Tapes feiern ein Revival. Sagen alle. Weilwegen »Guardians of the Galaxy« und so, weilwegen selbst Björk ja mittlerweile ihren Backkatalog nochmal in allen Farben als MCs auf den Markt gehauen hat. Weilwegen irgendwer auf den brillanten Gedanken kam, einen Cassette Store Day ins Leben zu rufen, obwohl die Zahl von Cassette Stores in unseren Kreisen mehr als überschaubar ist. Von der Hand weisen lässt sich nicht, dass sich Tapes wieder mehr verkaufen als zuletzt seit… Na, Anfang der Neunziger schätzungsweise. Und eben nicht nur die mit Benjamin-Blümchen-Content drauf, sondern auch mit richtiger Musik, mit Beats und Waber-Ambient, Harsh Noise und Techno. Wer weiß, vielleicht hören die Leute, die sich vor Kurzem wieder dem scheinbar fossilsten aller Formate zugewendet haben, sogar manchmal wirklich ihre Musik auf Kassette.
Wir in jedem Fall und das nicht erst, seitdem irgendein Feuilleton auf den Gedanken kam, doch mal wieder eine lebendige Szene zu einem vermeintlichen Revival hochzujazzen. Dieses Jahr lief der Walkman bei Spaziergängen in Quarantänetagen heiß, spulte das Tapedeck bei der Wohnungsrenovierung ein Band nach dem nächsten ab. Zu hören gab es Frickelmusik, Klangwolkensounds, Stolper-Beats und zwischendurch sogar astreinen Pop. Mixe, Konzeptplatten, Minialben und große Compilations. Das volle Programm, ein ganzes Spektrum merkwürdiger und bemerkenswerter Musik. Aus dem haben wir 20 Releases ausgewählt , die ausschließlich auf Kassette erhältlich waren oder zumindest nur noch in dieser Form zu haben sind und gehabt werden sollten. Also: Ein Revival gibt es nicht, sondern nur das volle Leben. Nur bitte dafür den Bleistift nicht vergessen, sollte zwischendurch nachgezogen werden müssen. Kristoffer Cornils
DER GROßE VINYL-JAHRESRÜCKBLICK IM WEBSHOP VON HHV RECORDS.
● Tape Christina Vantzou – Multi Natural (Edições CN)
Freund*innen der elegischen Stimmung: Mit »Multi Natural«, dem neuen Album von Christina Vantzou, quetscht ihr ein Tape ins Deck, das euch im Schein der Tageslichtlampe unter Platanen im Amazonas aussetzt, in Vogelkunde ausbildet und nebenbei in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, den ihr seit dem Flötenkonzert auf der Mittelalterausstellung 2008 nicht mehr durchlebt habt. Alles, was Ambient geil macht und Musik, um sich in seinem WG-Zimmer mit drei Litern selbstgemachten Glühwein den Lockdown schön zu träumen. Christoph Benkeser
● Tape DJ Marcelle – 10×3×1 (Sucata Tapes)
DJ Marcelle mixt sich auf einem Tape mit drei Turntables durch die letzten zehn Jahre des Labels Discrepant und seinen Ablegern Souk und Farsa Discos – »10x3×1«, geddit? Das ist die reine, staubtrockene Beschreibung, es reicht aber auch als Review schon völlig aus. Kristoffer Cornils
● Tape Emma DJ – Pzsariasiszsz (Brothers From Different Mothers)
Die Ritalin-Mafia hat angerufen, heut gibt’s keinen Stoff. Der 2020er-Jahrgang in Jura tritt geschlossen zurück und zieht sich zum Büffeln »Pzsariasiszsz« von Emma DJ aus Paris rein. Alle anderen schieben sich das Ding ins Kassettenfach, drehen ein paar Videos von Ryan Trecartin auf und spannen sich für zwei Stunden auf die sonische Streckbank, um endlich mal in den Genuss von elektronischer Klaustrophobie zu kommen. Halleluja, das Ding ist dermaßen Post-Everything, dass die Leute am Atonal schon jetzt am Pressetext verzweifeln. Christoph Benkeser
Félicia Atkinson – Everything Evaporate (Shelter Press)
Félicia Atkinson genügt auf »Everything Evaporate« mühelos ihren eigenen Standards. Was wie eine 3+ im mündlichen Abitur klingt, ist gemessen an der Konkurrenz aber immer noch ziemlich unantastbar. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass der letztjährige Vorgänger »The Flower and The Vessel« für mindestens 75% der Redaktion als persönlicher Klassiker abgespeichert bleibt und wir über »Everything Evaporate« zumindest zwei Sekunden nachdenken mussten, bevor das Tape mit einem abgeklärten »natürlich« durchgewunken wurde. Florian Aigner
