Records Revisited: Portishead – Dummy (1994)

22.08.2019
»Dummy«, das Debüt von Portishead aus dem Jahr 1994, musste schon dem Namen nach als Blaupause für den Sound herhalten, womit Bristol eine ganze Weile lang assoziiert werden sollte. Es ist eines der fesselndsten Debüts aller Zeiten.

Die Neunziger waren ein wunderbares Musikjahrzehnt. Gerade seine frühen bis mittleren Jahre verorteten neue Sounds in der Pop-Landschaft, die  sich wiederum selbst fest verorten ließen: Grunge kam aus Seattle, Gangsta Rap aus Los Angeles, Diskursrock aus Hamburg, Autoscootertechno aus Holland – und Trip-Hop aus Bristol.

So weit, so übersichtlich. Musikschreiberlingen kommt die am Atlas orientierte Annäherung an ein Genre sehr gelegen, und erstrecht findigen Marketingleuten, die zum Sound der Stunde gleich noch den vermeintlichen Look/die dazugehörige Attitüde/den herrschenden Spirit seines Ortes verkaufen können. Dabei ist das, wir wissen es, äußerst problematisch, zumindest doof – und schlicht nicht ganz so einfach.

Oder vielleicht doch? Immerhin scheint es sie durchaus zu geben, diese Augenblicke und Umstände, die einem die Verlockung, es sich leicht zu machen, geradezu aufdrängen. Für die Band Portishead wurde der Gattungsbegriff Trip-Hop, der seinerzeit synonym mit dem Bristol Sound gebraucht wurde, erst erfunden. 1994 war das, während der Berichterstattung zum Release ihres Debütalbums »Dummy«, das auf  Go! Beat Records erschien, einem Imprint des Labels Go! Discs. Klar gab´s da schon Massive Attack, die vielen als die wahren Initiatoren des Bristol Sounds gelten, und Smith & Mighty, die deren Debüt EP produzierten. Über einen Kamm scheren kann man sie alle nur schwer. Was sie allerdings gemein haben: Die Stadt. Bristol.

»Dummy« ist ein genre-definierendes, rahmensprengendes Meisterwerk, intensiv verdichtet zu einem schwarzblauen Monolithen, der bis heute unabhängig seiner eben erst definierten Gattung herausragt.

In Bristol leben eine halbe Million Menschen. Die Stadt im Südwesten Englands war einst eine florierende Metropole des Sklavenhandels – was sich mehr oder minder in einer großen afrokaribischen Community niederschlägt. Gerade das Viertel St. Paul beheimatet viele karibischstämmige Menschen. Nicht selten erleben sie Ausgrenzung und Armut, weswegen Bandenwesen und Gewalttaten florieren, was in der von 1994 aus besehenen jüngeren Vergangenheit  z.B. im St. Paul Riot von 1980 kulminierte. Ebenso aber in einer vitalen Szene des künstlerischen Undergrounds. Deren multiethnischen Vertreter verleihen ihrer Einflussvielfalt nicht nur beim jährlichen St. Pauls Carnival Ausdruck, sondern auch in Clubs, Bars und Tonstudios.

In Bristol, wo die ethnische und kulturelle Vielfalt seit jeher blüht, kam der nach ihr benannte Sound nicht gerade aus heiterem Himmel. Gerade das so genannte schwarze Kulturerbe war in Bristol bereits in den 1950er Jahren bedeutsam, als mit der Einwanderungs- auch eine Reggae-Welle brandete. Ab den Siebzigern amalgamierten Künstler wie Mark Stewart, der in Bristol u.a. die Band The Pop Group gründete, karibische Klangwelten zwischen Roots Reggae und Dub mit Funk, Jazz und dem Punk-Ding, das sich von London und Manchester aus verbreitete. Ihr Sound war aufgeladen mit politischen Parolen, was seinerzeit die Straßenkämpfe befeuerte und den Tonfall in den Clubs prägte – und direkt auf das Wild Bunch-Kollektiv abfärbte, einem Sound System, das Industriebrachen und Block Partys beschallte. Oder den Dug Out Club, wo die Sprüher rumhingen, z.B. der damals noch nicht gerade international renommierte Banksy Neben Punk, R&B und Reggae setzte es vor allem auf Ambient und Downtempo Beats.

The Wild Bunch ist der direkte Vorläufer für das, was man heute Bristol Sound nennt. Ihm gehörten sowohl Tricky als auch Robert Del Naja, Grant Marshall und Andrew Vowles an – jene Herren, die wenig später Massive Attack gründeten. Als sie 1991 in den Bristoler Coach House Studios ihr Debütalbum »Blue Lines« produzierten, assistierte ihnen ein gewisser Geoff Barrow, ein junger Kerl aus dem unweit gelegenen Städtchen Portishead. Er versorgte sie mit Snacks, servierte den Fünf-Uhr-Tee. Und bekam die Erlaubnis, in den Aufnahmepausen selbst das Studio nutzen zu dürfen.

Beth Gibbons’ Stimme ist getragen von schwermütiger Eleganz, glasklar und zerbrechlich, zum Bersten gespannt, anmutig und auf diffuse Weise gefährlich.

