Zur Rückkehr des politischen Soul – Das menschliche Maß

02.11.2012
Dieser Tage erscheinen eine ganze Reihe von Soul-Platten, die jeglicher Nostalgie trotzen, sondern vielmehr ihre zwingende Notwendigkeit und Aktualität unter Beweis stellen. Wir haben das zum Anlass genommen zurückzublicken.

Soul ist zurück. Seit Ende der 1990er Jahre findet immer mehr Soul-Musik ihren Weg zurück in das Bewusstsein einer Generation, die keinen biografischen Kontakt mehr mit den goldenen Zeiten jener Musikform hat, die als die letzte große Ausformung der weltlichen Gesangskunst gelten kann. Die neue Generation wendet sich wieder dem Soul zu und da ist schnell die Rede von Retro, Revival und der Sehnsucht nach handgemachter Musik in Zeiten sozialer Kälte und da die großen Popstars vor allem das neue iPhone und der neue iPod sind. Um der Kraft dieser Musik und ihrer erneuten Popularität jedoch gerecht zu werden, reichen diese Begriffe kaum aus. Denn Soul ist vor allem auch wieder eins: politisch. Dass der re-politisierte Soul ein Vakuum ausfüllt, das weit mehr ist als eine sich in Nostalgie erschöpfende Mode, wird erst verständlich, wenn wir ins Jahr 1964 zurückblicken, in dem am 12. Dezember der große Sam Cooke einen erbärmlichen Tod auf dem Fußboden der Rezeption eines Stundenhotels starb, jedoch nicht ohne vorher noch die folgende Zeile aufgenommen zu haben: »It’s been a long time coming/ But I know a change is gonna come«.
Mit diesen Worten gelang Sam Cooke (und es gehört zu den tragischen Anekdoten der Popgeschichte, dass er selbst dies nicht mehr mitbekommen sollte) die endgültige Säkularisierung des Erlösungsversprechens des Gospels, aus dem der Soul hervorgegangen war. Es war der finale Tusch für die Politisierung einer Kunstform und der Song avancierte kurz nach seiner Veröffentlichung zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung. Schon zuvor war ihm der Spagat zwischen wohligem Pop und sozialkritischem Inhalt mit »Chain Gang« gelungen. Das Säkularisierungsbestreben des Soul war jedoch längst nicht auf das Politische beschränkt. »Ganz ähnlich wie der Soul zuvor schon die Liebe zu Gott auf den Boden geholt hatte, auf dem Frauenbeine wandeln, säkularisierte Cooke nun auch die Politik des Gospel«, schrieb Tobias Rapp in seinem Nachruf zum 40. Todestag in der taz. Die Sehnsüchte und Hoffnungen wurden damit nicht länger ins Jenseits und auf Gott projiziert, sondern plötzlich greifbar und somit auch erreichbar. Als Ray Charles 1954 in »I Got A Woman«, dem Prototypen der Soul-Musik, singt »She’s there to love me, both day and night, (…), always treats me right« dann kommt das der christlichen Vorstellung von einem Gott schon sehr nah und es spricht für sich, dass der Song sich bei »It Must Be Jesus« von den Southern Tones bedient. Es bleibt also offen, ob es sich am Ende um eine Sexualisierung von Religion oder um eine Säkularisierung des Sex handelt, der Bezug jedoch ist von enormer Bedeutung für die spätere Politisierung.

