Records Revisited: Rolling Stones – Let It Bleed (1969)

05.12.2019
Vom Western-Saloon in den Vietnamkrieg, Stress mit den Cops und Heroin in Arschbacken – der Weg zu »Let It Bleed« verläuft auf einem Pfad zwischen Morbidität und Leichtsinn. Am Ende waren die Drogen gelutscht und die Utopien der Hippies tot

Im Dezember 1968 reisen Mick Jagger und Keith Richards mit ihren Partnerinnen Marianne Faithfull und Anita Pallenberg auf einem Kreuzfahrtschiff nach Rio. Ein psychisch angeschlagener Brian Jones fliegt von Marokko zurück nach England. Der Rest der Band nimmt sich eine Auszeit. Als die Band ein Jahr später mit »Let It Bleed« ihre achte Studioplatte veröffentlichen, ist Jones tot – und der Hippie-Traum beim Tour-Abschluss in Kalifornien geplatzt. Was war passiert? Die USA zerbombten Vietnam und flogen zum Mond, die Beatles nahmen ihre letzte Platte auf und Keith Richards revoltierte mit Heroinspritzen im Arsch. Aber von vorn: »Let It Bleed« entsteht in einer schwierigen Phase der Band. Brian Jones funktioniert nur unter dem Einfluss von Schmerzmitteln, Mick Jagger bekommt wegen Haschbrösel Besuch von der Polizei und Keith Richards war, wie er in seiner Autobiografie schreibt, »ganz schön weit unten«. Die Band entscheidet sich für eine Pause. Keine Konzerte, keine Aufnahmen, dafür Urlaub. Mick und Keith buchen Tickets nach Südamerika, Bassist Bill Wyman jettet nach Rom. Brian Jones ertrinkt am 3. Juli 1969 im Pool auf seiner Cotchford Farm.

Zu dem Zeitpunkt ist Brian nicht mehr Mitglied der Rolling Stones Jagger, Keith und der Schlagzeuger Charlie Watts haben ihn wenige Wochen zuvor rausgeworfen. »Wir waren Brians Band. Ohne ihn wäre unsere Bluesband nicht zur größten Rock’n’Roll-Band der Welt geworden«, schreibt Stones-Bassist Bill Wyman 2001 in seinem Buch »Rolling With The Stones«. Aber es habe zu viele Probleme mit seinem psychischen Zustand gegeben, zu viele Differenzen mit Mick und Keith. Außerdem entwickelte sich die einstige Blues-Band zur Rock’n’Roll-Maschine. Brian habe das nicht gewollt. »Die Stones verlangten jedem von uns einiges ab, doch Brian ist der einzige, der starb«, so Wyman. Auf »Let It Bleed« hört man Jones nur noch auf zwei Stücken. Er trommelt ein paar Takte zwischen Mundharmonika-Gejaule auf »Midnight Rambler« und spielt die Autoharp auf Richards Gesangseinlage »You Got the Silver«. Es ist sein letztes musikalisches Lebenszeichen. Für den vakanten Gitarren-Part haben die Stones bereits Ersatz gefunden: Mick Taylor. Der 20-Jährige ist für die Band ein Glücksgriff. Er ergänzt Richards, versteht sich mit Jagger – und wird im Gegensatz zu Jones von keinen Stimmen verfolgt. Die Sache passt. Zwei Tage nach Jones Tod stöpselt Taylor als neuer Gitarrist zum ersten Mal die Gitarre in den Verstärker – beim Konzert vor 300.000 Menschen im Londoner Hyde Park.

»Für mich war es ein Balanceakt. Ich hatte so viel auf einmal zu tun, hatte ich einen interessanten Song geschrieben, wollte Aufnahmen davon, und arbeitete – perfekt ausbalanciert zwischen Kokain und Heroin – fünf Tage daran. Das Problem war bloß, dass ich nach sechs oder sieben Tagen die richtige Mischung vergaß.«

