2012 – Die 50 Alben des Jahres (Teil 2)

19.12.2012
So unterschiedlich wie lange nicht mehr waren die musikalischen Höhepunkte des Jahres. Wir haben uns durch Alben und Mini-Alben gehört und 50 Highlights zusammengetragen. Lest hier Teil 2 der Liste.
Juju & Jordash, deren »Deep Blue Meanies« im Club immer noch ein spirituelles Erweckungserlebnis ist, tischen mit »Techno Primitivism« ganz dick auf, die von den beiden Israelis und Wahl-Amsterdamern gewohnte Musikalität wird aufs Äußerste ausgereizt, ohne uns penetrant anzuproggen. Auf drei LPs ausgebreitet, beweisen die beiden, dass das durchaus funktionieren kann mit dem Albumformat und Techno. Wer gerne von einer autoritären Kick oder Snare geführt wird, mag hier zunächst überfordert sein, Juju & Jordash jammen in ihrer Freizeit nicht von ungefähr mit Jazzern, aber zu verkopft ist Techno Primitivism dennoch nie. Vielmehr das vielleicht gleichzeitig natürlichste und ambitionierteste Stream-Of-Consciousness Album des Jahres. (Florian Aigner)_

) Mit »Ekstasis« erreicht Julia Holter den vorläufigen Höhepunkt ihres Schaffens. Für das Album verzichtete sie auf ein klares Konzept und zeigt sich auf der Sammlung von Songs als große Songwriterin, die zudem alle Instrumente selbst eingespielt hat. Was »Ekstasis« zu einem großen Album macht, ist die Leichtigkeit und Unbedarftheit mit der es Julia Holter gelingt komplexe Kompositionen zu verpacken. So lässt sich dieses vielschichtige Werk auch als ihr Bekenntnis zum Pop verstehen. Spätestens jetzt darf man Julia Holter zu den spannendsten Songwritern ihrer Generation zählen.(John Luas)_

) »good kid M.A.A.D city« had a big burden to carry before its release being called a Hip Hop classic with its creator as the savor of today’s rap game. The hype around the album, which paints a candid picture of Compton life specifically the life of teenage Lamar, was justified. Kendrick Lamar is way too plaintive and self-reflective for this almost epic album to sound like the work of a guy in his mid-twenties. It’s no wonder that Dr. Dre snatched up Lamar as he is the clever word smith and street poet that the West Coast has been lacking. (Grashina Gabelmann)_

kidkanevil & Daisuke Tanabe
Kidsuke Orange Vinyl Edition
Project: Mooncircle / HHV • 2012 • ab 15.99€
) Es war ein künstlerisch sehr gutes Jahr für Project: Mooncircle. Das Highlight war sicherlich die unter dem Namen »Kidsuke« veröffentlichte Kooperation zwischen Kidkanevil und Daisuke Tanabe. Eine Zusammenarbeit, die beide Musiker beflügelt zu haben scheint, denn an Detailreichtum, Feinheit und Dichte haben der Brite und der Japaner bislang noch nichts vergleichbares veröffentlicht. Das beste dieser beiden Welten kommt hier zusammen: wonky shit, verspielte Electronica, Dubstep, IDM und eine gewisse fernöstliche Exotik in der Sampleauswahl finden hier derart einen gemeinsamen Nenner als wäre diese Fügung das selbstverständlichste der Welt. (Sebastian Hinz)

) Fly Lo’s Label Brainfeeder ist mittlerweile zu einem wahren Garant für die Entdeckung von interessanten Beatschmieden geworden. Lapalux bildet hier keine Ausnahme. Der Produzent aus dem britischen Essex ist dabei v.a. ein technisch versierter Klangtüftler und konstruiert auf seinem Labeleinstand »When You’re Gone« eine melodische und harmonische Melange aus R’n’B-, HipHop und Glitch-Elementen, die gelegentlich auch nicht vor »poppigen« Einschlägen zurückschreckt. Dabei gelingt es ihm jedoch stets, die zahlreichen Eindrücke und elektronischen Bauteile zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. (Henning Koch)_

) Seit mehr als drei Jahrzehnten macht Lee Fields Musik, aber erst seit »My World« vor zwei Jahren wurde der große Unbekannte des Souls wirklich wahrgenommen. Mit »Faithful Man« veröffentlichte er dieses Jahr nun so etwas wie sein Opus Magnum, ein Album wie ein Denkmal für einen Sänger, der wie kaum ein anderer die große Kunst beherrscht, ein jedes Wort aus der Tiefe der Seele zu formen und mit einer unbändigbaren Energie in die Welt zu schleudern. Mit den Expressions, der Hausband von Truth & Soul in New York, findet Lee Fields auf diesem Album die perfekte Rahmung. »Wish You Were Here« und der titelgebende Track »Faithful Man« sind jetzt schon, oder endlich, Klassiker. (John Luas)_