● Tape Jiyeon Kim – Long Decay And New Earth (The Tapeworm)
Das Kassetten-Label The Tapeworm hat sich auf Musik spezialisiert, die dermaßen randständig ist, dass manchmal kaum jemand mitbekommt, wie präzise darin die Zukunft vorausgesagt wird. Beweisstück 1: »Long Decay And New Earth« von Jiyeon Kim stellt zwei exakt gleich lange Performances der Künstlerin nebeneinander, die eine vor recht wenig und die andere ganz ohne Publikum – mehr 2020 geht kaum. Auch weil Kims faserigen Dekompositionen sprudelnder Piano-Musik gleichermaßen nervenberuhigend wie unheimlich sind. Kristoffer Cornils
Louise Bock – Sketch For Winter VII (Geographic North)
Das Cello erlebt auch, aber nicht ausschließlich Hildur Guðnadóttir wegen ein Revival. Während sich Okkyung Lee auf ihrem letzten Album für Shelter Press darum bemühte, das Instrument mit dem Piano zusammenzubringen, ließ Louise Bock – heißt eigentlich anders, warum auch immer – auf »Sketch for Winter VII – Abyss: For Cello« die volle Drone-Qualität des Viersaiters allerhöchstens mal mit denen eines Saxofons oder einer Gitarren clashen und erkundete ansonsten seine psychedelischsten Potenziale und eindringlichsten Stimmungslagen. Nichts für schwache Nerven, unbedingt aber für offene Ohren. Kristoffer Cornils
● Tape Maria Minerva – Soft Power (100% Silk)
Egal über welchen Zappel-Beat Maria Minera haucht, es hört sich so an, als zocke sie nebenbei Among Us auf dem iPad, während sie sich zu alten Madonna-Videos die Zehennägel lackiert, um zwischendurch und völlig unerwartet ein Emergency Meeting einzuberufen. »Soft Power«, ihr erstes Album seit ungefähr 500 Pop-Jahren, leiert aus verstaubten Lautsprechern in einer Beach-Bar in Los Angeles, in der seit den 80ern niemand mehr sauber gemacht hat. Very sus, das! Christoph Benkeser
Marta Forsberg – New Love Music (Warm Winters Ltd.)
Wer zu viel Zeit in White Cubes und auf Finissagen verbracht hat, entschleunigt sich mit dem neuen Tape von Marta Forsberg selbst, indem man Installations-Mukke in den Drone-Topf für Detox-Junkies und Intervallfasterinnen schmeißt, ordentlich mit dem Hackbrett durchrührt, den gregorianischen Mittelalterchor im Hauptschiff versammelt und mit »New Love Music« ein Tape herausbäckt, das wie der feuchte Traum von Marry Lattimore und Julianne Barwick tönt. So nah waren wir der Erlösung noch nie! Christoph Benkeser
● Tape Mile Me Deaf – Ecco (Phantom)
Wolfgang Möstl hat zuletzt unter dem Namen Voyage Futur mit klöppeligem New-Age-Ambient auf sich aufmerksam gemacht, ist jetzt aber dem Titel seines neuen Mile Me Deaf-Tapes zufolge wieder hier angekommen, wo auch immer das sei: »Ecco«. Das klingt dann auch, als sei er und sein hypnagogischer Pop-Entwurf nie weggewesen, allemal aber präsenter als alle artverwandten Schlafwandler*innen, die seit Anfang der Jahre zwar geliefert, aber nicht gepunktet haben: Toro Y Moi, Washed Out, der Typ mit dem Philosophieabschluss. Möstl dagegen: Funk, Offbeats, Acid-Bässe, Baldrian-Vocals. Das alles könnte 2020 niemand anderes zueinander bringen, ohne sich dabei gehörig zu blamieren. Kristoffer Cornils
● Tape Nailah Hunter – Spells (Leaving)
Leaving liefert leise. Nailah Hunter rührt sich mit ihrem Faible für quirky Kristall-Cover-Artworks, preziöse Instrumente wie die Harfe sowie Wandtapeten-Synthies und allerhand esoterischen Beschäftigungen bestens in das Patschuli-Potpourri des Labels ein, bietet aber neben viel verstrahlter Ästhetik aber eben auch ein kompositorisches Können, das sich auf ihrem recht kurzen Debüt-Tape langsam und durch die Hintertür entfaltet. New Age? Klar. Ambient? Dafür fordern Hunters »Spells« doch zuviel Aufmerksamkeit für sich ein. Kristoffer Cornils
DER GROßE VINYL-JAHRESRÜCKBLICK IM WEBSHOP VON HHV RECORDS.
