Wie Larry Heard vom Lufgitarristen zum Erfinder des Deep House wurde

08.09.2020
Larry Heard gilt als einer der Gründungsväter von Chicago House. Mit »Can You Feel It« prägte er das Antlitz von Deephouse. Stets blickte er über den Tellerrand der Clubmusik hinaus. Begonnen hat er seine Karriere jedoch als Luftgitarrist.

Auch wenn er es ablehnt, sich als Legende feiern zu lassen: Ohne Larry Heard kann die Geschichte von Chicago House nicht geschrieben werden. Mit »Can You Feel It«, 1986 unter dem Pseudonym Mr. Fingers zunächst als Instrumental auf Trax Records veröffentlicht, schenkte der dem Genre eine Hymne, deren zwei Jahre später erschienene Vocal-Version den Gründungsmythos dann sogar gleich noch in Worte fasst, die nicht von ungefähr wie biblische klingen: »In the beginning, there was Jack, and Jack had a groove / And from this groove came the grooves of all grooves / And while one day viciously throwing / Down on his box, Jack boldly declared / ›Let there be house!‹ / and house music was born«. In dieser Form zuerst zu hören war das nachmalige House-Music-Anthem allerdings nicht als Schallplatte, sondern auf den Dancefloors von Chicago: DJs hatten begonnen, das Acappella von Rhythm Controlls »My House« auf Mr. Fingers’ Instrumental zu montieren. Kurz darauf brachte Larry Heard via Jack Trax das Mash-up mit dem im Stil eines Predigers gehaltenen Vocal von Chuck Roberts folgerichtig auch als Vinyl-Release auf den Markt, nebst einer Fassung mit Robert Owens, der seinerzeit zusammen mit Larry Heard und dem Sänger Ron Wilson als Fingers Inc. firmierte. Ihr 1988 ebenfalls auf Jack Trax veröffentlichtes Debütalbum »Another Side« war auch eine Premiere für das gesamte Genre: die erste House-LP überhaupt.

Auch wenn er es ablehnt, sich als Legende feiern zu lassen: Ohne Larry Heard kann die Geschichte von Chicago House nicht geschrieben werden.

Produziert hat Larry Heard sein ikonisches »Can You Feel It«, das mit den markanten Synthesizer-Beats, der quecksilbernen Bassline und der verträumten Hook eine bis heute gültige Blaupause für House-Tracks generell darstellt und als Geburtsstunde des Subgenres Deep-House gilt, nur wenige Tage, nachdem er sich seinen ersten Drumcomputer, die Roland TR-909, zugelegt hatte. Die Aufnahmetechnik war genauso reduziert wie das Equipment und das Arrangement: Lediglich zwei Tapedecks standen Heard vor rund 35 Jahren zur Verfügung. Auf demselben Demo festgehalten, finden sich mit »Mystery of Love« und »Washing Machine« zwei weitere Hits für die Ewigkeit. Fragt man Heard nach seinem Vorgehen als Komponist, betont er stets den intuitiven Charakter des Prozesses: »Es war durch und durch ein Experiment«, sagte der nunmehr 60-Jährige vor einigen Jahren in einem Interview. Bis zum heutigen Tage sei diese ergebnisoffene Haltung sein Ansatz im Studio: »Ich lasse mir von den Sounds sagen, was zu tun ist und schreibe den Sounds nicht vor, wie sie zu klingen haben. Man muss ihnen zuhören.«

Kreative Partner wie Robert Owens gab es im Lauf der Jahrzehnte immer wieder – so landeten Heard und Chad White alias Mr. White 2006 mit »The Sun Can’t Compare« einen großen Underground-Hit, bereits 1986 produzierte er mit Ron Trent und Harry Dennis als The It den Track »Donnie«, einen weiteren Deephouse-Klassiker –, ein Muss sind sie für ihn nicht: Die meisten seiner Spuren vermag Heard, der tatsächlich so heißt, selbst einzuspielen – Keyboards beherrscht er genauso gut wie Bass und Schlagzeug. Auch wenn er sich nach eigenem Bekunden »nicht für Luther Vandross« hält, übernimmt er Gesangsparts hin und wieder selbst.

Begonnen hat Larry Heards künstlerische Karriere indes als Luftgitarrist und Luftpianist: Aufgewachsen in Chicago als Kind einer musikalischen Familie – die Eltern spielten Klavier und sangen, ebenso seine Tanten und Onkel, die beiden älteren Brüder griffen früh zur Gitarre, alle waren enthusiastische Plattensammler –, beschränkte sich der junge Larry zunächst auf mimetische Darstellung, was ihm den Beinamen Loosefingers eintrug, der später eines seiner zahlreichen Pseudonyme wurde. 2nd Avenue, Blakk Society, Disco-D und The Housefactors waren weitere Moniker, unter denen Heards Produktionen erschienen, nicht selten auf seinem eigenen Label Alleviated Records. Einige seiner experimentellsten (Acid-)Tracks enthalten die Releases, die er 1988 und 1989 als Gherkin Jerks veröffentlichte.

Trotz all seiner Verdienste um die Clubmusik sollte man sich hüten, Heard auf das Image des Dancefloor-Produzenten zu reduzieren. Gerade die Werke im Albumformat – etwa »Ammnesia« (1989), »Introduction« (1992) oder insbesondere der soeben wiederveröffentlichte Ambient-Meilenstein »Sceneries Not Songs, Volume One« – offenbaren, vom Soul und Fusion Jazz über Disco und Quiet Storm bis zum R&B der Achtziger, das gesamte reichhaltige Spektrum seiner Einflüsse. Doch ob Clubhit oder Listening-Longplayer – Heards außergewöhnliche Musikalität ist in jeder seiner Produktionen spürbar. Vor Jahrzehnten hat er Chicago gegen Memphis, Tennessee eingetauscht, DJ-Gigs gehören seit 2012 der Geschichte an. Larry Heard muss niemand mehr etwas beweisen, aber wie sein vor zwei Jahren erschienenes Album »Cerebral Hemispheres« zeigt: Als Produzent sollte man den Deephouse-Erfinder noch immer jederzeit auf der Rechnung haben.