) Breite Klangwellen brechen auf den Zuhörer nieder, dirigiert von scharfen Drums, durchsetzt von von einer düsteren Stimme und gebrochen von hellen Synth-Flächen. Dies ist nur einer der visuellen Eindrücke, die Lorns präzise konstruierte, brachiale industrielle Klangmaschiene »Ask The Dust« generiert. Jedoch ist das Ohr des DJs und Musikers dabei auch aufs kleine Detail gerichtet. Und genau dadurch schafft er es, seine unterkühlten Beatgerüste zu öffnen und seiner Musik auch eine menschliche und emotionale Ebene zu verleihen, die ihm auf seinen vorherigen Alben bisher stellenweise abhanden gekommen war. (Henning Koch)_

Matthew E. Who? Das fragt sich wohl selbst jeder Super-Duper-Musik-Auskenner, der diesen kauzig aussehenden Herren da so ganz ausdruckslos in weiß auf dem Cover seines Debüts sitzen sieht. Spacebomb Records, hä? Auch das fragt sich mit Sicherheit jeder Super-Duper-Musik-Auskenner, wenn er dann die Platte umdreht und die Credits studiert. Das Grübeln kann man sich sparen, denn die Platte ist ja zum anhören da, und was man da hört, ist einfach überzeugend. Auch wenn man nicht so wirklich ein passendes Genre finden mag, außer vielleicht Country-Soul. Falls es sowas überhaupt gibt. Und 2013 wird dann wohl dank frischem Vertrag mit dem Indie-Riesen Domino auch jeder Auskenner Bescheid wissen, wenn er die nächste Matthew E. White LP in den Händen hält. (David Wetzel)_

Wenn man über Musik spricht, sollte man das Adjektiv »zeitlos« mit großer Vorsicht verwenden, gilt es doch als schwierige Aufgabe, ein zeitloses Album zu erschaffen. Im Falle von »Supa Soul Shit« möchte ich mich allerdings dazu hinreißen lassen, genau dieses Begriff zu verwenden. Die Platte klingt so als ob sie schon vor Jahrzehnten hätte erscheinen können, dennoch haftet ihnen dadurch, dass Brenks Beats aus einem HipHop-Blickwinkel entstanden sind, etwas Aktuelles an. Dazu kommt Miles Bonny‘s gefühlvoller Gesang, der so leicht nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen ist. (Julia Losert)_

) Was an avancierter und experimenteller elektronischer Musik in den letzten Monaten anregend war, bündelte sich in diesem Album. Zunächst personell: Kompositionen von Rachel Evans , versehen mit einem Mastering von Lawrence English, veröffentlicht auf John Eliotts spannenden Label Spectrum Spools. Und dann musikalisch: Rachel Evans fügt als Motion Sickness of Time Travel mit seltener Leichtigkeit, an Synthesizern und anderem Gerät älterer Bauart erdachte Tonfetzen zu 20-minütigen Kompositionen zusammen. Schönheit, Erfahrung, Atmen, Gedeihen, Begegnung, Abenteuer in vier kurzweiligen Kapiteln. (Sebastian Hinz)_

) Nick Waterhouse könnte nicht nur optisch der kleine Bruder von Mayer Hawthorne sein. Auch musikalisch trennt die beiden Herren mit Vorliebe für Anzug, Stil und Kassengestell wenig. Doch Waterhouse‘ Version von R&B ist deutlich roher und weniger poliert. »Time’s All Gone« dauerte gerade einmal 35 Minuten und bläst einem aber den Geist der 50iger und 60iger direkt ins Gesicht. Doch trotzdem keine Spur von Nostalgie – das ist Leidenschaft. Pure Leidenschaft. Und die muss genau so klingen. (Björn Bischoff)_

) Es brauchte also tatsächlich dieses musizierende Paar, um Dream Pop mit Dub zu verschmelzen, obwohl beide Stile ja nicht nur die verwaschen-verhallte Soundästhetik teilen. Angelegt als ein »Durch die Nacht mit … unserem Nachwuchs« ist das Album trotz des diabolischen Titels eine Art musikalische Liebeserklärung an den neugeborenen Sohn der beiden. Zwischen »Moonrise« und »Morning Star« sind die Songs scheinbar geschrieben worden und in dieser Zeitspanne kann man sie auch besonders gut genießen – sogar ganz ohne Schreihals auf dem Arm. (Martin Silbermann)_

