Bibio – Abstrahierte Realität

04.04.2011
Foto:Warp Records Ltd.
Stephen Wilkinsons Herangehensweise an elektronische Musik bleibt einzigartig tiefgreifend. Philipp Kunze traf sich mit dem introvertierten Engländer, um über dessen Musik und seine Hintergründe zu reden.

Die Stimmen, die heute noch behaupten elektronische Musik hätte weder Seele noch Herz, sind nahezu verstummt. Und trotzdem bleibt Stephen Wilkinsons Herangehensweise an elektronische Musik einzigartig tiefgreifend. Auf Mush veröffentlichte er als Bibio die Alben Fi , Hand Cranked und Vignetting The Compost . Sie zeichneten Umrisse, skizzierten Ausschnitte und zeigten in ihrer strukturlos wirkenden Vagheit, doch immer genau eines – das Leben in seiner Diversität. So abgedroschen das auch klingen muss, so war es doch immer das erklärte Ziel des Briten die Natur einzufangen um sich dadurch letztlich selbst auszudrücken. Dazu ging er stundenlang in den Wald um Geräusche aufzunehmen und erschuf danach tagelang in seinem Studio eine Mischung aus irdischen Klangfetzen, elektronischer Aufnahmegeräte und seiner eigenen Stimme. Mit dem Wechsel zu Warp kamen die Befürchtungen auf, Bibio hätte das Glitzern der Sonne in seinen Augen, mit dem Glitzern des Geldes eingetauscht. Der Künstler selbst hingegen betonte immer wieder, dass es ein Schritt des Herzens gewesen sei, er habe Warp immer bewundert. Mit Ambivalence Avenue erschien auf dem ruhmreichen britischen Label dann tatsächlich das Album, das ihm die Aufmerksamkeit neuer Fans verschaffte, ohne dass die Anerkennung alter Fans darunter gelitten hätte. Ein selbstbewusstes, positives Album. Sommerliche Lebensfreude hatte die herbstliche Melancholie früherer Werke verdrängt. Bibio nahm die Skizzen der früheren Alben, führte sie weiter und packte sie in unterschiedlichste Stilrichtungen. Auf Mind Bokeh liefen diese nun zusammen und bilden Songs mit klareren Strukturen. Gleichzeitig wurde der lichtdurchflutete Vibe des Vorgängers durch eine nächtliche Schummrigkeit eingetauscht. Grund genug den introvertierten Engländer zu treffen und mit ihm über seinen musikalischen Werdegang zu sprechen. Eine Entwicklung die er nie von seinem persönlichen, inneren Wachstum trennen kann, was aus einem Interview über elektronische Musik, auch ein Interview über, äh ja, das Leben gemacht hat.

Dein neues Album heißt Mind Bokeh. »Bokeh« ist ein Wort aus der Fotographie, was bedeutet es genau?
Bibio: Also Boke ohne »h« ist ein japanisches Wort. Es heißt soviel wie Verschwommenheit, oder Trübung. Es kann auch Demenz bedeuten. Ich glaube, dass das mit Verschwommenheit zusammenhängt, weil alte Leute, die darunter leiden nicht mehr richtig denken können. Aber Bokeh mit »h« ist ein Terminus aus der Fotografie, der sich auf die unscharfen Bereiche eines Fotos bezieht. Also wenn du kleine Bereiche in der Bildtiefe des Motivs hast, die unscharf sind, während andere scharf sind. Wenn du zum Beispiel ein Foto von einer Blume machst, und die Schärfe auf diese einstellst, dann wird der Rest unscharf. Diesen Effekt nennt man Bokeh. Es ist ein Terminus, für den sich Fotografen sehr interessieren, weil der scharfe und der unscharfe Bereich sich gegenseitig beeinflussen.

»Alan Watts hat darüber geredet, wie wir uns auf unser Bewusstsein verlassen – und Bewusstsein ist so etwas wie konzentrierte Aufmerksamkeit. Wenn du dich also auf etwas konzentrierst, dann fokussierst du deinen Geist darauf. Mich hat also interessiert, was passiert, wenn dir einer Sache nicht bewusst gegewärtig ist.«

Bibio
Die Bewertung dieses Einflusses ist sehr subjektiv, oder?
Bibio: Ja, man kann es nicht abmessen, oder in Zahlen ausdrücken. Es hat etwas mit dem subjektiven Qualitätsgefühl zu tun, sei es nun gut, weich, oder was auch immer. Aber manchmal wird »Bokeh« auch bei anderen fotografische Darstellungen benutzt: Nimm zum Beispiel den Film Taxi Driver: Im Intro fährt Robert De Niro im Taxi umher und die Kamera ist im Taxi, auf ihn scharf gestellt, während man außerhalb des Taxis die Lichter der Stadt und die Ampeln sieht, aber sie sind alle unscharf und erscheinen nur als Punkte.