»Dass SängerInnen wie Erykah Badu, Jill Scott oder Anthony Hamilton wieder politische und gesellschaftskritische Texte ins Spiel bringen, kann als zyklische Rückbesinnung verstanden werden«

Jonathan Fischer
»It’s been a long time coming/ But I know a change is gonna come«. Die Veränderung war greifbar geworden, im Hier und Jetzt und nicht mehr in einer zukünftigen Phantasie von Erlösung. Während die Bürgerrechtsbewegung in den Fünfzigern noch in Form von zivilen Ungehorsam stattfand, war sie spätestens seit Martin Luther King’s March on Washington sichtbar. Soul und die Bewegung hatten einen permanenten gegenseitigen Einfluss aufeinander und desto mehrheitsfähiger die Forderungen wurden, desto stärker waren auch die politischen Implikationen der Musik. Kaum ein Plattenlabel repräsentierte dabei diese Beziehung so sehr wie Stax Records – wohlgemerkt ohne dabei jemals ein Wort darüber zu verlieren. Nachdem Sam Cooke sie endgültig salonfähig gemacht hatte, gehören politische, sozialkritische Botschaften ab Mitte der Sechziger von Sly & The Family Stone’s »Everyday People« (1968) über Aretha’s Franklin »Respect« (1965) und James Brown’s »Say It Loud (I’m Black I’m Proud)« (1968) bis hin zur endgültigen Ankunft im Mainstream mit Marvin Gaye’s »What’s Going On« 1971 zum Alltag und Selbstverständnis des Soul. Allen voran aber trug Curtis Mayfield zur Verankerung dieser Themen in afroamerkanischer Musik von R’n’B bis Funk bei. Mit »Keep On Pushing« (1964), »People Get Ready« (1965) schuf er nicht nur zwei Klassiker unter den Protestsongs, sondern lieferte mit »We’re a Winner« (1967) auch einen definierenden Track des Black Power Movement.
In den Siebzigern war es vor allem der Funk, der dieses neue radikalisierte Movement begleitete, sich aber im Gegensatz zum Erfolg der Bürgerrechtsbewegung zunehmend in Unwegsamkeiten verirrt und so spätestens in den Achtzigern musikalisch mehr und mehr im unpolitischen Disko aufgeht. Denn auch das hatte Soul vorangetrieben: Die Kommerzialisierung von afroamerikanischer Musik.
Ab den 1970er Jahren wird das politische Vakuum zunehmend vom Hip Hop gefüllt, für den Soul v.a. lyrisch den Grundstein gelegt hat. »The Revolution Will Not Be Televised« von Gil Scott-Heron ist hierbei wegweisend und markiert den Übergang. Spätestens mit Public Enemys Auftritten in den Achtzigern hat der Hip Hop die Themen der Einforderung von Gleichheit und Gerechtigkeit vollkommen übernommen. »In den 1980er Jahren gab es im Mainstream eine konservative Gegenreaktion zu den Protestkulturen der Sechziger und Siebziger Jahre«, sagt Pierre Chrétien vom Souljazz Orchestra und Jonathan Fischer, Journalist und Herausgeber zahlreicher Soul-Compilations fügt hinzu: »Die Unterhaltungsindustrie förderte seit den 1970er Jahren fast ausschließlich unkritische, konsumfreundliche Inhalte. Es galt das Gebot des Crossover für einen maximalen, vor allem weißen Markt – wenn überhaupt, dann waren politische, afroamerikanisch geprägte Botschaften bestenfalls stark verwässert zu verkaufen.«

