Ausklang | 2017KW46 – 8 essentielle neue Platten

17.11.2017
Hunderte neue Releases, jede Woche. Davon viele sehr gut – und bereits von diversen Portalen vorgestellt. Wir präsentieren: die unvorgestelltesten, besten Releases der Woche. Ab vom Schuss, leicht daneben und tierisch geil: der Ausklang.
Ciel
Electrical Encounters
Peach Discs • 2017 • ab 9.99€
Es gibt nichts Süßeres als den Schweiß, der sich nach 12 Stunden Leben im Strobo in der frischen Bettdecke verreibt und dieser Track ist glasiert damit. Hier wird Moby durch Rising Sun und jede Menge Plinkerambient gechannelt und damit genau die Medizin verrührt, die nach traumlosem Schlaf den Rachen frei schallert, dir einen Tee aufsetzt und Schichten kondensierten Stresses von Fensterscheiben wischt: Hier, hast du nicht gehört, als du gestern mit knirschenden Kiefern über den Floor gerollt bist, aber hörst du jetzt und vielleicht ist das, was da fällt, kein Schnee, sondern die Asche einer alten Welt, die gerade in Flammen aufgeht. Du musst das nicht wissen, die Antwort findest du morgen heraus, mit offenen Armen und einem dumpfen Wummern im Hinterkopf. KC

Hiroshi Yoshimura
Music For Nine Postcards Black Vinyl Edition
Empire Of Signs • 1982 • ab 24.99€
Und sollte der Winter dann doch über dich kommen wie das Brennen einer Ingwerinfusion über den Rachen, dann steht Hiroshi Yoshimura dir bei, Godfather von allem, was du im dauerunterschätzten Motohiro Nakashima (bitte jetzt googlen) gefunden hast: einen sanften Wegbegleiter, erfüllt von einer Melancholie des Augenblicks voll leerer Transzendenz, in dem sich die Zukunft offenbart. Das sind: Tage im Bett, in denen die Jahreszeitendepression in dieser Ausziehschublade unter deinem Gasofen verstaut werden, zwischen all den angekohlten Pommesresten hektischer Mahlzeiten aus den Überstunden deines prekären Hustles am Limit. Da, wo sie richtig liegen. Das hier ist: eine Platte wie Liebe als solche – verrückt, im engsten Sinne, das heißt nicht von dieser Welt oder für sie gemacht. KC

Wosto
Teerpappe 001
Teerpappe • 2017 • ab 11.99€
Wostos neue Platte ist hingegen wie Scheiße als solche – dickflü…ach ey lassen wir das, ihr ahnt es eh schon: ich hatte wieder die Handwerker in der Wohnung, dieses Mal im – ääääääääh – sanitären Bereich. Und weil sich für mich den ganzen Tag kein passenderer Track finden ließ als »Was Hängt In Deiner Fresse Rum«, während der Klempner mit seiner riesigen elektronischen Toilettenspirale in der Wand verschwand, müsst ihr jetzt mit durch die Assoziationshölle. FA

Cosey Fanni Tutti
Time To Tell (Deluxe Edition)
C.T.I. • 1983 • ab 27.99€
Auch wichtig: meine Oma hatte bis heute eine Katze. Erst heute fiel mir auf (kurz nachdem der Klempner seine gastroenterologischen Ambitionen eindrucksvoll an der Keramik demonstriert hatte) warum ich damals vor 22 Jahren eine riesige Chance habe verstreichen lassen und mich für Cosey Fanni Tutti als Katzennamen hätte einsetzen müssen. Also ich meine im Ernst jetzt, das ist eindeutig der beste Katzennamen der Welt, aber ich habe damals vermutlich für Lil Kim gestimmt. Schade, »Time To Tell« wäre so ein magischer letzter Song für die alte Dame gewesen. FA

Okay Temiz / Johnny Dyani
Witchdoctor's Son
Matsuli • 2017 • ab 26.99€
Einmal hatte ich gerade ganz gute Körperform und ich lag nur in Boxershorts bekleidet unter der Leopardendecke meines Freundes Sascha/Alexander in dessen Bett. Draußen war bitterster russischer Winter, neben uns die Lawalampe, und wir hatten das ganze Wochenende getrunken, trugen die größte Ruhe in uns. Dazu schauten wir »Porno Holocaust«. Ein Film in herrlicher Technicolor auf der ein Monster auf einer Insel Frauen vergewaltigt. Der unglaublich dumm-gutgelaunte Nico Fidenco-Soundtrack ist das Falscheste, was man sich dazu vorstellen kann. Klingt eher wie die musikalische Begleitung zu »Die Kinder vom Süderhof«.PK

Okay Temiz / Johnny Dyani
Witchdoctor's Son
Matsuli • 2017 • ab 26.99€
Ebendieser russische Freund schrieb mir neulich eine E-Mail, eine mega knuffige wie ich finde: »Ich habe auch einige Wochen im August in der Turkei verbracht, nicht am Strand sondern tief in Anatolia, wo es keine Turisten gibt. Es war ziemlich heiß und etwas kompliziert, weil ich kein Türkisch spreche. Dafür gabs haufenweise billige leckere Oliven und Obst.« Billige, leckere Oliven? Ich meine, was will man mehr? Diese Mail ist der Text zum hier beinahe vorgestellten gemeinsamen Song von Okay Temiz und Johnny Dyani.PK

Roni Size / Reprazent
New Forms 20th Anniversary Edition
USM • 1997 • ab 31.99€
Oh, ich sehe gerade, dass Roni Size’ »New Forms« zum 20. Geburtstag eine Neuauflage spendiert bekommt. Und gleich stellt sich mir die Frage: Was ist eigentlich aus Drum’n’Bass geworden? Das spielt leider keine Rolle mehr. Selbst diese Reissue läuft weit unter dem Radar. Dabei war das Mitte der 1990er Jahre ein super großes Thema. Plattenfirmen wettboten um die Besten. MTV platzierte Videos zur besten Sendezeit. In den Lagerhallen der äußeren Bezirke Londons wurden riesige Soundanlagen installiert und viele hundert Menschen verrenkten sich dort am Wochenende wie selbstverständlich zu eben Jungle und Drum’n’Bass die Gelenke. Zurück in Berlin war das Thema nicht mehr ganz so groß. Aber in den Kellergewölben, in denen damals noch die besten Partys der noch uneroberten Hauptstadt stattfanden, ließ sich immer auch ein Winkel für das ambitionierte Dutzend unter den Tänzern finden. Die Wände waren feucht und von den Heizungsrohren vibrierte das Wasser im Zittern des Basses. Und selbst wenn ich mir heute »Brown Paper Bag« anhöre, ein auf 9 Minuten Länge bis auf das kleinste Dängeling detailliert durchkomponiertes Stück, klingt das für mich wie ein ziemlich cooler Markstein eines Genres. Darf ruhig ein bisschen mehr gefeiert werden. SH

Beinahe ebenso lange, also 13 Jahre, um genau zu sein, ist es her, dass Errorsmith ein Album herausgebracht hat. »Superlative Fatigue« klingt nun, als hätte man die alte Bettdecke zum Lüften aus dem Fenster gehangen und sei darüber auch gleich in Kontakt mit der Welt gekommen: »Hallo Sascha! Wie war’s in Anatolien? Schon gehört, bei denen im Nebenhaus ist seit Tagen der Klempner. Da ist die Kacke buchstäblich am Dampfen. Hilft nur Abwarten und Ingwertee trinken. Schönes Wochenende noch!«_ SH