Keith Richards

Die Geschichte von »Let It Bleed« beginnt einige Monate früher. Mick Jagger und Keith Richards kehren Anfang 1969 von ihrem Südamerika-Trip zurück. »In dieser Zeit waren wir äußerst produktiv«, schreibt Richards in seiner Autobiografie »Life«. »Wir schrieben einen Song nach dem anderen.« Richards ballert zum Frühstück Barbiturate, zieht später Koks und schnüffelt zum Gegensteuern Heroin. »Das Zeug wurde für mich zu einer Art Werkzeug. Ich erkannte, dass ich mit Turbo unterwegs war und alle anderen nicht«, so Richards. »Aber ich war nie der Meinung, dass die Drogen per se viel damit zu tun hatten, ob ich produktiv war oder nicht.« Einen übersteuerten Anti-Vietnamkrieg-Song wie »Gimme Shelter« hätte er auch ohne der Mischung aus Koks und Heroin hinbekommen. Das braune Zeug habe ihn fokussiert arbeiten lassen. Über Stunden, Tage, manchmal Wochen. »Für mich war es ein Balanceakt. Ich hatte so viel auf einmal zu tun, hatte ich einen interessanten Song geschrieben, wollte Aufnahmen davon, und arbeitete – perfekt ausbalanciert zwischen Kokain und Heroin – fünf Tage daran. Das Problem war bloß, dass ich nach sechs oder sieben Tagen die richtige Mischung vergaß.«

Wie Sherlock Holmes habe sich Richards gefühlt, »auf einem schmalen Grat zwischen Morbidität und Leichtsinn« wandelnd. Sein Junkie-Leben von damals wolle er niemandem empfehlen. Auch wenn es für ihn aufgegangen sei. »Honky Tonk Women«, das im Juli 1969 vor dem Album »Let It Bleed« als Single herauskam, war die Krönung all dessen, was wir damals am besten konnten.« Ein dreckiger, nach gestriegelten Pferden und poliertem Leder miefender Song, der während der Südamerika-Reise auf einer Ranch in Brasilien entstanden sei. Keith Richards experimentierte zum ersten Mal mit einer offen gestimmten Gitarre. Einen Kniff, den ihm der US-amerikanische Gitarrist Ry Cooder beigebracht hatte. Als sie mit dem Song zurück nach England kommen, schmiert Mick Taylor in den Olympic Studios in London die elektrische Gitarre drüber, Produzent Jimmy Miller scheppert an der Kuhglocke und sorgt dafür, dass der Song sich aus der brasilianischen Pampa mitten in die Stax Studios von Memphis emanzipiert. »Das Stück vereinigte alles an Blues und schwarzer Musik in sich, was wir seit den Dartford-Tagen gelernt hatten. Es war einer dieser Songs, bei denen man noch vor seiner Fertigstellung wusste, dass er ein Nummer-eins-Hit wird«, so Richards.

Die Single kracht in England – genauso wie das Album vier Monate später – an die Spitze der Charts. Die Leute haben Bock auf Hillbilly-Fideln in der Prärie, Mundharmonika-Flair am Lagerfeuer und Folk-Balladen im Stil von Bob Dylan. »Let It Bleed« ist der Auswuchs dieser Phase. Die Platte bringt den amerikanischen Spirit auf den Punkt, die Verheißung der Boomer-Generation klackert mit Cowboystiefeln über englischen Boden und rasiert den Beatles, die zwei Monate zuvor »Abbey Road« veröffentlichten, mit toxischer Männlichkeit und »Monkey Man«-Gejohle die Strähnen aus dem Gesicht. Nachdem das Album am 2. November 1969 auf Band ist, jetten die Stones über den Atlantik. Ihre Tour führt sie von New York an die Westküste, bis zum Abend des 6. Dezembers. Die Stones wollen den Abschluss ihrer USA-Tournee mit einem Gratis-Konzert am Altamont Speedway feiern. Auf das Gelände östlich von San Francisco strömen 300.000 Leute. Zu viele, wie sich herausstellt. Die Stimmung ist aufgeheizt, Chaos bricht aus, weil die Veranstaltung in wenigen Tagen hochgezogen wurde. Hells Angels, die als Aufpasser engagiert wurden, schütten sich flüssiges Acid ins Gesicht, manche Leute tanzen nackt, viele trippen. Während Mick Jagger »Under My Thumb« ins Mikrofon grölt, erstechen Angels vor der Bühne einen Schwarzen – und die Traumblase der Sixties zerplatzt.


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