Aigners Inventur – Oktober 2015

04.11.2015
Auch in diesem Monat setzt sich unser Kolumnist vom Dienst wieder kritisch mit der Release-Flut auseinander, selektiert, lobt und tadelt. Any given month. Dieses Mal mit u.a.: J Dilla, Gzuz, Floating Points, Regis und St. Germain.
J Dilla
Dillatronic
Vintage Vibes / Ma Dukes Official • 2015 • ab 16.89€
Es ist schon eine einigermaßen undankbare Aufgabe den Tod eines Künstlers zu verwalten, ohne dabei als eine Mischung aus Hans Eichel, Warren Buffett und Suge Knight in der öffentlichen Wahrnehmung direkt mit exekutiert zu werden. Aber in einem Land, in dem ein einmonatiger Krankenhausaufenthalt gefühlt immer noch so viel kostet wie ein ganzes Dorf in Sachsen-Anhalt, sollte man J Dillas Mutter nicht unbedingt einen Vorwurf machen, dass sie die drei Vinyls von »Dillatronic« auf drei separate Produkte verteilt und die Marge eher großzügig berechnet, vor allem deswegen weil »Dillatronic« satte 41 unveröffentlichte Beats des laten greaten Jamey Yancey versammelt, die zum Großteil in seiner unfickmitbaren Phase zwischen 2003 und 2005 entstanden sein dürften. Zumindest legt das die ästhetische Verwandtschaft zu den mittlerweile legendären geleakten Beattapes dieser Ära nahe. Daraus leitet sich also auch ein direkter Kaufbefehl ab, weil der Post-SV-Dilla mit seinen futuristischen, nicht selten die Grooves von Detroit Techno zitierenden Beats, posthum das Spiel noch so lange dominiert hat.

MED, Blu & Madlib
Bad Neighbor
Bang Ya Head • 2015 • ab 14.99€
Weniger staatstragendes gibt es zu »Bad Neighbor« zu sagen, einem Album auf dem Madlib, Blu und der notorisch ungeliebte MED einfach nur Spaß haben. Madlib gönnt sich hier mal zwischen seiner üblichen Rohkostdiät ein Piccolöchen und schleppt die beiden Hänger in die Disco vor der nächsten 72 Stunden Schicht im Bomb Shelter. Kann man mal machen.

The Underachievers
Evermore: The Art Of Duality
RPM MSC • 2015 • ab 25.99€
Während sich das vorherige Trio seichte Mixtape-Gude-Laune gönnt, werden die Underachievers zunehmend sendungsbewusst. Das ist lyrisch dann nicht immer zu 100 Prozent druckreif, weil sich die Herren dabei ab und an in YouTuber-Illuminaten-Schwadronierei verlieren, aber rappen und vor allem Beats picken, das können die beiden wie nur wenige der jungen Garde.

Gzuz
Ebbe Und Flut
AUF!KEINEN!FALL! • 2015 • ab 9.08€
Wie üblich für Deutschrap habe ich dieses ganze 187er-Ding mal wieder erst wirklich wahrgenommen als die Übernahme bereits vollzogen war. Nun hat sich Gzuz bekanntermaßen einen freien Tag am Obststand gegönnt und kämpft solo gegen Graustufen. In seiner brutalen Simplizität wirkt »Ebbe und Flut« global gesehen wie aus der Zeit gefallen, irgendwo zwischen den Binärcodes von NWA, Onyx und Young Jeezy, im deutschen Kontext füllt Gzuz mit seinem authentizitäsgeprüften CV allerdings eine Nische, die in den letzten Jahren, auch durch die (journalistische) Intellektualisiereng der Arbeit von Haftbefehl und der Selbstpersiflierung von Sonny Black und Konsorten erst wieder neu besetzt werden musste. Dass hier meist im Duktus eines Löwendompteurs vorgetragen wird, erleichtert mir den Zugang nicht unbedingt, aber immerhin habe ich mich dank Gzuz daran erinnert, wie erhaben es sich 1997 durch den Schnee stapfen ließ zu »Walk In New York« .

Roots Manuva
Bleeds
Big Dada • 2015 • ab 6.30€
Apropos 1997: Das dürfte in etwa das Jahr gewesen sein, in dem ich Roots Manuva kennengelernt habe. Also nicht auf Bieremoji-Basis, aber dank Danny Wainwright zumindest als Rap-Adresse. Zahllose Hymnen später und mit genügend altersweisen Pausen zwischen den Alben meldet sich Roots Manuva nun zurück und wie immer tut er das maximalst unpeinlich, organisch im Hier und Jetzt angekommen und mit diesem Bigger-Than-Rap-Gestus, den sich so viele Ü30er gerne anheften, der aber nur an den wenigsten tatsächlich kleben bleibt. Und weil Roots Manuva immer noch die richtigen Kontakte hat, helfen hier Four Tet, Fred, Adrian Sherwood und Switch bei der Quadratur des Kreises äääh der zeitlosen Gegenwärtigkeit eines 43-Jährigen. Läuft.

