Sade – Magie ohne Mysterium

12.10.2020
Foto:© Sony Music
Mit dem Box-Set »This Far« wird das Gesamtwerk von Sade neu veröffentlicht. Viel ist das nicht. Aber Sängerin Helen Folasade Adu ist nicht nicht nur der größte Superstar, der nie einer werden wollte – sondern singt nur, wenn sie es will.

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Eigentlich gibt es an der Musik von Sade nichts gutzuheißen. Sie ist smooth, samtig, säuselig. Unzeitgemäß. »Diamond Life« oder »Promise« sind Schallplatten, die auf jedem Flohmarkt in angestoßenen Pappkartons Staub sammeln und »Smooth Operator« oder »The Sweetest Taboo« Songs, zu denen höchstens überteuerter Rotwein aufploppt, die aber schon lange nicht mehr automatisch Knopfleisten öffnen. Denn die Zeiten sind andere als damals, Mitte der 1980er Jahre, als Helen Folasade Adu und ihre Band wie über Nacht weltbekannt wurden, das Verständnis von Coolness neu definierten und sich dann Schritt für Schritt immer rarer machten. Denn mit dem Riesenerfolg kam die Entschleunigung. Acht Jahre verstrichen zwischen dem vierten und dem fünften Album der Gruppe, dann folgte eine lange Pause und auf ein kurzes Comeback mit der LP »Soldier of Love« im Jahre 2010 herzlich wenig. Sade steuern zwei Songs zu Filmsoundtracks bei, mehr bekam die Welt zuletzt nicht zu hören.

Stuart Matthewman, der Gitarrist ihrer Band, erzählte Adu lachend vor zehn Jahren in einem Interview, hätte ihr ein Foto geschickt, auf dem ein Poster von ihr zu sehen war, über das jemand »The bitch sings only when she wants to« gekrakelt hatte. Sowas also findet eine Adu witzig: banale Wahrheiten. Eine andere, nicht minder banale Wahrheit lautet: Sade machen vielleicht Musik, die in der Theorie eigentlich niemand mögen dürfte, die in der Praxis aber unmöglich nicht geliebt werden kann. Denn so sanft und soft sie auch sein mag, ist sie dennoch an den richtigen Stellen subtil und nicht selten sogar subversiv. Wie auch die Person dahinter wie eine Charismatikerin ohne Charakter erscheint, als kleine Projektionsfläche für ganz große Gefühle, hinter der herzlich wenig zu finden ist. Was nur eben nicht heißt, dass dort nichts befinden würde, sondern dass sie schlicht nichts anbieten will. Adu ist der größte Superstar, der nie einer sein wollte, ihre Magie ohne Mysterium. Während andere auf allen Kanälen ihr Image kultivieren, lebt sie nach vier einfachen Regeln: Niemals mit der Boulevardpresse sprechen, keine Modestrecken, niemals bei Supermarkteröffnungen oder Galas auftreten und keinen roten Teppiche betreten. Ihr Label musste sie förmlich dazu zwingen, ihre Alben zu bewerben. Mittlerweile lebt sie in England auf dem Land und freut sich darüber, dass sie niemand aus der Nachbarschaft nach ihrem Privatleben befragt.

