Aigners Inventur – September 2017

12.10.2017
Wir kennen das: kaum geht das Jahr wettertechnisch den Bach runter, nehmen die Releases wieder richtig Fahrt auf. Bei ihr hält die Frisur bei jedem Wetter und das falsche Deo wurde das letzte Mal 1995 benutzt: Aigners Inventur.
Trettmann
#DIY
SoulForce / HHV • 2017 • ab 19.99€
Deutsches Songwritertum ist irgendwann in den Neunzigern völlig in seiner tumben Adler sollen fliegen Trampeligkeit verendet und lässt sich jetzt von Pappmaché-Schwiegersöhnen die fauligen Klöten kraulen. Aber es gibt ja Trettmann. Der erzählt direkt zu Beginn von »DIY« wie man es vom Ossi-Token zum neuroselosen Kitschkrieg-Future schafft und knallt uns dann mit einer Nate Dogg’schen Selbstverständlichkeit die besten Hooks des Jahres im Minutentakt ums Ohr. Kann in Deutschland so halt einfach keiner.

Ibeyi
Ash
XL Recordings • 2017 • ab 26.99€
Ibeyi sind derweil nach Abra und Kelela vielleicht der größte Gewinn für diesen Post-Tumblr-R&B, der all die richtigen feministischen Schlüsse aus »Lemonade« gezogen hat, aber weiter geht als es Beyoncé je könnte. »Ash« wäre dann auch konkurrenzlos, würde diese Woche nicht auch Abras großartiges »Roses« wiederveröffentlicht und die neue Kelela, also puuuuh…aber dazu nächsten Monat.

Lunice
CCCLX
Lucky Me • 2017 • ab 10.38€
Lunice und sein Debütalbum »CCCLX« – das klingt fünf Jahre nach der finalen Gottschalkisierung von Trap (auaauaaua) durch den »Harlem Shake« einfach nur nach Sangria auf der Kirmes in roten Hightops und Zara-Bikerjeans. Highly recommended um gegen 1:30 Uhr in der Bahn mit immer noch dabbenden Halbmasten ins Gespräch zu kommen tho.

Krikor Kouchian
Pacific Alley
L.I.E.S. • 2017 • ab 16.99€
Wer allerdings AXE das letzte Mal 1995 eine Chance gegeben hat, wird sich von Krikor Kouchian und »Pacific Alley« hart verstanden fühlen. Ich wusste es selbst nicht, aber was die Welt wirklich noch gebraucht hat war eine Platte, die klingt als hätte DJ Screw 1991 Skizzen von Dam-Funk bekommen, kurz drübergeschaut, alles auf -14 gedreht, mit einem Post-It-Verweis Zeitgeist 2017 in einem Schuhkarton vergammeln lassen und heute posthum nochmal das Game gefickt.

Minoru 'Hoodoo' Fushimi
In Praise Of Mitochondria
Left Ear • 2017 • ab 28.99€
Ich muss mich hier Monat für Monat zusammenreißen, neue Musik zu besprechen, anstatt einen ewigen Reissue-Circlejerk zu veranstalten, aber weil Left Ear Hoodoo Fushimi auf »In Search Of Mitochondria« in kompilierter Form vorstellen, geht es dieses Mal nicht anders. Wie üblich kosten die Originalpressungen irgendwas zwischen Fuerteventura und Seychellen, aber das hier ist tatsächlich ein bißchen außergewöhnlich: verquerer Achtziger-Rap mit seltsamer Experimental-Kante und ausbaufähigem technischen Niveau, dabei aber – pardon – untypisch für den gemeinen Japaner: unbemüht. Geil.

Mount Kimbie
Love What Survives Black Vinyl Edition
Warp • 2017 • ab 29.99€
Och ja, neue Mount Kimbie. Irgendwas mit Post-Punk und Dub, britische Roots, Vorhersage von mir: der Track mit King Krule wird natürlich der beste sein. Höre ich mir irgendwann dann tatsächlich mal an.

Dean Blunt & Joanne Robertson
Wahalla
Textile • 2017 • ab 24.99€
Auch wenn es dank der kruden Soundcloud/Youtube-Veröffentlichungspolitik nicht immer einfach ist: von Dean Blunt und Joanne Robertson höre ich mir immer alles an. Das ist manchmal Fleißarbeit; nicht alles was auf »Wahalla« passiert, hätte zwangsweise auch auf Platte gepresst werden müssen, aber verdammt noch mal, Dean Blunt bleibt der Typ, der pro Projekt mindestens drei Momente hat, die es jedes Mal in Stein meißeln: ich werde nie selbst Musik machen, weil warum noch?

Four Tet
New Energy
Text • 2017 • ab 28.99€
Kurzzeitige Motivation bis zum nächsten Dean-Downer könnte man sich dann ausgerechnet bei Four Tet abholen, der auf »New Energy« mit einem sehr gewöhnlichen, mäßig sequenzierten Best-Not-Best-Of seiner Karriere nervt. Da leiht er sich zu Beginn ein bißchen Suso Saiz Genudel aus, wärmt zum hundertsten Mal die Trip-Hop-Lasagne auf und schleppt sich dann doch widerwillig auf die Tanzfläche, mit Reizdarm und allem. Nicht schlimm, ich hätte nach 23000 Gigs pro Jahr vermutlich nicht nur keine Ideen, sondern auch kein Gehirn mehr.

