Zwölf Zehner – Februar 2015

02.03.2015
Willkommen im März. Doch vorher lassen unsere Kolumnisten vom Dienst den Monat Februar musikalisch Revue passieren und destillieren in ihrer Kolumne Zwölf Zehner die wichtigsten zehn Tracks des Monats.
So, Freunde, das Kölsche Tagteam Okraj & Aigner nimmt sich diesen Monat auf Platz 1 Zeit für Folklore. Big Ballermike ist eine zwei Meter große und mindestens zwei Meter breite Actionfigur, die die besten Eigenschaften von Mr. Perfect, dem Langen Tünn und Daryl Hall vereint. Mit Gianni LaBamba als Produzenten hat der große Mike seit geraumer Zeit einen mehr als fähigen Produzenten an seiner Seite, der Mikes Utopie eines riminizierten Köln ins Jahr 2015 zu tragen, fachmännisch (und optisch) unterstützt. Wem das alles befremdlich vorkommt, sollte sich als Referenzsystem vertraut machen, ansonsten fällt mir hier als einziger Vergleichspunkt vielleicht noch Sommer in Wien für Menschen mit Monstertruck- und Mask-Sozialisation ein. Aber zurück zu »Der Letzte Gast Im Nachtlokal« und dem Kölschen Shakespeare: pflichtbewusst gilt es in Wildlederjacke und 2er Jordans auf den Ringen nach dem rechten zu sehen, nur um ernüchtert festzustellen, dass dort die Schleimi-Fraktion obsiegt hat. Weiter also mit dem Taxi Richtung King Georg, vermutlich in der Hoffnung, dass dort endlich jemand Tarzan Loves The Summer Nights spielt. Fehlt eigentlich nur noch ein Spoken Word Beitrag von Karate Jäcky und Restdeutschland hätte endlich verstanden warum es die Kölner mit ihrem Jeföhl so wichtig nehmen.

Big Ballermikes’ »Der letzte Gast im Nachtlokal« auf Youtube anhören

Ach Audrey, ich bin dir dankbar, dass du in einem einzigen Song deine Menschwerdung innerhalb des Dreiecks Mutter/Vater/Stadt aufklärst, das hat mir viel kleinteilige TMZ-Recherche erspart. Schuldgefühle gegenüber deiner Mutter sind ganz normal, wir alle, die auch mal wieder anrufen sollten, fühlen dich. Dass Mama Drake aber über Neuigkeiten ihres Sohnes exklusiv über Google Alerts erfährt, das sollte dir zu denken geben. Anyway, denn schließlich meldest du dich ja doch und bedankst dich bei all deinen Fehlern rührselig bei deiner Mom für die genossene richtige Erziehung um im nächsten Moment darauf hinzuweisen, dass diese sich ebenfalls mal wieder bei deinem Pimp-Vater melden soll, der – gelinde gesagt – nicht immer für dich da war. (Aber ein Ladies Man isser!) Da werde mal einer schlau aus deinen Gedankengängen, aber diese innere Dialektik bei gleichzeitig öffentlich gelebtem Seelenstriptease ist schließlich das, was wir an dir so schätzen. Vielleicht solltest du dennoch einen letzten Rat deiner Mutter beherzigen und dich mit ihrer Fitnesslehrerin treffen. Die ist wahrscheinlich nicht nur ein Engel, sondern liefert wohl Potential für weitere Songs dieser Güteklasse.

Drakes »You & The Six« auf Spotify anhören

Seine Instrumentale funktionieren regelmäßig auch schon isoliert von der Rapeinlage, aber wenn Just Blaze sich schon dazu entschließt, einen Beat auf Soundcloud hochzuladen, der explizit als Einladung zum Drüberrappen gemeint ist, sollte man schon genauer hinhören. »Moleskin Conclusion« hält nämlich seine ganze Schaffensbreite parat: Die wechselnden Drumkits, begleitende Rockriffs und ein butterweiches, ein majestätisches Soulsample. Überhaupt, dieses Soulsample! Mögen sich über Havoc (für Styles P) hin zu diversen Gestalten hierzulande an diesem Persuadersgerüst schon versucht haben, Just Blaze destilliert hier auf »Moleskin Conclusion« eine instrumentale Souloper für die Metaebene, oder eben für Jay Electronica, wenn der endlich mal aus dem Quark kommt.

Just Blazes’ » Moleskin Conclusion« auf Soundcloud anhören

Levon Vincent
Levon Vincent
Novel Sound • 2015 • ab 40.84€
Levon Vincent genießt Narrenfreiheit. Nun ist die repetitive Magie im House- und Techno-Kontext eines der durchgenudeltsten Diskussionsthemen überhaupt, aber Fakt ist: nicht viele Produzenten schaffen es den magischen Loop zu finden und sieben Minuten mit minimalsten Glockenspiel-Variationen und schüchterner Percussion nicht nur zu überleben, sondern diesen ebenfalls dutzendfach zitierten Higher State Of Consciousness zu erreichen, mit dem es sich dann nach acht Minuten trefflich in eine ganz andere Sphäre verabschieden lässt. Levon schickt Tangerine Dream nämlich dann noch auf Schore Richtung Styx und führt die Fäden nach gut elf Minuten doch wieder zusammen. Stark, ganz stark.

Levon Vincents’ »Launch Ramp to tha sky« auf Youtube anhören

Deadboy und der R&B: je demonstrativer diese Affäre sich an die Öffentlichkeit wagt, desto besser für uns. »It Did Not Feel Right« verwandelt Tamias Slow-Jam Tell Me Who in eine beatlose Chipmunk-Soul-Ballade, aus der eine weit tiefere Verzweiflung spricht als aus dem Malen-Nach-Zahlen-Herzschmerz des Originals. Oder wie man das im Internetsprech formuliert: so many feels.

