Zwölf Zehner – Oktober 2012

12.11.2012
Willkommen im November. Doch vorher lassen unsere Kolumnisten vom Dienst den Monat Oktober musikalisch Revue passieren und destillieren in ihrer Kolumne Zwölf Zehner die wichtigsten zehn Tracks des Monats.
Es ist das erste Mal, dass wir vom Leitprinzip dieser Kolumne abweichen und nicht ausschließlich neue Stücke präsentieren. Denn kein Song hat uns in den vergangenen Monaten dermaßen gepackt, berührt, geschmeichelt und sich als legitimer Nachfolger des Pina Colada Songs in unsere Herzen gespült wie Yamashita Tatsuros 1983 erschienenes rührseliges »Merry-Go-Round«. Den hübschen Swimmers haben wir zu danken, die diesen herzergreifenden J-Funk-Boogie in ihrem fulminanten Boiler-Room-Auftritt zum Abschluss spielten und der uns unisono mit Gänsehaut erstarren ließ. Zwei Wochen und etliche Google-Recherchen später erlöste uns dann die Kommentarsektion des Boiler Rooms und bezeugte die Identität unseres neuen Lieblingslieds, das seitdem auch alle unseren sozialen Kanäle pflastert. Es geht um Liebe und wir sind bereit, diese zu teilen. Round and Round.Die Platte ist natürlich, auch bei horrenden Discogs-Preisen, längst besorgt, so gehört dieser ultimative Feelgood-Song natürlich in jedes gut sortierte Plattenregal. Oder?

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Steve Moore
Panther Moderns EP
L.I.E.S. • 2012 • ab 7.99€
Die L.I.E.S.-Katalognummer #10 ist wieder so eine Sache, für die man einen langen Atem brauchte. Von Labelchef Ron Morelli vor über einem Jahr bereits in seinem Beats In Space Set gespielt, warteten wir Monat für Monat darauf, dass Steve Moores verquere Techno-Odyssey »Ancient Shorelines I« endlich Platz finden würde im hektischen L.I.E.S.-Schedule. Nun also kriegen wir was wir wollten. Eine artifizielle Synth-Melodie dominiert die acht Minuten, erst nach gut drei Minuten stellt ihr Moore weitere paranoide Akkorde zur Seite. Die stoischen Kickdrums sind in der zweiten Hälfte das einzige Element, das die immer drastischer werdende Bladerunner-Atmosphäre durch ihre Gemächlichkeit etwas erdet. Siebeneinhalb Minuten steuern wir so auf die Katastrophe zu, diese jedoch bleibt aus. Die Snare, auf die wir so lange gewartet haben – Moore gönnt sie uns nicht. Stattdessen löst er gen Ende tatsächlich alles in eine Vangelis-Dystopie auf. Radikal, bösartig, L.I.E.S.

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Erneut bitten wir um Nachsicht, einen Raider Klan verwandten Track mit sechswöchiger Verspätung zu würdigen. Chris Travis nennt sich mittlerweile ab und an Prometheus und weil ein gewisser Eric Dingus Travis’ hier einen unsterblichen Sade-Klassiker zuschanzt, und zwar so dermaßen geil plakativ, strapazierte dieser Track mehr als jeder andere die Replay-Buttons im Oktober. Wie jugendlich prollig Travis Sades Melancholie konterkariert und auf denkbar plumpste Art und Weise seine Bindungsunwilligkeit protokolliert, ist dann noch das I-Tüpfelchen. Siehe auch

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Hieroglyphic Being
The Human Experience
Mathematics • 2012 • ab 13.99€
Vor zwei Monaten an gleicher Stelle sorgte Theo Parrish für das größte eklektische WTF des Sommers. Angekommen im Frühherbst, reiht sich Jamal Moss aka Hieroglyphic Being aus Theos Schatten und steht diesem mit »How Wet Is Your Box« in nichts nach. Das Sammelsurium dissonanter Töre, obskurer Freuquenzen und Radiosamples verarbeitet er zu einem durchaus störenden, vor allem aber irrwitzig zusammengesetzen House-Tweaker an der Schnittstelle von kruden Industrial, Jungle und Microhouse à la Akufen, der von allerlei brachialer Percussionelemente zusammengehalten wird. Wenn man so will: Mouse On Mars in.. ähhh…: Gut! Plattitüde im Anschlag, aber dieser sympathische MoFo von Genie beherrscht das Chaos hier nach Belieben. Wahnsinn!

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Kendrick Lamar
Good Kid: M.a.a.d City
Aftermath • 2012 • ab 37.99€
Team Aigraj ziert sich ja zugegebenermaßen noch etwas Kendrick Lamar jenen Gottstatus zuzusprechen, den er offensichtlich schon von 95% der schreibenden Kollegen gebilligt bekommen hat, aber dass »Bitch, Don’t Kill Me Vibe« eine verdammte Hymne ist, haben auch wir schon kapiert. Selten klangen von Selbstzweifel zerfressene Rapper derart souverän, selten suchte man hinter Poesiealbums-Sprüchen so bereitwillig nach tieferer Bedeutung, selten hatte ein Chorus eine so nonchalante Pointe. Dass K.Dot über das Aquemini meets Ridin Dirty Instrumental wie immer äußerst elegant klingt und in besagtem Chorus völlig unaufgeregt den ganz frühen Cee-Lo mimt, ist dann ein weiteres klares Indiz für den H.N.I.C.-Status vor dem wir zwei Ignoranten so zurückschreckten.