Bosaina
New York April-July 2013 / Two Names Upon The Shore
Discrepant • 2017 • ab 19.99€
Über Ambient-Alben zu schreiben finde ich eigentlich nach wie vor so belastend wie Craft Beer. Ein Erklärungsversuch: Bosaina’s autobiographical work takes on a magical insular quality through field recordings and sentimentally driven compositions that unfold in stolen time. On both EPs presented here, her love affair with cinema, interrupted by decaying urban life (New York April-July 2013) and literature (Two Names Upon The Shore) serve as the focal points for her intimate productions; fragmented and wistful soundscapes that combine her affection for the piano with ambient textures from seashore to life underground.
Klingt wie ein VHS-Kurs, ist aber eines der schöhööönsten Alben des Jahres.

Laraaji
Sun Gong
All Saints • 2017 • ab 9.71€
Über Laraaji würde ich aus purer Karmakalkulation nie ein schlechtes Wort verlieren, aber »Sun Gong / Bring On The Sun« sind definitiv Alben, deren Esoteriklevel besser in einem Skulpturenpark auf einer Picknickdecke als self-aware zu Hause zu ertragen sind. Ich meine wer regelmäßig prätentiöse Großstädter dazu bringt Lachübungen in aller Öffentlichkeit zu machen, während sie Rotwein aus Pappbecher trinken, hat rein so kosmosmäßig eh alles im Griff.

Bosaina
New York April-July 2013 / Two Names Upon The Shore
Discrepant • 2017 • ab 19.99€
Shit & Shine sind in dieser neuen Industrial-Szene um Hospital, iDeal und Konsorten der dringend benötigte Klassenclown, der all die übliche Kalte-Kriegs-Verkitschung mit Furzkissen und debilem Gelächter untermininiert. »Some People Really Know How To Live« ist, eigentlich wie immer, nur stellenweise überhaupt hörbar, aber wenn die drei Londoner wieder in einen Closer wie »The Crocodile« taumeln, vergisst man die zahllosen Umwege, die dafür in Kauf genommen werden mussten.

Ninos Du Brasil
Vida Eterna
Hospital Productions • 2017 • ab 21.99€
Zurück zu Hospital: da gab es im September mit Ninos Du Brasils »Vida Eterna« einen willkommen brachialen Zugang zum aktuellen Fourth-World-Percussion-Rudelbums. Bei weitem nicht so schluffig verkifft wie wir das von Corum, XYR oder Iona Fortune kürzlich hatten, dafür mit ordentlichem Liaisons Dangereuses Wums.

Jasss
Weightless
Ideal • 2017 • ab 26.99€
Und nochmal irgendwas mit Industrial, Percussion,100 BPM Techno und Art-Grime, dafür aber tatsächlich in der Top5-Listen-Variante: Jasss zerlegt auf »Weightless« mehr Genres als andere in einer ganzen Diskographie, lässt sich inspirieren, aber zieht stets eigene Schlüsse. Wer sich dieses Jahr nur ein neues Album aus diesem Quasigenre kaufen kann, weil die Coil Originalpressungen schon teuerer waren als ein Kombi: hier, glücklich werden.

Die Orangen
Zest
Malka Tuti • 2017 • ab 23.99€
Vor allem: wie toll ist das eigentlich, dass es gerade wieder chic ist, vor der Herausforderung des Albums nicht einzuknicken? Auch Die Orangen stellen mit »Zest« ihre bisherigen Maxis sowas von in den Schatten; wurschteln sich durch zahllose Tempi, Proggen hier, Dubben da, rauchen verschwitzte Kippen nach kurzen, aber intensiven Flurausflügen. Ne echt, elektronische Musik 2017: in frappierend besserem Zustand als die Welt drumherum.

V.A.
All Watched Over By Machines Of Loving Grace
Public System • 2017 • ab 26.99€
Selbst Brechstangen EBM-Techno nervt noch nicht. »All Watched Over By Machines Of Loving Grace« ist als Zusammenstellung so subtil wie ein Kettenhemd, aber heiliger Fick, wie bedingungslos hier gekloppt wird, Alter, Double Dragon Techno!

Hypnobeat
Prototech
Dark Entries • 2017 • ab 29.99€
Haben die alle von Hypnobeat gelernt, die jetzt mit »Prototech« endlich eine standesgemäße Zusammenstellung ihrer besten Tracks bekommen haben, wie immer bei Dark Entries wahnwitzig sorgfältig aufbereitet, umfassend weitsichtig zusammengestellt und mit unveröffentlichtem Kram sowieso. Könnt also aufhören diesen schrecklichen Youtube-Rip von »(Giving Head To) Kilian« zu spielen, Kthxbye!