der anderen Seite der Medaille ebenso Ausdruck eines Zeitgeistes, der heute überholt, wenn nicht gar fatal scheint. Aus Flint im US-Bundesstaat Michigan kämen die auf dem ikonischen Cover abgebildeten »vier jungen Söhne eines Elektrikers«_, die angeblich für dieses Album verantwortlich seien, hieß es beispielsweise in einem Begleittext zur Erstausgabe des Albums, welcher auch der Neuauflage im Jahr 2018 beigestellt wurde. Von Flint ist es eine Autostunde bis zur Motor City Detroit und in seinem Day-Job als Trucker wird James Stinson die Strecke vermutlich mehr als einmal gefahren sein. Vor allem aber ist Flint eine Stadt, die international dafür bekannt ist, dass dort über Jahre hinweg nur verbleites Wasser durch die Rohre lief. Schöne neue Elektrowelt: Was hilft dir ein Internetanschluss, wenn du mit deinem Kaffee unwissentlich Tag für Tag die krebserregenden Reste der Autoindustrie aufbrühst? Willkommen in der Zeit nach dem Ankunft der Zukunft, der denkbar beschissensten überhaupt. Vielleicht umso besser, dass James Stinson sie nicht erleben musste.