Adus Lebensgeschichte ist schnell erzählt: Geboren wird sie im Jahr 1959 in Nigeria und zieht mit vier Jahren zu ihren Großeltern in Großbritannien, bevor sie zu ihrer Mutter nach Holland-on-Sea übersiedelt. Eine verschlafene Küstenstadt, in der Angehörige der Arbeiterklasse Urlaub machen und sich später für ihren Lebensabend ein Haus kaufen. »Es ist voller Pudel und ohne Pudel-Salons«, fasste Adu das selbst zusammen: gekaufter Stil ohne den Geschmack dahinter. Zuhause läuft wenig Musik, aber sie klinkt sich in britische Piratensender ein und hat Erweckungserlebnisse mit Gil-Scott Heron und Timmy Thomas. Bald sammelt sie Platten von Billie Holiday und Miles Davis, eine neue Welt tut sich jenseits der Council-House-Tristesse auf. Es verwundert nicht, dass es die junge Frau in die große Stadt zieht. In London verkauft sie Klamotten, studiert Design und modelt. Vor allem aber hängt sie mit Ex-Studis rum – »Typen, die kein Geld, aber guten Geschmack hatten« – und trinkt Bier statt überteuerten Rotwein. Sie heuert bei einer Band namens Pride an, gründet im Jahr 1983 ihre eigene und gibt schon bald Konzerte, bei der mehr Menschen an der Tür abgewiesen werden, als der Club fassen könnte. Es folgt der Plattenvertrag, das erste Album »Diamond Life« und schließlich grenzenloser Ruhm. Sie kann ihre Bruchbude gegen eine besser Wohnung eintauschen und könnte ohne Weiteres auf dem Erfolg surfen, macht aber lieber weiterhin ihr Ding.

Das letztlich ist das Schöne an »Diamond Life«: Die Abwesenheit von Ego inmitten der Privatissima.

Das im Juli 1984 veröffentlichte »Diamond Life« ist ein monumentales Album, weil es genau das Gegenteil von einem monumentalen Album ist. Während die halbe Popwelt noch auf der Resteuphorie der Disco-Welle reitet und die andere zu zappeligem Synth-Pop oder Hip-Hop rauf und runter hüpft, sind die neun Stücke aalglatt wie eine Phil-Collins-Nummer und aufgeräumt wie das Wohnzimmer einer Sitcom-Familie. Jazz existiert eher als Echoeffekt, der Funk ist domestiziert, nur in seltenen Momenten wie im Mittelteil des Albums testet die Band Dynamiken aus, schmuggelt kurze Soli in den Mix. Der Rest ist Wah-Wah-Geschlacker, Midtempo-Grooves, Wandtapetenmusik eigentlich, vor der sich die Sängerin in Szene setzen kann. Ohne sich freilich zu inszenieren. Der Cool von Sade ist kein distanzierter, sondern geht nahe, ihre eigene Präsenz ist nicht ohne die Band denkbar – Matthewman, Andrew Hale am Keyboard und Paul S. Denman am Bass sowie auf dieser LP noch Paul Cooke an den Drums. Das letztlich ist das Schöne an »Diamond Life«: Die Abwesenheit von Ego inmitten der Privatissima. Und wie die Songs intime Themen zu bespielen scheinen, spielen sie doch vor allem mit Doppeldeutigkeiten: Nicht wenige der Songs lassen sich genauso als Verhandlungen von Prostitution und anderen Konsequenzen von Armut mitsamt aller Implikationen von struktureller, geschlechterspezifischer Unterdrückung interpretieren, wie sie oberflächlich betrachtet als sentimentale torch songs funktionieren. »Wenn du singst, wenn du dich selbst präsentierst, gibst du nicht alles von dir preis«, soll Adu ein paar Jahre später sagen. »Ich glaube, die Leute sehen mich als diese Depressive an, die in ihrem Elfenbeinturm vor sich hin heult.« Was eben durchaus ein Interpretationsangebot, nicht aber unbedingt die Wahrheit ist.

