Review

Dr. Dre

Compton

Aftermath • 2015

Was bei allem momentanen Hype um Dr. Dre gerne vergessen wird: Ein Album von Dr. Dre dreht sich nicht vorrangig um Dr. Dre. Es stehen immer die Songs im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zumindest in der von Dr. Dre. Das begann schon zu Zeiten von N.W.A., setzte sich auf »2001« fort und das versuchte er als Lektion auch allen von ihm produzierten Weltstars mit auf den Weg zu geben. Der Song kommt immer zuerst und er bekommt, was er braucht, seien es wie hier gleich mehrfach drei zusätzliche Vocalists oder auch mal vier Co-Producer wie auf »Deep Water«. Der Bündeler Dre hatte die Vision für »Compton« und bediente sich auf diesem, seinem vermeintlich letzten Album, bei den Talenten von insgesamt 16 Vocalists und neun Co-Producern (auf »2001« waren es sogar 23 zusätzliche Vocalists und elf Musiker!).
Soweit die reinen Zahlen. Beeindruckend wird es erst, wenn man beim dritten oder vierten Durchlauf von »Compton« feststellt, dass Dre selbst so variabel in Stimmlage, Flow und Energie ist, dass man schon ganz genau hinhören muss, um zu erkennen, dass das Dre ist, der da gerade rappt. Ganz eindeutige »Das hier ist Dr. Dre«-Momente kann man auf Albumlänge beinahe an einer Hand abzählen. Was einerseits schade ist, weil der Doktor immer noch rappen kann wie die Sau (und es auch zeigt) und auch immer noch eine wahnsinnig sympathische autoritäre Ausstrahlung hat. Andererseits sind die Songs wunderbar abwechslungsreich und es funktioniert auch jeder einzelne von ihnen. Erst wenn man sich rein gehört hat, erkennt man die vielen Facetten, in denen Dre sich hier präsentiert.

Die große Frage war ja vorher, ob Dre überhaupt noch was zu sagen hat. Immerhin haben wir hier eine noch nie dagewesene Situation: der erste Hip Hop-Milliardär, mit einem wahrscheinlich ewig nachhallenden Impact auf die weltweite Szene, der mit 50 Lenzen aber gleichzeitig in das Alter kommt, wo er das erste Mal Großvater werden könnte… was soll der eigentlich erzählen, außer wie gut es ihm geht? Doch die Inspiration entsprang für ihn aus seiner eigenen Geschichte, die mit dem N.W.A.-Film »Straight Outta Compton« gerade auf Zelluloid gebannt wurde. Also gibt es die from-rags-to-riches-story: schlechte Voraussetzungen in einer schlechten Nachbarschaft, riesiger Erfolgshunger, noch größere Arbeitsmoral, Rückschläge, Erfolge, steigender Druck, wieder Arbeitsmoral, und das alles eingebettet in den Rahmen Gangsta-Rap. Natürlich aus der unfehlbaren Sicht des Erfolgreichen, des Angekommenen, aber nicht ohne die notwendige und höchst authentische Patina der dunklen Seite, auf der Dre Anlauf genommen hat für die Quantensprünge danach. Der HipHop-Opa macht also doch nochmal ein Album, mit persönlichen und zurück blickenden Texten und verpasst es außerdem nicht, im Vorbeigehen verbale Nackenschellen an alle Aufmüpfigen zu verteilen. Man stellt erleichtert fest: zum Glück hat das alles ordentlich Hunger.

Das spiegelt sich auch in den Produktionen wieder, die absolut am Puls der Zeit sind, wenn wie auf dem stärksten Song des Albums »Talk About It« (King Mez und Justus), der Trap den Dr. Dre-Stempel bekommt. Aber damit erschöpft sich die Platte nicht. Viele feinsinnige Referenzen an die Vergangenheit holen auch den G-Funk ins Heute. Oben drauf gibt es ganz viel klassisches Hip Hop-Feeling und Kopfnicken, weil die klatschenden Drums viele Songs vor sich hertreiben. Dabei wiederholt sich kein Song und neben den jungen und extrem ambitionierten Kendrick Lamar Anderson .Paak King MEZ und Justus scheinen auch Ice Cube Snoop Dogg und Xzibit wieder ordentlich Appetit bekommen zu haben, denn hier ist kein einziger Part ein Ausfall und einige überraschen sogar in ihrer wiedergefundenen Qualität.

Die Energie dieser Platte, ihre Aufbruchstimmung und ihr Sound machen sie zu dem relevanten Release, das auf jeder Musikplattform, die etwas auf sich hält, innerhalb weniger Stunden nach Veröffentlichung rezensiert wurde. Das hier ist definitiv der state of the art, und gefühlt doch wieder ein bisschen mehr. Es ist ähnlich wie bei »2001«, das war auch kein revolutionäres Album, aber es war ein auf das Wesentliche konzentriertes Kind seiner Zeit. Und es besaß diese nicht zu beschreibenden Prise Dr. Dre-Zeitlosigkeit, die dafür sorgt, dass das Album bis heute keinen Deut gealtert ist. Es wird sich zeigen, welche Lebensdauer und welchen Impact »Compton« entwickeln kann. Das wird auch damit zusammenhängen, welche Songs als Singles noch einmal eine größere Aufmerksamkeit erhalten und vielleicht in 16 Jahren noch in jedem HipHop-Club laufen. Das Potenzial ist mehr als vorhanden.

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