Deadboys »It Did Not Feel Right« auf Spotify anhören

Seven Davis Jr.
Wild Hearts
Ninja Tune • 2015 • ab 6.15€
Bei manchen Künstlern weiß man direkt: das wird ein Selbstläufer. Um Seven Davis Jr. musste man sich bereits zu Beginn seiner Karriere keinerlei Sorgen machen, dass er in fünf Jahren noch 12inches in 200er-Auflage pressen lassen muss, um am Wochenende für ein Achtstundenset 150 Euro und Cola-Gutscheine zu bekommen. Wer so sicher House, die Anzüglichkeit von Boogie und die Verruchtheit eines Prince abruft, ist für Höheres bestimmt. »Let Somebody Love You« ist nur ein weiteres Ausrufezeichen auf dem Weg zum Album, welches via Ninja Tune dieses Jahr erscheinen und die Welt ein kleines bißchen besser machen wird.

Seven Davis Jr.’s »Let somebody love you« auf Soundcloud anhören

Vielleicht habe ich BJ The Chicago Kids Erdbeergelüste nächsten Monat wieder vergessen, diesen Monat klingt der zum im letzten Jahr erschienenen Mixtape nachgeschobene Videoclip zu »Strawberry Bubblegum« wie eine Offenbarung gegen den über alle Kanäle zelebrierten D’Angelo Hype. Wahrscheinlich gehöre ich aber auch nur zu den wenigen, die diesem sein Comeback und Rückbesinnung auf Altbewährtes (oder besser: Inszeniertes) nicht so richtig abkaufen, sich dafür gewünscht hätten, dass dessen Rückkehr nach zu viel Jojo und noch mehr Coco klanglich wie textlich ähnlich so viel infantil Subversives hervorbringt – jetzt kehren wir zurück zum Thema – wie bei BJ The Chicago Kid. Der zollt im Video zu »Strawberry Bubblegum« dem Machwerk des 90er Videovirtuosen Hype Williams und dessen Schulhofklassiker »Belly« Tribut, bewegt sich aber soundästhetisch näher an der Hype-Williams-Formation Blunt/Copeland. Oder wann habt ihr das letzte Mal ein derart poetisches Acapella-Arrangement eines jungen Menschen gehört, der das Instagramprofil seiner Angeschmachteten betrachtet und dann assoziativ die vielen Fans mit »if you can handle what’s in my pants« in Einklang bringt? Eben.

BJ The Chicago Kids »Strawberry Bubblegum« auf Vimeo ansehen

Auch was älter, dafür jetzt mit passender Videoauskopplung zum Mixtape, die Zweite, Project Pat und »Flexington«. Der Unterschied könnte kaum größer sein. Hier gelayerte Vocals ohne Instrumentalbegleitung, dort übertriebenes Hi-Hat-Geballer Marke ADHS, das offenbar weder mit Ritalin noch mit Purple Sirup zu neutralisieren ist. Mag Project Pat flowtechnisch gelinde gesagt äußerst begrenzt sein, muss man ihm lassen, dass er bei der Beatauswahl doch immer wieder die süßlichsten Soulsamples auf der Habenseite stapelt. Erst die Blaupause für »International Player’s Anthem« dann »Drank and that strong« jetzt »Flexington«. Pariert mit einer Hookline, die dadaistisch mit Migos oder Riff Raff in einer Liga spielt (»I’m flexin’ too hard on the street they call me Flexington, Flexington«), hat Pat bei uns immer einen Platz sicher.

Project Pats »Flexington« auf Youtube anhören

Romare
Projections
Ninja Tune • 2015 • ab 21.99€
Romares Verwurstung des afroamerikanischen Kulturkanons im Patchwork-Verfahren geht weiter. »Motherless Child«, die leidende aber resolute Großmutter von »A Change Gon’ Come«, wird hier von Romare fast schon klassisch, im Sinne der großen Collagenmeister der Jahrtausendwende rekontextualisiert und ich hatte beinahe vergessen, dass es mal Jahre gab, in denen ich überlegt hatte, ob ich RJD2s Dead Ringer mit auf eine einsame Insel genommen hätte. Romare liefert auf seinem neuen Album sicher moderne Ansätze für die angestaubte Tradition des Instrumental Hip Hop als Motherless Child, aber keine ist so nah dran an der Magie eines »Here’s What’s Left« oder »Smoke & Mirrors« wie das hier.

Romares »Motherless Child« auf Youtube anhören

Halleluja, wir hatten uns schon Sorgen gemacht, dass Kanye nur noch Schnullerjams mit Onkel Paul produziert und »So Help Me God« der Moment werden würden, indem wir Kim K. als Sündenbock für den ersten wirklichen Fehltritt von Yeezus identifizieren können. Stattdessen wirft uns Ye einen wütenden Hybrid aus »Mercy«, »Hell Of A Life« und »New Slaves« vor die Füße, spielt bei den Brit Awards dazu den Godfather Of Grime und ich kriege bei dem Gedanken, dass es Skepta und Novelist anscheinend in den Kurzwahlspeicher von Herrn West geschafft haben, jetzt schon wacklige Knie. Ach ja und am Ende gibt es in der Studioversion noch das unpassend wahnwitzigste Pfeif-Solo von Sir Paul McCartney ever ever. Warum? Weil Kanye Kanye bleibt. Und das ist die Nachricht des Monats.

Kanye Wests »All Day« anhören