Vinyl-Sprechstunde: Nicolas Jaar – Sirens

12.10.2016
Nicolas Jaar veröffentlicht nach fünf Jahren sein zweites Studioalbum. Unsere Autoren haben sie sich gemeinsam angehört und sich dabei nicht nur gefragt: ist das jetzt eher Tarkovsky oder Milky Chance?

Cornils: Was hat »Space Is Only Noise« damals eigentlich so geil gemacht, dass heute allen die Unterbüx platzt, wenn Nicolas Jaar ein neues Album ankündigt?

Kunze: »Space Is Only Noise« klang halt, als hätte ein Mädchen, nur in T-Shirt und Panties, Rotwein verschüttet, und dann wären sie und ihr Liebhaber in der Weinlache im staubigen Zimmer in eine film-noirige Romanze geglitten.
Cornils: Ich konnte damals ja nicht viel damit anfangen. Im Prinzip war es doch nicht mehr als ein flockiges Downbeat-Album mit ein bisschen Sound-Art-Schnipseln und viel, viel Post-Trentemøller-Ästhetik, sprich mit dem 100%+-Emo-Plugin auf den Chords.

Kunze: Ich finde, dass das damals vielleicht das erste Laptop-based Album war, dass tatsächlich als Album angelegt war und dabei vor Vibes nur so triefte.
Aigner: Ich weiß nicht, ich bin damals ja auf »Mi Mujer« ein bisschen reingefallen, dann fand ich das einfach anstrengend zu beobachten, wie er da krampfhaft aus der Tech-House-Ecke rauswollte.
Kunze: Aus heutiger Sicht kling der Sound der Platte halt ziiiiemlich billig.
Cornils: Ja, das denke ich auch. Trotzdem finde ich es noch ganz passabel – passabler vielleicht, als ich es damals fand. Die Sache ist nur: Ich kann’s schwer begründen.
Kunze: Jaar hat halt als erster nur mit Laptop ausgerüstet an den Knöpfen von Blusen gedreht.

Cornils: Laptop-Crooner. Ja, vielleicht hat er damit seine Nische geschaffen.
Kunze: Damals ritten ja alle darauf rum, wie »noir« das Album doch sei. Was wahrscheinlich auch entscheidend ist, diese Ästhetik hat halt gezogen.
Aigner: Noir und diese bekackten schwachbrüstigen Ableton-Drums, das geht für mich nicht. Auf »Sirens« ist das oft besser, auch wenn das Problem mit den Drums immer noch nicht endgültig gelöst ist.

Cornils: Haben wir nach zwei Alben (und einem Soundtrack und einer Handvoll EPs, die ich nicht gehört habe) eine Idee davon, was das für ein Typ ist?
Kunze: Was das für ein Typ ist? Einer, der gerne Tarkovsky sein würde, aber »nur« Musik machen kann. Und damit versucht, dem so nahe zu kommen, wie’s geht.

Cornils: Ha, autsch. Ich nehme ihm dieses Art-Ding, so überzogen das auch vermarktet wird, allerdings schon ab. Siehe sein Label Da kommt meterweise geiler Scheiß raus, für den sich seine lechzende Fanbase nicht interessiert. Atmosphärisch zumindest kann es zur Herbstzeit was. Bin letztens zu »Sirens« durchs nächtliche Kreuzberg gelaufen, am Kanal lang, wo die Medienmenschen-Crowd ihre Verzweiflung in IPAs ertränkt. Hatte was. Effektiver Kitsch.

Kunze: Für mich klingt er immer, als wolle er mit seiner Musik unbedingt in die dark woods, um da den Geist von David Lynch zu treffen, trifft dort aber nur Bon Iver.

Cornils: Beste Analogie übrigens: Mit diesem tollen Video, in welchem Badalamenti die Entstehung vom Twin Peaks-Love-Theme erklärt fängt auch Nicolas Jaars BBC-Essential-Mix an. Ist schon obvious, wo seine Ästhetik herkommt und auch nicht unbedingt verkehrt. Aber gerade die ersten beiden Tracks sind natürlich schon Stangenware. Gerade diese Akkordfolge am Ende des zweiten Stücks, das ist glaube ich auf jeder Dark Jazz-Platte jemals zu hören (nur langsamer und mit Rhodes). Die Frage ist aber: Warum funktioniert das als Ganzes? Tut’s nämlich, meiner Meinung nach.

Aigner: Grund 1: Downtempo geht immer. Alles, was klingt wie Mo’ Wax 1997 läuft.
Grund 2: Das Radiohead Album war wirklich so scheiße, wie wir behauptet haben
Grund 3: 9,2 von 10 Fuckability.
Grund 4: ES IST HERBST.
Grund 5: DEINE FREUNDIN HAT GEBURTSTAG UND EINEN PLATTENSPIELER GESCHENKT BEKOMMEN.

Kunze: Sehr gut! Ich meine, der erfüllt ganz niedrige Bedürfnisse auf eine galante Art. Ich habe da immer so die Ahnung, dass man sich plötzlich auf einem Holi-Festival befindet und rumknutscht.
Cornils: Ja, dieser Crossover-Aspekt ist bei Jaar natürlich groß: »No« ist der Minimalkonsens aus Cumbia und Beatport-Charts.