Roc Marciano
Reloaded
Decon • 2012 • ab 21.99€
) Zwei Jahre nach »Marcberg« ist Roc Marciano wieder in den DeLorean gestiegen und von 1994 zu uns in die Zukunft gereist, um mit »Reloaded« das nächste Relikt aus der güldenen Epoche zu offenbaren. Bis auf die Nike Air Force One’s hat Roc Marcy jedoch nicht viel mit Marty McFly gemein und jetzt weg von diesem platten Sinnbild, denn »Reloaded« ist bei weitem kein borniertes Real-Rap-Retro-Album. In puncto Reimfertigkeit so etwas wie eine kleine Offenbarung, musikalisch aufs Nötigste reduziert und vom Vibe sowieso sicker than your average. »Gangsta Mack. Back!« (Benjamin Mächler)

Vielen wird es in den letzten fünfzehn Jahren so gegangen sein wie mir: Eigentlich wollte man mit gutem Gewissen deutschen Rap gut finden können, deutscher Rap allerdings wollte größtenteils irgendetwas sein, was er nie war und berührte einen daher meist nur peinlich, egal wie professionell oder amateurhaft er daher kam. Wie also stellt man das beste deutsche Rapalbum in 2012 auf die Beine, auch wenn man im Grunde nur Battleraps über Boom-Bap-Beats vom Stapel lässt und das ganze mit Bergbauromantik versprühenden Sprachfetzten zu einer Art Snippetmix auf Albumlänge zusammenmixt? Ganz einfach: Indem man einfach nur fresh sein will, so wie Schaufel und Spaten. (David Wetzel)_

Schoolboy Q hat sich seinen Platz in den Top-50 nicht verdient, weil »Habits & Contradictions« ein durchweg gutes Album ist. Dafür hat es zu sehr den Charakter eines Mixtapes. Aber: Mit »There He Go« enthält es einen persönlichen Rap-Dauerbrenner des Jahres und Qs quengelige »Delivery« sucht zwischen stock-konservativen- und Gimmick-Rappern seinesgleichen. Außerdem enthält das Album jene unwiderstehliche Strophe, die eigentlich nur aus den Wörtern »extra pills« besteht. Der Rap-Purist rollt die Augen, während ich jedes Mal aufs neue jegliche Körperkontrolle über diese Ignoranz verliere. (Philipp Kunze)_

Sigha
Abstractions I-IV
Hotflush • 2012 • ab 7.99€
) »Abstractions I-IV« hieß die kleine Präsentation, die uns Sigha Anfang des Jahres vorbereitet hat. Sie zeigt uns Techno wie er im besten Sinne zu klingen hat: bewegend und klug. Keine Selbstverständlichkeit. Festhalten und loslassen sind die Themen hier, die der britische Techno-Produzent mittels sensibel austarierten Sounds zwischen Statik und Euphorie behandelt. Das Ergebnis sind vier kleine, an Maschinen entstandene Studien des Menschen, die zwischen Ambient, Techno, Minimal und Bassmusik eine Sprache gefunden haben. Selten zuvor hat James Shaw seine Fähigkeiten so ausgespielt wie auf dieser EP. (Sebastian Hinz)

Ahmed Gallab ist Sinkane. Ahmed Gallab spielt viele Instrumente und tut das mit Vorliebe in Bands wie Of Montreal, Yeasayer, Born Ruffians oder als Gast bei Caribou. Als Sinkane gehen bisher zwei Alben auf sein Konto, die sicherlich anspruchsvoll, aber nicht wirklich aufsehenerregend sind und schon gar nicht unterhaltsam. Mars hingegen, das dritte im Bunde, zeigt sich als fröhliche Mixtur aus elektronischen Klängen, geschichteten Gitarren sowie afrikanischen Rhythmen und riecht nach Afro-Disco mitten in Brooklyn. Und das ist anspruchsvoll, aufsehenerregend und zugleich verdammt unterhaltsam. (David Wetzel)_

Psychedelic Rock wird mit Tame Impalas Zweitling endgültig wieder salonfähig. Ob Songskizze, knackiger Rocker oder länglicher Jam in »Lonerism« stecken so viele Ideen wie in so manch einer Diskographie. John-Lennon-Stimme, allerlei Analog-Synthies und anderes Vintage-Equipment verdichten sich in immer neuen Permutationen zu nicht gerade unterkomplexen Ohrwürmern. Dabei verliert sich Mastermind Kevin Parker nicht in reiner Retro-Seeligkeit, der Sound ist zu allen Seiten hin offen und kann deshalb auch mal an Stereolab oder Desert-Rock erinnern. Kaum zu glauben, dass das alles nur ein einzelner Mensch eingespielt haben soll. (Martin Silbermann)_

