Review

FLEE

Benga, A Kenyan Kaleidoscope

FLEE • 2019

Kapital verhält sich anti-gravitional, denn in der Regel fließt es nach oben, statt nach unten durchzusickern. Das gilt auch mit Blick auf die Weltkarte. Wenn also das Kollektiv FLEE in der Einleitung zum Sammelband »Benga, A Kenyan Kaleidoscope« fragt, »wie wir weiterhin lokale, traditionelle Kulturen dokumentieren und herausstellen können, während wir den Aufstieg von neuen digitalen Formen von Alternativkulturen begleiten und aufwerten« können, ist die Frage brisant und selbstkritisch. Denn sie verortet sich geografisch auf der Nutznießerseite. Das in der Schweiz und Deutschland und also dem globalen Norden beheimatete Kollektiv hatte bereits 2017 eine Mini-Compilation mit einem begleitenden Zine veröffentlicht und 2018 eine Ausstellung organisiert. Im Zentrum von FLEEs Arbeit allerdings steht Benga, eine ab den 1940er Jahren im Austausch über den Black Atlantic – kubanische Rhythmen trafen auf kongolesischen Soukous, südafrikanischen Kwela und Einflüssen aus der populären schwarzen Musik der USA – um Nairobi herum entstandene Musikform, die sich heute in ihrer zeitgenössischen Form weiterhin großer Beliebtheit erfreut. Nicht nur in Kenia selbst.

Die in Französisch und Englisch verfasste Anthologie »Benga, A Kenyan Kaleidoscope« schärft die Auseinandersetzung mit dem Genre nun mit einem Werk, das dringende sozialpolitische wie kulturelle (Wieder-)Aneignung, ethisches Sampling, neokoloniale Mechanismen von Digging-Kultur, Authentizitätsdiskussionen und hybride Kulturtheorien in den Vordergrund stellt und daher eher akademisch bis theoretisch agiert. Damit unterscheidet sie in ihrem Ansatz von der Reissue-Industrie, die weniger auf Diskurs statt vielmehr auf Dokumentation, Kontextualisierung oder Personality-Archäologie pocht. Statt Infos zur historischen Genese zu liefern, Major Players hervorzuheben und eine schwammige Magie in der Musik zu beschwören, wird in »Benga, A Kenyan Kaleidoscope« auf etwas mehr als 100 Seiten knallhart problematisiert – obwohl oder gerade weil dabei kenianische Positionen aus der Musikszene selbst in der Minderheit sind. Just a Band-Gründer Mbithi Masya, Bengatronics-Pionier Gregg Tendwa und Joseph Kamaru alias KMRU setzen zwischendurch jedoch wichtige perspektivische Kontrapunkte.

Nicht selten fühlt sich »Benga, A Kenyan Kaleidoscope« wie eine gleichermaßen heterogene wie kohärente Meta-Diskussion an, das aber zurecht. Denn nicht nur hat der Begriff der kulturellen Aneignung in den letzten Jahren an Wichtigkeit gewonnen, auch die generelle Wertschöpfungskrise in der Musikindustrie legitimiert ein Gespräch über die sozialen, ökonomischen und ethischen Implikationen des internationalen Austauschs. Denn nicht nur harte Währung fließt gemeinhin von oben nach unten, sondern auch kreative Arbeit, Ideen und Innovationen – was vor allem in der Musikbranche sichtbar wird, wenn gefühlt der halbe Black Atlantic für Diplos Sample-Datenbank arbeitet. Obwohl »Benga, A Kenyan Kaleidoscope« in seiner Kürze kaum die vielen Probleme der regionellen und traditionellen Kulturproduktion in einer globalisierten und hybridisierten Welt auflösen kann: Wer Benga oder andere afrikanische Musikstile ernst nehmen, sie würdigen und eventuell kreativ auf sie zurückgreifen will, findet darin immerhin die meisten von ihnen als Leitfragen ausformuliert.