Floating Points
Elaenia
Pluto • 2015 • ab 12.58€
Ich liebe Sam Shepherd. Genug um ihm zu verzeihen, dass »Elaenia« nicht das Album geworden ist, das ich haben wollte. Er denke, er könnte mit seinem ersten »richtigen« Floating Points Album Menschen vor den Kopf stoßen, das perfide ist allerdings, dass er genau das nicht tut, aber gleichzeitig auch nicht seine größten Stärken ins Schaufenster stellt. »Elaenia« macht es sich stellenweise zu bequem in dieser sphärischen Bonobo-Gemütlichkeit, zu der es sich vortrefflich Hausarbeiten schreiben, Platten sortieren oder ellenlange IBANs in unübersichtliche Masken hacken lässt. Das liegt daran, dass sich Shepherd meist die logischen, die ekstatischen Gesten, die unumstrittene Klassiker wie »Arp 3« oder »Vacuum Boogie« in eine eigene Liga katapultierten, spart und geniale Arpeggi nicht in Beatstrukturen kulminieren, sondern antithetisch in Piano-Jazz und proggige Elegien übergehen lässt und er so im Endeffekt eher mit einem Überschuss an Talent und Möglichkeiten den Affront sucht als mit wirklicher Radikalität oder dem Bekenntnis zu den eigenen Stärken. Dass wir uns nicht falsch verstehen: »Elaenia« ist ein gutes, aber kein spielveränderndes Album und damit eigentlich zu wenig für Floating Points.

Visionist
Safe
Pan • 2015 • ab 11.49€
Ich glaube, einer der Gründe, warum mich noch keiner gefragt hat, Pushas A&R zu werden, könnte sein, dass ich ihm dann nahelegen würde anstatt in der Mittagspause hingerotzte 16er für den Preis eines Mittelklassewagens an belanglose Trap-Produzenten zu verhökern, doch gefälligst einmal bei den Engländern vorstellig zu werden. Nicht nur, weil diese Drake’sche Grime-Offensive des letzten Herbstes bisher so wenig konkrete Ergebnisse hervorgebracht hat, sondern auch weil in meiner verqueren Vorstellung Mr. Mitch, Mumdance und Visionist aktuell heißere Kandidaten wären, einen halbwegs adäquaten Nachfolger für »Hell Hath No Fury« zusammenzuschustern als Pharrell Williams. Aber gut, ob sich Pusha auf »Safe« tatsächlich so fühlen würde, ist zu bezweifeln. Zumindest arbeitet Visionist hier konsequent weiter an seinem Gefrierbrands-Grime, in den sich immer wieder unerwartet schöne Harmonien schleichen bevor polyrhythmisch alles eingerissen wird. Geil, aber Aigne&R würde ihm diese Flausen schon noch austreiben.

Regis
Manbait
Blackest Ever Black • 2015 • ab 11.99€
Bleiben wir im Gedankenexperiment: der nächste Pitch wäre dann logischerweise ein Diddy Industrialtechno-Album auf dem er über Weltuntergangs-Kickdrums einfach 60 Minuten »Take That, Take That« skandiert, runtergepitcht auf -35, versteht sich. Vielleicht erfülle ich mir diesen Traum und benutze einfach Regis B-Seiten und Remix-Kollektion »Manbait« dafür.

Patrick Cowley
Muscle Up
Dark Entries • 2015 • ab 29.99€
Also ohne den visuellen Input zu kennen, das brillante Deep Inside You ausgenommen, aber entweder ist »Muscle Up«, dieses wohl recht ölige Nischenfilmchen für das Patrick Cowley 1980 einen sensationell abgründigen Soundtrack gemacht hat, das Gayporn-Äquivalent zu Persona oder Cowley hat die damaligen Auftraggeber mit seinen Kompositionen so verärgert, dass sich erst jetzt die Liebhaber von Dark Entries um eine Veröffentlichung des Soundtracks gekümmert haben. Sei es drum, das hier ist, wie bereits erläutert, der paranoide Cowley, der die Cowbell zuhause lässt und die Protagonisten durch dunkle Hinterhöfe (no pun intended) schickt. Braucht man, klar.

Len Leise
Lingua Franca
International Feel • 2015 • ab 20.99€
Freundlicher ist Len Leise gestimmt, der für die neue Mini-Alben-Serie auf International Feel in erster Linie seine Reisen vertont hat. Balearen, Afrika, Brasilien – überall treibt sich der Len herum, immer gebettet auf luftige Melodien und diese typische Urlaubsgelassenheit in der man auch gedankenverloren nur mit der Schulter zuckt wenn das iPhone beim Schwimmen mit dabei war und einen die gegrillte Ziege Immodium Akut schmerzlich vermissen lässt. Music to schaumbaden to, schubbidu.

Gabriel Saloman
Movement Building Volume 2
Shelter Press • 2015 • ab 4.99€
Weil aber nicht alles Spaß und Spiel ist, verordne ich im Anschluss noch Gabriel Salomans »Movement Building Volume 2«, das dir direkt eine Schelle mitgibt, wenn du auch nur eine Sekunde Ambient als Assoziation im Kopf hattest. Im Gegenteil: das klingt als hätte Salomon eigenhändig die 36 Kammern der Shaolin in Schutt und Asche gelegt, um im Anschluss ein sediertes Kammerorchester mit Instrumenten, die es hasst, eine Elegie auf den Trümmern einspielen zu lassen. Gemein, hundsgemein.