Wie kann man dieses Prinzip auf deine Musik anwenden?
Bibio: Ich habe immer gemocht, so etwas in Filmen zu sehen. Weil du so etwas natürlich normalerweise nicht mit deinen Augen sehen kannst, es ist nichts Natürliches. Das hat mich immer sehr angezogen, weil es irgendwie abstrakt ist, aber eigentlich ist es abstrahierte Realität. Das ist also das Interesse vom Visuellen her. Gleichzeitig interessiere ich mich auch sehr für Philosophie und Psychologie. Alan Watts hat darüber geredet, wie wir uns auf unser Bewusstsein verlassen – und Bewusstsein ist so etwas wie konzentrierte Aufmerksamkeit. Wenn du dich also auf etwas konzentrierst, dann fokussierst du deinen Geist darauf. Mich hat also interessiert, was passiert, wenn dir einer Sache nicht bewusst gegewärtig ist. Und ich meine nicht besoffen, oder auf Drogen – es mehr ein meditativer Zustand. Manchmal wache ich morgens auf und für ein paar Sekunden, sehe ich die Dinge an mein Fenster sehr anders als gewöhnlich – es ist sehr mysteriös und sehr inspirierend, aber dann plötzlich platzt meine normale Persönlichkeit dazwischen und ich erinnere mich wieder an all die Dinge, die ich noch erledigen muss. Der Titel Mind Bokeh hat also vielseitige Bedeutungen, aber Bokeh des Geistes bezieht sich auf einen Zustand von Unbewusstsein, in dem man nicht mehr in Wörtern oder Symbolen denkt. Man erlebt einfach nur.

Ich hatte immer das Gefühl, dass deine Alben einen starken philosophischen Hintergrund hatten. Vignetting The Compost hat sich zum Beispiel sehr sehnsüchtig, sehr melancholisch angefühlt, während Ambivalence Avenue stärker, leichter wirkte und außerdem viel mehr mit Stilen experimentiert hat. Mind Bokeh ist bisher dein urbanstes Werk.
Bibio: Ja es hört sich hangemachter an und das war auch meine Intention. Ambivalence Avenue war sommerlicher, mehr outdoors – bei Mind Bokeh war der Grundgedanke, ein Album zu machen, bei dem ich an die Nacht in einer Stadt denken musste. Eine synthetischere Welt aus farbigen Abstrakten.

Ich hatte diesen Eindruck.
Bibio: Das freut mich. Es ist schön, wenn eine Idee in Musik übertragen wird. Tatsächlich ziehen sich die Themen die ich benutze durch alle meine Alben. In Vignetting The Compost ging es mehr als um alles andere, um Leben und Tod. Alleine der Titel: »Compost«, Material das verfault, tot ist, dann aber die Nahrung für neue lebendige Dinge wird. Ein immerwährender Zyklus ohne Anfang und Ende. Und die Idee das zu vignettieren – wiederum ein Begriff aus der Fotografie – war es einen kleinen Auschnitt davon darzustellen, der sich an den Ecken auflöst. Dadurch wollte ich winzige Szenen zeigen, wie all diese alltäglichen Dinge, die wir für langweilig halten, die aber wirklich schön sind, wenn man sie richtig betrachtet. Nach diesem Album wollte ich dann aber längere Tracks machen und auf Mind Bokeh hab ich die Vignetten noch weiter herausgenommen, dadurch ist so etwas entstanden wie ein solider Track, eine Lücke, der nächste solide Track. Ich denke, dass ich es mag Alben zu kontrastieren.

Findest du es nervig und oberflächlich, oder fühlst du dich in deiner musikalischen Vision verstanden, wenn deine Musik auffällig oft mit Etiketten wie »organisch«, »Natur«, oder »Folk« betitelt wird?
Bibio: Die meiste Zeit fühlt es sich oberflächlich an, weil es immer davon abhängt über was genau jemand redet. Wenn jemand über meine Alben Fi und Hand Cranked redet, dann könnte ich diese Beschreibungen akzeptieren, weil diese Alben recht »folky« und von der organischen Welt inspiriert waren. Was dann aber passiert ist, dass Leute die Begriffe kopieren, die andere für meine ersten Alben benutzt haben. Wenn Leute also heute diese Begriffe verwenden, dann denke ich mir: »Nenn mir einen Track, der nach Folk klingt, ich denke nicht, dass es einen gibt«.
Ich glaube einfach, dass Leute dazu neigen Dinge mit »Folk« zu betiteln, die eine elektrische Gitarre beinhalten. Und ich denke mir »nein es ist definitiv kein Folk, es gibt nicht besonders viele Folk Songs mit einem Synthbass und einer Drum Machine«.