● Tape Osamu Sato – Collected Ambient Grooves 1993-2001 (Musique Pour La Danse)
Wer sich heute als Millennial durch die Welt flexibilisiert, hat als heranwachsender Systemrelevanz-Akteur mit Verbindungen zu älteren Brüdern gute Chancen gehabt, über den »LSD Dream Emulator« auf der Uralt-Playstation zu stolpern. Das Spiel, so etwas wie ein psychedelisches Minecraft, hat 1998 Osamu Sato vertont und damit genug Stoff für alle kommenden Planet Mu-Veröffentlichungen hinterlassen. »Collected Ambient Grooves 1993-2001« fangt das ein und wird zur japanischen Version von Aphex Twins Frühwerk ohne Untertitel, die in Batik-Shirts zur Weihnachtsfeier kracht. Christoph Benkeser
● Tape Prayer – Violet (Martin Hossbach)
In einem Jahr, das sich wie ein einziger Freitag, der 13. anfühlte, setzte Nicki Fehr am nur vierjährlich stattfindenden 29. Februar ein Stoßgebet ab. Geiler Move. Als Prayer bewegt er sich wie die Farbe, nach der er sein Projekt benannt hat, irgendwo zwischen der tiefblauen Melancholie von Schlafzimmer-Pop ohne Schlafzimmerblick und unsichtbaren bis undurchsichtigen Klangexperimenten, die hier Minimal Music und dort ein zerschossenes Telefongespräch zitiert. »Violet« ist ein geheimnis- und wundervolles Album, bescheiden und doch alles andere als verschüchtert. Bitte dann am 29. Februar 2024 das nächste, wenn dann die Welt noch steht. Kristoffer Cornils
● Tape SDEM – ZNS (Seagrave)
Kein gutes Jahr für irgendetwas außer einem IDM-Revival. Alte Hasen, junge Nasen: Zwischen Autechre-Double-Releases, Reissue-Compilations auf A Colourful Storm und upsammy wurde das Zuhausehock-Genre par excellence wieder aufgewärmt. Neue Impulse kamen auch von SDEM, dessen Doppel-Tape »ZNS« für das stets verlässliche Label Seagrave doch glatt den goldenen Hirnknoten für die Spule des Jahres verliehen bekommt. Rund 80 Minuten Krach und Knacksen, ahnungsvolle Grooves und wuchtige Maschinen-Ästhetik. Topaktuell, obwohl/weil angeblich zwischen 2004 und 2009 eingespielt. Kristoffer Cornils
● Tape The Green Kingdom – Residence On Earth (Past Inside The Present)
Drones aus dem Ikea-Katalog, Vogelgezwitscher von der letzten New-Age-Greatest-Hits-CD und tonnenweise Hall auf der Gitarre – bumms, da haben wir den Ambient-Gschnas für schlaflose Zeiten, bei der die Label-Menschen von Kranky zwölf Kerzen im Gedenken an ein Jahr entzünden, das eigentlich nicht mehr schlimmer kommen konnte, bis es noch schlimmer wurde. »Residence On Earth« von Michigan-based Michael Cottone aka The Green Kingdom macht die Welt so, wie-di-wie-di-wie sie sein sollte: Auf Soma und in Watte gepackt. Christoph Benkeser
● Tape The Marx Trukker – This Ain’t Pop (Though It Could) (Noorden)
The Marx Trukker hatte schon immer ein Händchen dafür, selbst die schrägsten Grooves zum Rollen zu bringen und das ist auf dem programmatisch betitelten »This Ain’t Pop (Though It Could)« nicht anders. So mürbe und dumpf das Sounddesign auch manchmal ist, so verschachtelt die einzelnen Elemente seines irgendwo zwischen den Polen von Ambient, Acid und IDM vermittelnden Electronica-Ansatzes auch scheinen: Am Ende bleibt davon doch etwas hängen. Und nicht eben nur etwas, sondern sogar ziemlich viel Gefühl. Kristoffer Cornils