Langjährig in Musikerkreisen aktiv, war Barrows keineswegs unbedarft im Umgang mit dem Studioequipment – und die Möglichkeit, Del Naja und Co. beim Aufnehmen über die Schultern zu schauen, war sicher von unschätzbarem Wert, als es darum ging, eigene musikalische Visionen in eine Form zu bringen. Zudem war er vor seiner Anstellung als Tonassistent Drummer mehrerer Bands und DJ in Hip Hop Crews. Er zehrte aus einem breiten subkulturellen Background beim Entwickeln seines Sounds. In Albumlänge erblickte dieser anno 1994 das Licht der Welt. Das einer düsteren, nebelverhangenen Traumwelt eines Studio-Manikers, durch die sich ihr eigenes Licht erst bahnen muss, um dann umso gleißender zu strahlen: Portisheads Debütalbum »Dummy« war geboren.

_»I just wanted to make interesting music, proper songs with a proper life span and a decent place in people’s record collections«, erklärte Barrows rückblickend dem NME. Nun: Das ist ihm gelungen. »Dummy« ist ein genre-definierendes, rahmensprengendes Meisterwerk, intensiv verdichtet zu einem schwarzblauen Monolithen, der bis heute unabhängig seiner eben erst definierten Gattung herausragt. Als Debütalbum geht es direkt als Lebenswerk in die Annalen ein. Als Musikalbum gewordener Film Noir, der fesselt, verführt, betört und verstört.

Wie jeder Film Noir brauchte auch »Dummy« seine Femme Fatale. Barrows fand sie in einer Bristoler Bar in Form von Beth Gibbons Gibbons wuchs auf einer Farm auf und strandete einige Jahre zuvor in Bristol, um eine Karriere als Sängerin anzutreten. Die schicksalhafte Begegnung brachte zusammen, was zusammengehört: Atmosphärische, in tiefes Schwarz getauchte Tracks, die wie aus einem Guss zu sein scheinen, und eine Stimme, die unerhört sehnsuchtsvoll und tieftraurig wimmert, fleht, klagt und schreit.

Beth Gibbons’ Stimme ist getragen von schwermütiger Eleganz, glasklar und zerbrechlich, zum Bersten gespannt, anmutig und auf diffuse Weise gefährlich. Sie adelt Barrows Tracks, deren Club-Appeal eng in einen klaustrophobischen Mantel gehüllt ist, zu hypnotischer Nachtclubmusik. Zum Soundtrack für jene bedrohlich-interessanten, halbseidenen Lokale, deren hochglänzendes Interieur abseitige Gestalten beherbergt und wo man nie genau weiß, wie die Nacht enden wird.

Entrückter und verzückender als »Dummy« hat kaum ein Album die Grenzen zwischen Eros und Thanatos luzide werden lassen.

Nachdem das Aufeinandertreffen von Barrows und Gibbons schon das unerhörte Ereignis einer musikalischen Novelle war, bedurfte es zur Abrundung der Band Portishead schließlich Connections, Skills und Begeisterung – und eben weiterhin Bristol als Samenspender, Geburtshelfer und Inkubator. Jazz-Gitarrist Adrien Utley, der sich in Bristol als Studiomusiker verdingte, wurde flux zum dritten Bandmitglied. Sein Gitarrenspiel ist von filmischer Intensität, für das gut und gerne der altehrwürdige Morricone hätte Pate stehen können. Und obwohl es manchmal lediglich kurz aufblitzt, sich nur flüchtig erhebt, um sich dann gleich wieder aus den Tonspuren zu schleichen, bestimmt es doch die eigenwillige Atmosphäre von »Dummy« maßgeblich mit. Dass Utley nebenher noch für mehrere Tracks die Basssaiten anschlägt, Streicher arrangiert, das Album gleich im Opener mit der Theremin gen fluider, der Schwerkraft enthobener Sphären entschweben lässt und die Hammond Orgel für die unsterbliche »Glory Box« spielt: Unbezahlbar. Geschenkt.

Die Instrumentierung verdichtet sich mit Barrows akzentuiertem Turntablism und den Samples, die zwischen Weather Reports Jazzrock, Isaak Hayes’ Soul und Lalo Schifrins vor Suspense knisternder Filmmusik fein austariert werden, zu stoisch brodelnden Beat-Kolossen.

Portishead
Dummy
Go! Beat • 1994 • ab 20.99€
Die Tracks von »Dummy« sind wuchtig und filigran zugleich. Sie scheinen in sich zu ruhen, vermitteln allerdings konsequent den Eindruck, als stünden sie kurz für dem Aufbruch.

Vollendet mit dem bittersüß vorgetragenen Weltschmerz und der vagen Hoffnung, die Gibbons über ihm schweben lässt, leuchtet einem unmittelbar ein, warum hier jemand eine Vokabel wie Trip Hop bemühte. Entrückter und verzückender als »Dummy« hat kaum ein Album die Grenzen zwischen Eros und Thanatos luzide werden lassen. Ob das bahnbrechende Debütwerk nun ein Aushängeschild oder eine weitere Initialzündung für Bristol Sound – oder gar dessen Blaupause – ist, ist da ganz egal. Zumal und obwohl »Dummy« bereits mit seinem Albumtitel, als Stellvertreter gelesen, für all das herhalten kann.


Die Schallplatten von The Magnetic Fields findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/indierock-alternative/i:A15946_215763D2N73S6U9.)