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V.A.
Third Ear Re-Imagined
Third Ear • 2012 • ab 7.19€
Kollege Aigner wird sich freuen über diese Randnotiz. Belächelt er mich doch nachwievor für meine jugendliche Schwärmerei für Mars Volta anno 2002. Alle drei Monate muss ich den Running Gag über mich ergehen lassen. Nun gut, denn da schenken wir uns nichts. Nichtdestotrotz: Das Upperground Orchestra, deren Mitglied Rabih Beaini als Morhosis galante Technoalben produziert, schlägt in die selbe Kerbe und verwandelt Theos bislang größten Hit »Falling Up« in ein linear rhythmisches, neunminütiges, wah-wah-getriebenes Proggedonner, das die einprägsame Melodie des Originals leicht disharmonisch per sexy Sax durch die wenigen sich bietenden Poren schleudert. Das klingt irgendwie, um den Bezug zum Aigner-Anekdötchen wiederherzustellen: Outstanding. Sounds like Mars Volta wie ein aufmerksamer Hörer in den Souncloud-Kommentaren anführt. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

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Andy Stott
Luxury Problems
Modern Love • 2012 • ab 32.99€
Es ist viel geschrieben geworden, darüber, dass Andy Stott auf »Luxury Problems» den Morast seiner beiden vorherigen Mini-Alben abgewaschen hat und nun tatsächlich ab und an Musik produziert, die nicht zwangsweise Albträume bei Kleinkindern und schwangeren Bio-Lehrerinnen evoziert. Nicht dass uns die Vocal-Stücke mit Stotts ehemaliger Piano-Lehrerin zu harmlos gewesen wären, aber wenn Stott auf »Sleepless« ein fies runtergepitchtes Vocal-Sample auf einen derart grollenden Bass und wundervoll rumpelige Drums treffen lässt, ticken wir noch mehr aus als bei Stotts hervorragenden Versuchen Portishead zu beweisen, dass es immer noch eine Spur finsterer und desillusionierter geht als beim großen P.

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STL
Flying Saucer Attack
Smallville • 2012 • ab 7.99€
Die ganz großen Momente scheint sich Stephan Laubner für Smallville aufzuheben. Während er auf seiner eigenen Spielwiese Something zwar auch im Monatstakt wunderbar verschrobene House- und Techno-Exkursionen veröffentlicht, dürfte ihm mit dem ungewöhnlich schroffen »My Turn« wieder ähnliche Aufmerksamkeit zu Teil werden wie zuvor mit der Smallville-Perle »Silent State» vor drei Jahren. Hier ist Acid nicht nur Referenz, sondern Programm, ‘jacking’ keine Assoziation sondern Impuls. Gut neun Minuten kanalisiert STL hier Chicago, auf eine derart authentische Weise, dass einem hier ab und an tatsächlich kurz der Name Omar-S durch die Synapsen geistert, vor allem weil er all das so unendlich weniger plakativ tut, als all diese Ableton-Krieger, die sich in letzter Zeit berufen geühlt haben, den Adonis in sich zu entdecken. Nach sechs Minuten macht uns Laubner dann noch mit ganz simplen Mitteln wesentlich mehr Angst als Blawan mit seinem momentan omnipräsenten Ted Bundy-Tune »Why They Hide Their Bodies Under My Garage». Killerplatte.

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Nochmal BRK-Business, nochmal ein bekanntes Sample. Nell und Ethelwulf zerfetzen auf »Pistol Grip« ein Teena Marie Loop, im Chorus programmatisch unterstützt von gescrewten Three 6 Mafia Zitaten. Insbesondere Ethelwulf unterstreicht dabei, warum viele in ihm den im traditionellen Sinne versiertesten Rapper der Raider-Posse sehen, aber auch Nell schlägt sich mehr als achtbar. Wer Metaphysik erwartet, ist hier natürlich wieder falsch, aber das Schöne ist, dass diese ganze 2.7.5.-Chose tatsächlich jene Dynamik hat, die man der Wolf Gang immer attestieren wollte, aber selbst nicht so richtig glaubte.

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Zwei Platten hat James Nathaniel Tinsley bislang gemacht. Eine, erschienen im Jahre 1994, ist ein nicht nur sogenannter – sie ist ein Klassiker. Die andere, gute 16 Jahre später, zu der mussten ihn die Pariser von My Love Is Underground wohlmöglich erst überreden. Oktober 2012 erscheint mit The First Supplement EP die dritte und diese – sie bietet dem halben Vereinigten Königreich und all jenen Soundcloudproducern, von denen es gerade gefühlt tausende gibt und die diesen Sound zu kopieren versuchen, nonchalant Anschauungsunterricht in Sachen (Deep) House Music.
Das Nathaniel X Project steht dabei für einen Sound, der in diesem Jahr omnipräsent ist: Unverkennbarer Garage Sound der frühen Neunziger Jahre, der damals gleichermaßen in New Jersey, New York, aber auch London angesiedelt war. Sein Entwurf hebt sich aber deutlich ab von den immergleichen Patterns, Vocalschnipseln und dem sauberem Klangdesign, das die vergangenen Monate den Internetäther beherrscht. Den Tracks ist keine Funktionalität zu eigen, vielmehr versteht Tinsley diese als persönliches Ausdrucksventil, das sich in Titelbezeichnungen wie »We’re All Amazing«, »Eye-Lust« oder »Emotional High« manifestiert. Klar, sagt jeder – macht aber keiner. Deep House der originären Art – dabei voller Ideen und noch mehr Spuren, voller Musikalität, getrieft in Spiritualität – dafür steht Tinsley. Oder auch anders, Oberlehrer beiseite: »Eye-Lust« ist gerade die Platte, die Mark »MK« Kinchen heute gerne wieder machen würde.

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