● Tape Various Artists – Space Invaders (Blaq Numbers)
Matthias Fiedler liefert mit seinem Label Blaq Numbers wieder mal den vorgezogenen Jahresabschluss für Clubs, die ohnehin geschlossen bleiben. Zwischen Electro-Jazz, bei der Erobique zur Hantelstange greift, Breakbeats für Insomniacs und Future-Funk, der über die House-Leitung eine Verbindung zum Mars herstellt, schippern auf »Space Invaders« neben bewährten Labelspezis auch jede Menge Neuzugänge mit. Zeit, um die CBD-Krümel aus den Sofaritzen zu pulen und Teil dieses Raumschiffs zu werden. Christoph Benkeser
● Tape Various Artists – The Storm of Life (Death Is Not the End)
Manche Labels sind hin und wieder für Überraschungen gut, Death Is Not the End ist ausschließlich für Überraschungen zuständig. Neben spanisch-pakistanischer Sufi-Musik und Rebetika bot das Label 2020 mit »The Storm of Life« auch eine Gospel-Compilation an, die christliche Musik schwarzer US-Communitys als definitiven missing link popkultureller Entwicklungen in den Vordergrund rückte. Rhythm’n’Blues, Soul, Doo Wop: Das alles ist hier genauso drin wie unbegrenztes Sample-Material für die kommenden DJ-Metatron-Alben. Kristoffer Cornils
● Tape Various Artists – Kraak’s 10s & 20s (Kraak)
Wir labern wieder von Contact Tracing, dabei schafft das belgische Label Kraak seit über 25 Jahren Strukturen für die gezielte Rückverfolgung von Outsider*innen des experimentellen Outbacks. Wer auf Kraak veröffentlicht, pappt sich ein Schild mit der Aufschrift officially approved music for sick people auf die Stirn und dreht zwei Runden im Geilomobil. Für »KRAAK’s 10s & 20s« hat man den versammelten Altbestand unter Einhaltung der Abstandsregeln zusammengetrommelt, um mit den Label-Erstis die Internationale auf der Nasenflöte zu pfeifen. Christoph Benkeser
● Tape White Boy Scream – Bakunawa (Deathbomb Arc)
Völlig irrsinnig und deshalb komplett selbstverständlich bei Deathbomb Arc extrem gut aufgehoben: »Bakunawa«, das zweite Album einer ehemaligen Opernsängerin, die darauf weniger wie Anna Netrebko und stattdessen wahlweise wie Junko Hiroshige, das Personal der »Wozzeck«-Oper oder vielleicht sogar nach Lafawndah klingt. Als wäre das alles noch nicht halsbrecherisch genug, gibt es inmitten dieser Auseinandersetzung mit präkolonialer Mythologie auf den Philippinen dann sogar noch eine wirklich Gitarrenballade zu hören. Fucking weird, also rundum geil. Kristoffer Cornils
● Tape Yves Malone – The Beginning Of Nothing (Umor-Rex)
Hätten Jean-Michel Jarre und Dead Can Dance 1984 ein Kind gezeugt, es würde auf den Namen Yves Malone folgen und sich hauptberuflich mit der Exegese von Horrorfilmen aus den 1970ern beschäftigen, deren Soundtracks wie Pornofilme aus den 90ern klingen. »The Beginning of Nothing« ist die Schnittmenge zwischen Library Music und einem hellen Köpfchen aus Kanada, das sogar zwölf Kilometer unter dem Nullpunkt noch Freude am Leben findet. Der definitive Soundtrack für 2020. Christoph Benkeser
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