» Ich glaube, dass sich die Leute immer mehr für solche Sachen interessieren, weil die elektronische Musik lange sehr starr und präzise war. Nach einer Zeit wird es ermüdend diese geradlinigen Beats zu hören, den Leuten fehlt die menschliche Note. Ich mache dieses »out of time« Hip Hop-Ding jetzt auch schon eine längere Zeit, weil ich Madlib und J Dilla gehört habe, die mit Zeit und Rythmus herumspielten.«

Bibio
Ist ein Song wie Take Off Your Shirt , der sehr ungewöhnlich für dich ist, etwas, dass du gerne öfter machen würdest, oder war es mehr ein einmaliges, aber erholsames Experiment?
Bibio: Ich nehme an im Endeffekt war es eher wie ein einmaliger Urlaub. Der Track reflektiert wiederum meine Einflüsse wie Daft Punk oder French House wie Alain Braxe. Außerdem habe ich diese Rockeinflüsse aus Kindheitstagen. Weißt du, es war einer dieser Tage, wo ich einfach die E-Gitarre gepackt habe, abgerockte habe und nicht erwartete, dass das Ganze auf ein Album gelangen würde. Als ich es dann aber Leuten vorgespielt und sehr gute Rückmeldung bekommen habe, habe ich mich entschieden es aufs Album zu packen. Ich war mir absolut bewusst, dass Leute denken würden »was ist das, es hört sich unpassend an«, weil ich all diese Dinge anfangs selber dachte, aber dann fand ich diese Einstellung sehr konservativ – es ist alles Musik für mich, es ist mir egal, was damit assoziiert wird. Je mehr du es dir im Kontext des Albums anhörst, desto mehr gewöhnst du dich daran, dass es da ist. Klar, erst werden die Leute es merkwürdig finden. Aber nur weil es so vertraut klingt, es hat die verzerrte Gitarre, den treibenden Beat. Aber es ist so ziemlich eine einmalige Geschichte, es ist kein Beispiel dafür wo ich mich musikalisch hinbewege.

Das finde ich ehrlich gesagt gut so. Anderen Songs des Album, wie Excuses, auf denen Electronica mit Elementen aus dem Hip Hop gemischt werden, klingen dagegen eher ein bisschen wie Letherette, von denen du immer sehr wertschätzend sprichst.
Bibio: Ich bin tatsächlich sehr gut mit ihnen befreundet. Ich kenne sie seit dreizehn Jahren. Wir haben die Musik also gemeinsam entdeckt. Es ist nicht der Fall, dass ich von Letherette beeinflusst worden wäre, wir teilen einfach die gleiche Art von Einflüssen. Ich mag deren Musik wirklich. Ich mag auch J Dilla und so – es ist wirrer, chaotischer, groove orientierter, hat diese menschlichen Elemente und klingt nicht so perfekt, dadurch, dass es auf einer MPC eingespielt wurde. Ich glaube, dass sich die Leute immer mehr für solche Sachen interessieren, weil die elektronische Musik lange sehr starr und präzise war. Nach einer Zeit wird es ermüdend diese geradlinigen Beats zu hören, den Leuten fehlt die menschliche Note. Ich mache dieses »out of time« Hip Hop-Ding jetzt auch schon eine längere Zeit, weil ich Madlib und J Dilla gehört habe, die mit Zeit und Rythmus herumspielten.

Ich hatte neulich die Disskusion, ob es in Ordnung sei, wenn Musiker »in der Zeit zurückreisen« und alte Alben remastern oder sogar Dinge ändern und das Album dann re-releasen. Könntest du dir vorstellen das irgendwann mit deinen Alben zu machen?
Bibio: Äh, ich glaube ich mache lieber weiter. Ich lasse die Alben lieber wie sie sind und konzentriere mich auf die nächste Sache. Okay, ich würde gerne zurück in die Sechziger um in dieser Zeit ein Studio zu benutzen. Ich mache außerdem ganz gerne Cover-Versionen oder Remixe. Ich habe ein Remix für meinen eigenen Song The Palm Of Your Wave gemacht, aber alles in allem, entwickele ich lieber neue Dinge, weil meine Alben gleichzeitig auch meine Tagebücher sind. Natürlich hören das Leute und kennen mich nicht und so, aber wenn ich mir zum Beispiel Fi anhöre, dann erinnere ich mich an die Zeit, als ich es geschrieben habe und wo ich in dieser Zeit gelebt habe. Auf diese Erinnerungen möchte ich nicht störend einwirken. Außerdem gibt es einfach viele neue Dinge, die ich noch entdecken will.