) 2012 geht gewiss als eines der produktivsten Jahre in The Alchemists Karriere ein. Neben Projekten mit der Odd Future-Clique, Action Bronsolini oder dem Disruptor Oh No fand meine Lieblingslaborratte noch die Zeit, sich dem musikalischen Erbe des einstigen USA-Klassenfeindes zu widmen. Herausgekommen ist dabei eine experimentelle Reise mit allerlei Psych-Rock-, Folk- und Jazz-Anleihen, auf der Onkel Al kurz mal klar macht, dass er sich vor den aufstrebenden, progressiven Beatbau-Katzen vor der eigenen Haustür nicht verstecken muss. Und da sage mal noch einer Kiffen mache faul. (Benjamin Mächler)_

Als die beiden Umhangträger letztes Jahr »Lone Sharks« veröffentlichten, wurde das Interesse für die Doppelgangaz endgültig entfacht. Trotzdem kamen sie erst 2012 wirklich Bewusstsein der Musikhörer an. Auftritte in Europa, weitere bizarre Musikvideos und ausverkaufte Platten kennzeichneten dieses Jahr. Stellvertretend dafür steht »Beats for Brothels Vol. 2«. Darauf ist der charakteristische Sound von Matter Ov Fact und EP deutlich zu erkennen: Dreckige, rohe Beats, die teilweise mit isopropylalkoholgeschwängerten Lyrics versehen werden. Sollte man nicht nur im Bordell pumpen! (Julia Losert)_

) Undun takes its listener on a cinematic, highly conceptual trip that starts where life ends. The consistent beeping of a hospital machine indicates that the album’s protagonist Redford Stephens, a 25 year-old fictional yet far too realistic character troubled by a rough life in a rough neighborhood, has just died. From there The Roots rewind and tell the reversed story of Redford inviting the listeners to discover what led to Redford’s tragic passing. The album’s not a piece of cake: its introspective, gloomy and confusing challenging the listener to really invest some time. The last four tracks enhance the cinematic experience as it sounds like music that could accompany a film. Sufjan Stevens repurposes his own song for the introduction of this short, purely instrumental and avant-garde act before the curtain finally falls. (Grashina Gabelmann)_

) Anstatt sich nach dem durchschlagenden Erfolg ihres Debütalbums vor drei Jahren auf ihrem Folgewerk anzubiedern, schalten The xx nochmal einen Gang zurück. Mit »Coexist« legen sie ein leises, zartes Werk vor, dass den Raum ganz weit macht, um dann aber ganz dicht am Ohr des Hörers diese vermeintlich einfachen, aber in dieser Klarheit berührenden Lyrics zu platzieren. Mit seinen verschleierten Clubbeats, seinen kaum berührten Gitarrenseiten und seinen gestreichelten Bässen, ist »Coexist« ein Werk dramaturgischer Bedacht und musikalischer Integrität und macht the xx zu einen der wichtigsten Bands unserer Zeit. (John Luas)_

) Die gemeinsame EP von HudMo und Lunice kam gerade noch rechtzeitig, bevor die Skrillexisierung von Trap-Musik endgültig um sich griff. »TNGHT« war der Höhepunkt (nach dem die Spannung bekanntlich wieder abfällt) einer musikalischen Spielart, die ihre Energie aus den von 808s und Snare-Drum dominierten Rap-Instrumentals aus dem Süden der Staaten zieht. Eine EP wie ein Kampfspiel am Spielautomaten: Es piept, flackert, knallt und vor allem gibt es hier pausenlos auf die Fresse. Sollte man wieder rausholen, sobald Bauern-Soundcloud-DJs aufgehört haben, ihre eigenen Trap-Songs hochzuladen. (Philipp Kunze)_

Twin Shadow, dieser gelackte, arrogante Drecksack, der von der gesamten Chuzpe her eigentlich mit The Weeknd verwandt sein MUSS, macht geilen Larger-Than-Life-80s-Kram, sexuell überstimuliert wie Prince und insgesamt genau so asozial. Dass das tatsächlich doch irgendwie interessant ist, obwohl jener Prince, Morrisey, Bowie (und alle in Patrick Batemans Walkman hausenden Kraftmeier) in ihrer Sparte bereits das perfekte Album gemacht haben und unser George in seinen schlechten Momenten ein wenig klingt wie Arcade Fire im All-Inclusive-Urlaub. Wobei, da spricht vermutlich nur der Neid, denn George und die Damenwelt…aber das ist eine andere Geschichte. (Florian Aigner)_

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