»Das Album ist schon irgendwie Plunderphonics: Alles schon mal gehört nur meistens besser. Aber

Nicolas Jaar kann alles zusammenführen, wie es nicht viele andere können.«:
Kunze: Das swingt echt gut und es lässt sich prima Glitzer dazu ins Gesicht schmieren und dann mit dem Fjällraven-Rucksack in Richtung Outdoor-Rave laufen. Am Ende des Tages ist das halt einfach Milky Chance. Ich finde Milky Chance auch total ansteckend. Man schämt sich dabei nur so. Bei Jaar muss man das (noch) nicht soo ausgeprägt.

Cornils: Mich stört schon wahnsinnig viel an diesem Album. Ich mag es aber als konzeptuelle Einheit. Dabei ist es nicht mal ein Album-Album, sondern eigentlich nur eine ausorchestrierte Soundcollage.

Kunze: Aber was ist das Konzept?
Cornils:Der Gesamtkontext zumindest ist diese schwammige Begierigkeit. Sehnsucht. Kleine Reise durch die Geilheit der Herzkammern. Zumindest sehe ich da nicht sonderlich mehr drin als das – aber das reicht irgendwie. Und das wird eben polyglott und für so ein Erfolgsalbum (was es sein wird) ziemlich »experimentell« aufgearbeitet. Wobei dieser Radio-Cut-Up-Musique-concrète-Ansatz eben auch noch recht verdaulich ist.

Kunze: Aber du musst jetzt, weil ich es schon bei »Space Is Only Noise« nicht konnte, erklären: Was an »Sirens« ist es, das ein dieses rotweingetränkte Sehnsüchtige hören lässt?
Aigner: So schön, dass Rotweinmusik immer noch deine Dauerschwäche bleibt.
Kunze: Kann mir nur ein Album kaufen, wenn man dazu 20 Minuten ungestört Rotwein trinken kann. Trinke dann aber immer nur ein Bier.

Cornils: Rotwein nicht, eher Opium. Das ist weniger zum Säuseligwerden, sondern eher zum Weltabschalten und Transzendieren dienbar.

Kunze: Ich kann dazu nicht abschalten, dazu wird mir zu sehr die große Geste gesucht.
Cornils: Ja, aber ich finde das deswegen okay, weil diese Geste ihm auf musikalischer Ebene so gar nicht gelingt und sie trotzdem im Gesamten nicht peinlich ist. Beziehungsweise finde ich vieles dermaßen belanglos und unterwältigend, dass es mir nicht so recht in den Kopf gehen will: Warum verteidige ich das trotzdem? Vielleicht lasse ich mich da allerdings auch vom Titel dazu verleiten, aber es klingt für mich, als würde da ein großes Verlangen hinterstecken.
Kunze: Ja, das dringende Verlangen große Kunst zu machen.

Cornils: Mhm, einerseits ist das irgendwie Plunderphonics, das war schon »Space«: Alles schon mal gehört und meistens besser. Da aber äußert sich seine Handschrift im Abstrakten: Er kann das alles so gut zusammenführen wie sonst nicht viele.

Kunze: Das stimmt, das kann er, das hat schon »Space« so dicht gemacht. Was sich auf der Platte aber mehr im Hintergrund hielt, war seine Stimme. Die ist mir hier zu präsent, die stört mich. Es gibt dabei so viele kleine Elemente hier, die mir gefallen. Dieses abnippelnde Sax und so… aber dann kommt er immer wieder um die Ecke und guckt mich schmierig an. Mit einer französischsprachigen Spoken Word-Künstlerin, deren Zunge von jahrzehntelangem Alk-Missbrauch schon ganz schwer ist, wäre es ein geiles Album geworden.

Cornils: Pauline Oliveros! Auf dieser Platte! Das wäre ein Statement gewesen.
Aigner: Mir ist langweilig. Also von der Platte. Ich weiß auch nicht. Die Platte ist irgendwie wie ein Abend mit einem guten Bekannten, der von Natur aus recht introvertiert ist. Irgendwann um 2 Uhr nachts für eine halbe Stunde faxen macht, man toleriert das als Freund, ist aber sehr froh darüber wenn der Stille Typ drei Stunden später einfach still seine Falafel ist.

Kunze: Vielleicht ist mein Problem mit der Platte auch: Die Stille ist nicht still genug, die Uptempo-Momente hingegen klingen cheap.
Cornils: Exakt. Er will immer Triggerpunkte setzen und hangelt sich von einem zum anderen. Je häufiger ich »No« höre, desto schlimmer finde ich es. Klingt so, als wäre der Loop am Hängen und er würde mit Hektikflecken im Gesicht noch etwas Leidenschaft draufhauchen wollen. »Sirens« ist der DJ-Mix, den ein junger Musikstudent als Masterarbeit einreicht, nachdem er für den davor Bachelor mit Magna Cum Laude gestanden hat.

Kunze: Der Vergleich geht in die richtige Richtung! Ich finde aber eher, dass es die musikalische Untermalung ist, die ein einmal gereister, ein paar deepe Bücher gelesen habende, und ein paar Bergmans geguckt habender 21jähriger Mensch seinem Bewerbungsfilm an einer Kunsthochschule gibt: Zu verkrampft an den Zitaten hängend, weil er etwas ihnen Vergleichbares schaffen will.

Cornils: Kompromissversuch: »Sirens« ist »Blond« für Clubkids. Vor allem deshalb Statement, weil so viel Samenstau in der Wartezeit aufgebaut wurde. Vor allem deshalb so reichhaltig, weil Randomness hier kein Beiprodukt ist, sondern eigentlicher modus operandi. Ein gedehnter cock tease für die Herzmuskulatur. Das halte ich schon irgendwie für eine Qualität.