Santiago Salazar
Chicanismo
Love What You Feel • 2015 • ab 13.49€
Kommen wir zu Greifbarerem: Santiago Salazar kommt aus Detroit, ist mit Underground Resistance verbandelt und macht genau jene Art von melodieverliebtem Detroit Sound, den ein Carl Craig seit 20 Jahren im Schlaf produzieren könnte, aber nicht immer möchte. Weil das aber aus Craig selbst nicht viele können und Salazar ein natürliches Gespür für das richtige Verhältnis zwischen Repetition und Dynamik hat, ist »Chicanismo« nur selten redundant.

House-Alben, die ihre Grenzen kennen, sind oft die besten. Grant will nicht mehr als tiiiiihiefen Analog-House produzieren, das vermaledeite Albumformat nutzt er als Chance, anstatt als Anlass zu verkrampfen. So ist »The Acrobat« eines der schönste, weil schlüssigsten House-Alben des bisherigen Jahres, obwohl oder gerade weil hier nichts passiert was man sich nicht jeden Monat auch selbst mit 4-5 Maxis auf den Tellern zusammenstellen könnte. Nur passiert das hier halt tatsächlich auf engstem Raum unter einem Namen.

Mano Le Tough
Trails
Permanent Vacation • 2015 • ab 22.99€
Vielleicht hätte Mano Le Tough auch ein solches Album aufnehmen können, an mangelndem Gefühl für dieses Ding namens House hätte es jedenfalls nicht scheitern müssen. Stattdessen wagt der höchst umtriebige und erfolgreiche Ire für Permanent Vacation nun den Schritt zum songbasierteren, vocal-lastigen Produzieren. Dabei will Le Tough irgendwie alles: die Eleganz der Kompaktschen »Pop Ambient« Reihe, die Indiesensibiliät von Vimes und Roosevelt und die stoische Melancholie eines Tin Man. Leider gelingt ihm dieser Spagat, auch mangels einnehmender stimmlicher Qualitäten, selten bis nie.

St. Germain
St. Germain
Parlophone • 2015 • ab 30.99€
Ich glaube St. Germain meint es nicht böse. Seine Entscheidung nach jahrzehntelanger Abstinenz eben kein zweites »Tourist« zu machen, ist respektabel und anstatt auf klassische Jazz-Samples zu setzen, lieber in Mali nach Inspiration zu suchen, riecht nicht nach Tokenism, sondern tatsächlich nach Liebhaberei. Aber trotzdem ist St. Germain 2015 glutenfreier House für Vorstandsvorsitzende, die sich den selbstgeimkerten Honig auf das frisch gebackene Bananenbrot streichen und für ihre Geburstagseinladungen ein Design-Büro beauftragen. Vielleicht bin ich aber auch nur frustriert, dass ich vor vier Jahren diese Reissue verpasst habe und St. Germains Versuch Afrobeat in Eames-Stühle zu setzen, besonderns nervt, wenn man gerade darüber nachdenkt 110 Euro für eine Compilation zu bezahlen, weil das verdammte Original das zehnfache kostet. Sorry, Ludovic, wir sprechen uns nochmal, wenn ich meinen Hormonhaushalt mit Propolis in den Griff bekommen habe.

Beach House
Thank Your Lucky Stars
Bella Union • 2015 • ab 25.99€
Oder ich lasse mich einfach mal wieder von Beach House sedieren. Keine Ahnung warum »Thank Your Lucky Stars« jetzt erscheint, »Depression Cherry« hatte eigentlich vor kurzem erst die Weisheit bestätigt, dass man wenn man ein Beach House Album gehört hat, alle Beach House Alben gehört hat. Ich meine mich zu erinnern, dass ich das schon vor einigen Monaten als Qualitätsmerkmal festgezurrt hatte und während ich noch überlege, ob Beach House vor allem deswegen immer noch so willkommen sind, weil sie nie zu lange bleiben und immer nur sporadisch vorbeischauen, ist die Neue schon durchgelaufen und meine geschwollene Hauptschlagader puddingweich geklopft. Danke dafür!

Deerhunter
Fading Frontier
4AD • 2015 • ab 28.99€
Und weil Beach House für mich immer noch hervorragend als Gateway Drug für anderen Pitchfork-Kram funktionieren, komme ich auch bequem in diese neue Deerhunter rein, nicht nur weil dieser Bradforf Cox ähnlich schlafmützig lakonisch seine lyrischen Spitzen verteilt, sondern weil diese schrammelig-verschwaschenen Gitarren auf »Fading Frontier« auch noch so geil hymnisch arrangiert sind, dass man es sich dort als 80s Baby sofort gemütlich machen kann und eine Drum Machine für mich der Urvertrauens-Trigger schlechthin bleibt. Wer sich wünscht ein Maulwurf zu sein, kann zudem kein schlechter Mensch sein.