Muriel Grossmann – Abstraktion mit Blick aufs Meer

14.05.2020
Foto:Christoph Schubert © Jazzman
Die Saxofonistin Muriel Grossmann kommt auf den Balearen zur Abstraktion, reitet mit Hard Bop die Wellen und bringt sogar Milliardäre aus der Fassung. Wer ist die heimliche Pionierin des spirituellen Revivals?

Ibiza sei keine Anti-Jazz-Insel, im Gegenteil, sagt Muriel Grossmann. Die Saxofonistin lebt seit über 17 Jahren auf der Baleareninsel. Direkt am Meer, zwischen Zitronenbäumen und einem Hühnerstall, weit entfernt von den hektischen Jazzmetropolen in London und New York. Ein Ort, an dem sie an ihrer Interpretation des spirituellen Jazz der 1960er Jahre feilt, ihn decodiert und als unbekannte Vorreiterin von Szenegrößen wie Shabaka Hutchings oder Kamasi Washington in Post-Coltrane-Manier neu verdrahtet. »Großstädte haben ihren Vorteil, aber es hängt auch davon ab, in welcher Phase des Lebens du dich befindest«, so Grossmann. Ihre Lebensphase lebt nicht von Geschwindigkeit des Urbanen und futuristischen Häuserschluchten, sondern vom Blick aufs Meer, der Vegetation und Vielfältigkeit der Inselkultur. »Hier wohnen Leute, die sich gerne zurückziehen, um in sich zu gehen. Das prägt mein Schaffen.«

Muriel Grossmann kommt 1971 in Paris auf die Welt, wächst in Wien auf und zieht Anfang der 2000er nach Barcelona. »Es war großartig«, sagt sie. »Ich habe viel gespielt, aber ich wollte mich niederlassen.« 2004 bekommt sie die Möglichkeit, eine Sommerresidenz im mittlerweile geschlossenen Teatro Pereyra zu spielen. Grossmann reist für die Sommermonate an – und bleibt. Ibiza habe sie mit stetiger Arbeit versorgt. Sie konnte eine Familie gründen. Und natürlich seien da diese Winter, »wo man nur am Klavier sitzt oder das Horn nehmen kann und die Musik einfach herausfließt.« Dieses Fließen beginnt im Moment ihrer Ankunft. Grossmann lernt den Jazz-Pianisten Joachim Kühn kennen. Er, der Ibiza einst als Anti-Jazz-Insel bezeichnete, lädt sie ein in sein Studio, wo sich Musiker wie Christian Lillinger, Robert Landfermann und Wolfgang Reisinger tummeln – allesamt Persönlichkeiten, die Jazzstandards wie Wellen reiten, im Moment aufgehen und Grossmann in ihren eigenen Visionen bestärken.

»Das Sichtbare ist nur ein anderer Informationsbereich des Hörbaren.«

Muriel Grossmann

2007 veröffentlicht Muriel Grossmann mit »Homecoming Reunion« ihr erstes Album. Seitdem sind acht weitere CDs auf ihrem Label Dreamland Records erschienen. Ohne episches Brimborium, sondern fast schon übertrieben untertrieben via Bandcamp. Erst als das estnische Label RR Gems 2018 auf sie aufmerksam wird und mit »Golden Rule« ein Album auf Vinyl presst, schnellen die Suchanfragen nach oben. »Es ist großartig, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die Vertrauen und eine tiefe Verbindung zu unserer Musik haben, um die Dinge entsprechend meiner Vision umzusetzen und darüber hinauszugehen«, sagt Grossmann. Das britische Magazin UK Vibe kürte die Platte zum Album des Jahres Gilles Peterson legte ihre Musik auf, die Leute begannen, ihren Back-Catalog zu durchstöbern.

Das Schaffen von Muriel Grossmann verfolgt seit der Veröffentlichung von »Earth Tones« im Jahr 2015 denselben Fokuspunkt: Musik als Abstraktion, als komplexe Form der Kommunikation. »Elevation«, das jetzt auf dem renommierten Jazzman Records erscheint, sei eine Fortführung dessen, eine Zusammenstellung von Stücken, die bereits auf »Natural Time« und »Momentum« zu hören waren. »›Elevation‹ zeigt deutlich, dass alles eins ist«, so Grossmann. Die Stücke der Vergangenheit ließen sich zu neuen Platten zusammenstellen,

Muriel Grossmann
Elevation
Jazzman • 2020 • ab 23.99€
ohne dass sie eine andere Geschichte erzählen, weil sie zum Teil derselben Phase geworden seien. Eine Phase, die sich auch anhand der Cover-Artworks nachzeichnen lässt. »Manchmal male ich das Bild direkt zur Musik. Oder ich wähle die Malerei zur Musik aus.« Während ihre Kinder mit Händen und Füßen mitschmieren, wirkt sich der Blick aus ihrem Garten auf die Stimmung aus. »Das Sichtbare ist nur ein anderer Informationsbereich des Hörbaren«, sagt Grossmann.

Es ist der Kontrast zwischen Hell und Dunkel, dem Sichtbaren und Hörbaren, der Grossmanns polyrhythmische Facetten ausmacht, ihn einrahmt und damit neu kontextualisiert. Die milden Winter verbringt sie im Studio, den Sommer über spielt sie Konzerte.

Schließlich verbringen berühmte Leute aus Film, Sport und Wirtschaft ihren Urlaub auf der Insel – »sie wollen Jazz«, sagt Grossmann, die in der Sommersaison an fünf Tagen in der Woche im Fünfsternehotel bei Cipriani’s Downtown auftritt. »Ich erinnere mich, wie einmal der Besitzer des Bellagios und Mirage in Las Vegas, Steve Wynn, auf mich zukam, um zu fragen, ob wir als Band ›Take Five‹ spielen könnten. Wir konnten. Er stand zuerst sprachlos da und sagte dann zum Besitzer, was für eine Killerband er engagiert habe. Der erwiderte trocken: ›Ich weiß, deshalb habe ich sie all die Jahre jeden Tag‹. Steve Wynn kam am nächsten Tag zurück und buchte den Tisch direkt neben der Band.«_


Die Schallplatten von Muriel Grossmann findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/muriel-grossmann-jazz-fusion/i:A158974D2N48S6U9.)