Die Antwort des Hip Hop auf die aufgegriffenen sozialkritischen Forderungen ist ab Ende der 1980er Jahre und vor allem dann in den 1090er Jahren jedoch zunehmend eine private und wirtschaftliche: Das System erlaubt keine Gleichstellung, doch man kann immer noch Regeln adaptieren und einfach selbst mehr Geld anhäufen als die ehemaligen weißen Unterdrücker. Die großen wirtschaftlichen Imperien im Hip Hop entstehen und der zeitgenössische R’n’B erschöpft sich zunehmend in von der gesellschaftlichen Realität entfremdeten Sex- und Luxusfantasien. So ist es kein Zufall, dass politischer Soul genau dann zurückkehrt als Ende der 1990er Jahre die Kommerzialisierung des Hip Hop vollendet scheint. »Dass SängerInnen wie Erykah Badu, Jill Scott oder Anthony Hamilton wieder politische und gesellschaftskritische Texte ins Spiel bringen, kann als zyklische Rückbesinnung verstanden werden«, sagt Jonathan Fischer.
Das erneute inhaltliche Vakuum (zumindest im Mainstream) macht den alten Ansatz des Soul plötzlich wieder aktuell. Er knüpft an das nicht eingelöste Versprechen von Gerechtigkeit und Gleichheit an und dieses ist im Amerika in Post-Cold War-Zeiten in einer Auseinandersetzung zwischen Einkommensklassen und weniger zwischen Rassen zu finden. Soul hat nie nur afroamerikanische Unterdrückung thematisiert, sondern stets humanistische Prinzipien behandelt, die durch die permanente thematische Parallelität von Liebe und Gerechtigkeit universell und rassen- und klassenübergreifend waren. »Sein Expressionismus, dieses Mitfühlen mit den tiefsten menschenmöglichen Enttäuschungen und Hoffnungen bleibt deshalb jenseits aller zeitgeschichtlicher Kontexte aktuell. Das Comeback des Soul beruht wohl auch auf der Sehnsucht nach einem menschlichen Maß, einer universellen Empathie – inmitten einer Welt, der diese immer wieder abhanden zu kommen droht«, formuliert es Jonathan Fischer treffend.

»They are looking for the truth, man, they are looking for the truth«

Charles Bradley
Der neue politische Soul nimmt sich zunehmend allen Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklungen an und beschränkt sich nicht mehr auf den Befreiungsgedanken einer gesellschaftlichen Minderheit. Während der Soul der 1960er und 1970er Jahre politische Empörung v.a. aus der alltäglichen privaten Erfahrung (»Don’t Call Me Nigger, Whitey«) generierte, ist bei Songs wie Antibalas’ »Dirty Money« oder »Solidarity« von The Souljazz Orchestra die Auseinandersetzung ganzer Klassen stärker im Fokus der Texte. »We Are The 99%« wird in den 2010er Jahren zum Schlachtruf der Occupy-Bewegung und drückt eine neue, alte Gräben übergreifende, Betroffenheit aus. Diese drückt sich auch in einem Soul aus, der über das persönlich-biografische hinausgeht und nicht nur deswegen eine plötzlich wieder zwingende Aktualität hat. Dabei knüpft er an eine Hoffnung an, die seit Sam Cooke eine Verantwortung bedeutet und ohne Musikern ein erzieherisches und politisches Mandat zuzusprechen, lässt sich die Sehnsucht nach dem Ausdruck dieser gemeinschaftlichen Erfahrung, die Sehnsucht nach einem Bezug von Musik zu einer emotionalen Realität, die jenseits persönlicher Schicksale eben auch immer eine zeitgenössische und geteilte ist, feststellen.
Alte Größen wie Curtis Mayfield oder Gil Scott-Heron werden von der jungen Generation wieder entdeckt. »Ihre Kommentierung gesellschaftlicher Missstände wird als aktuelle Notwendigkeit erlebt«, meint Jonathan Fischer zur neuen Relevanz alter Wahrheiten. Und bei Bands wie Antibalas, dem Souljazz Orchestra, der Menahan Street Band, aber auch neuen R’n’B-Größen wie zuletzt Frank Ocean, lässt sich diese Notwendigkeit wiederfinden. Ende der 1990er Jahre meldetet sich Curtis Mayfield mit »It’s A New World Order« und »We Need To Get Back To Livin Again« zurück und erinnerte daran, dass eben jene empathische Empörung eine Kraft hat, die beinahe vergessen worden war. Und fünfzehn Jahre später gehört ein Charles Bradley mit über 60 Jahren plötzlich wieder zu gefragten Predigern dieses menschlichen Maßes. Auf die Frage, warum nun eigentlich junge Menschen eine Musik hören, die doch stilistisch so gar nicht zeitgenössisch zu sein scheint, antwortet er ohne Umschweif: »They are looking for the truth, man, they are looking for the truth«