Records Revisited: Amon Tobin – Bricolage (1997)

19.05.2017
Der brasilianische Soundtüftler Tobin sprang am Ende des vergangenen Jahrtausends ganz schön brutal mit den Genres um, die ihm am Herzen lagen. Und ebnete ihnen so den Weg in die Zukunft.

1997 war Drum & Bass tot. Ah sorry… Flashback… Das hatten wir ja schon bei »Hard Normal Daddy. Und doch muss zum Rettungsring, den Squarepusher 1997 dem Drum & Bass zuwarf, noch ein zweiter mindestens genauso überlebenswichtiger hinterher geschleudert werden.

Denn wo Squarepusher auf seinem »Hard Normal Daddy« dem einschlafenden Genre des jazzy Drum’n’Bass eine gehörige Portion wütend-humoristische Headfucks unterjubelte, besann sich Amon Tobin ganz anderer Energien. Squarepusher lieferte den Energieschub aus seinen Rave-Erinnerungen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre und impfte sie mit verspielten Fusion-Jazz-Anleihen. Amon Tobin dagegen dachte historischer und ging in die 1950er und 1960er Jahre zurück, als der Jazz sich immer weiter auflockerte und der Funk den sozialen Umbruch begleitete.

Vertrauen nutzen, um brechen zu können
Dabei ist fast zweitrangig, dass viele Samples sowohl von progressiven Jazz-Künstlern wie Charles Mingus oder dem Art Ensemble of Chicago als auch von den hochenergetischen Funkdrummern wie Clyde Stubblefield (The JBs) oder Gregory C. Coleman (bekannt für seinen Amenbreak bei The Winstons) stammten. »Bricolage« zeigt bereits als Frühwerk, dass Amon Tobin einer der hartnäckigsten, visionärsten und versiertesten Soundtüftler unserer Zeit ist. Und das nicht nur in den mittlerweile entschlafenden Genres des D&B und NuJazz, sondern auch in der elektronischen Musik, wie seine späteren Alben zeigen sollten.

CITI: »Tobin kettet Jazz und D&B im Gewittersturm an den Blitzableiter.«:

Denn Tobins erstes Album unter seinem bürgerlichen Namen ist weit mehr als Sample-Nabelschau. Vielmehr nahm er sich Genres, die dick und zufrieden im Ruhestand herumdümpelten und reaktivierte sie. Und das gilt für den D&B genauso wie für den Jazz, die er auf »Bricolage« hungrig zerfleischt, von ihrer ursprünglichen Form entbunden in manischen Kollagen arrangiert und schlussendlich im Gewittersturm am Blitzableiter ankettet.

Der französische Ethnologie Claude Lévi-Strauss hatte für diesen Prozess einst den Begriff der Bricolage eingeführt. In seiner Nomenklatur unterscheidet er den Bricoleur explizit vom Ingenieur. Letzterer orientiere sich an einer apriorisch herrschenden Hierarchieordnung, sei normengetrieben und fokussiere sich auf die konkreten Eigenschaften voneinander klar getrennter Begriffe und Dinge.

Amon Tobin versteht sich und komponiert dagegen als Bricoleur. Ihm sind Kontexte wichtiger als singuläre Eigenschaften, zufälliges Entdecken spannender als standardisiertes Konstruieren, Zweckentfremdung und Gleichberechtigung näher als Ismen und Hierarchien. In diesem Sinne wird er auf »Bricolage« zu Ornette Coleman der sein intimes, tiefreichendes Wissen und Vertrauen zu den Strukturen und Kontexten des Jazz nutzte, um diese bewusst aufzubrechen und in bis dato ungehörte Formen zu überführen. Die alten Strukturen schimmerten als DNA-Fetzen durch, verwandelten sich nun jedoch in eine neue notwendige Kommunikation, die ihrer Zeit gerecht wurde.

Minutiös getaktete Improvisation
Genau wie der Free Jazz eines Ornette Coleman wirken die 14 Titel des Albums (auf der Vinylversion fehlt »Chomp Samba«) deshalb im ersten Moment wie reiner Krach. Das Chaotische der manischen Kollagen, die bei Tobin immer bis auf die letzte Canvas-Lücke bestückt und in mehreren Schichten überklebt werden, sticht hervor. Es kratzt und stolpert über die eigenen rhythmisch verknoteten Beine. Beim beiläufigen Hören kann »Bricolage« schon mal unglaublich nervig wirken.

Beim bewussten Hören entstehen dann aber diese magischen Momente, in denen innerhalb der Musik Dynamiken, feine Webmuster und Kommunikationsstränge entstehen. Bei Ornette Colemans epochalem 1960er Album »Free Jazz: A Collective Improvisation« waren es die Bläser von Eric Dolphy, Don Cherry, Freddie Hubbard und Ornette Coleman selbst, die plötzlich begannen, Gespräche zu führen. Wo an der Oberfläche purer willkürlicher Noise zu kämpfen schien, entwickelte sich eine eigene gesellige Diskussionsrunde, in der geflüstert, argumentiert, schwadroniert, gehüstelt, geschmeichelt und sehr viel gelacht wurde.

Amon Tobin
Bricolage
Ninja Tune • 1997 • ab 21.99€
Genau diese Dynamik und dieses Verständnis der feinen Webstrukturen eines oberflächlich als Unmusik wirkenden Klangteppichs hat Amon Tobin bereits 1997 sehr genau in seine Musik integriert. Der geborene Brasilianer nutzt das Handwerk des eher statisch-repetitiven Samplings, bricht dessen Rückgrat und schlürft das Knochenmark aus. Diese Essenz verwebt er in die freien Dynamikschwingungen der Improvisation und Intuition. So klingt »Bricolage« gerade nicht wie eine 16-Takte-Default-Programmierung. Die Breaks stürmen live, organisch, wild und spontan voran. Es ist eine minutiös getaktete und in schweißtreibender Arbeit gezimmerte Impro-Session – live und direkt.

Es ist die Geburtsstunde eines wahren Sounddesigners.