Das im Folgejahr veröffentlichte »Promise« nimmt sich mehr Zeit, das Gros der Songs ist länger als vier Minuten. Sade genießt Narrenfreiheit und die Band selben Namens spielt sich merklich weiter in den Vordergrund. »Promise« wird wie die meisten der Alben des Projekts weitgehend von Adu und Matthewman geschrieben, doch nehmen die einzelnen Instrumente mehr Platz für sich ein, vor allem Matthewmans Saxofonspiel. Ein Hauch von Jazz wird hörbar und als seichte Brise in den Sound integriert. Die elektronisch unterfütterten funkigen Untertöne werden drei Jahre später auf »Stronger Than Pride« aufgegriffen und in einen kompakteren Sound eingefriedet. Die lyrische Ambiguität allerdings löst sich darüber langsam in recht eindeutigen Liebesliedern auf. Explizit werden auch die Texte von »Love Deluxe«, das im Oktober 1992 erscheint – wenngleich auf andere Weise. Während der Opener »No Ordinary Love« die destruktive Verausgabungsromantik des Vorgängers weiterdenkt, spricht schon der zweite Song »Feel No Pain« von sozialen Missständen: »Mamma been laid off / Pappa been laid off / My brother’s been laid off / For more than two years now«. Es folgt ein Stück über das Trauma des Vietnamkriegs (»Like a Tattoo«) sowie ein Song, der die Geschichte einer in Armut lebenden Somalierin erzählt (»Pearls«). Flankiert werden sie allerdings von viel Herzschmerz. Themen, die auf »Diamond Life« miteinander verwickelt wurden, stehen plötzlich in scharfem Kontrast miteinander – und rauben einander damit die Durchschlagskraft.

Es soll das letzte Lebenszeichen der Gruppe für lange Zeit sein. Adu zieht sich zurück, die Mitglieder der Band formieren sich unter anderem Namen neu. Mit »Lovers Rock« kehren Sade erst 2000 zurück und lassen danach weitere stolze zehn Jahre verstreichen, bevor sie mit »Soldier of Love« ihr sechstes Album veröffentlichen. Wo die erste der beiden LPs vor allem eine musikalische Auseinandersetzung mit dem titelgebenden Reggae-Subgenre darstellt, nimmt es thematisch aber auch strukturellen Rassismus auf. »Soldier of Love« derweil stellt wieder einen tiefenentspannten Kontrapunkt zum musikalischen Zeitgeschehen dar: Am Anfang einer turbulenten Dekade, zwischen EDM-Hype und aufgekratztem Stadion-Pop von Ke$ha oder Lady Gaga bringt diese Frau wieder Balsam unter das aufgekratzte Volk. Das funktioniert auch deshalb, weil Songs wie das Titelstück ein paar Lektionen aus dem Hip-Hop-Geschehen der vorangegangenen Jahre mitnehmen. Sade sind zur falschen Zeit am richtigen Ort. Obwohl nur »Babyfather« dezidiert Persönliches thematisiert, wird die Liebesmetaphorik martialischer: Die Soldatin Sade zieht mit Schwerter und Pistolen bewaffnet aus – während Adu glücklich liiert irgendwo im britischen Hinterland ihre Villa pflegt, versteht sich. Waren die Vorgängeralben noch irgendwie auf die Person Adu hinter der Persona Sade zurückzuführen, auf Gossip über ihr Liebesleben und angebliche Suchtprobleme, stellt sich bei »Soldier of Love« endgültig die Frage, ob die Depressive im Elfenbeinturm nicht vielleicht eine reine Erfindung ist. Von Adu selbst, aber auch der PR-Maschinerie und der Presse, mit der sie so ungern spricht.

Sade
This Far
Sony • 2020 • ab 187.99€
Vielleicht ist es letztlich Adus eigentliches Projekt, genau das aufzudecken, über einem scheinbar ewig gleichen Sound durch die Verhandlung von sich weitgehend gleich bleibenden Themen Differenzen erfahrbar zu machen. Solche zwischen Stil (der Theorie) und Geschmack (der Praxis) etwa, vor allem aber der zwischen der Rezeption von Popstars und der Realität dahinter, zwischen aufgebauschten Mythen und banalen Wahrheiten also. Denn das ist es doch, was Sades Musik bis heute ebenso außergewöhnlich wie zeitgemäß, so subtil und subversiv macht: Dass hinter der Magie gar kein Mysterium behauptet wird.


Die Schallplatten von Sade findest du bei HHV Records [hier](https://www.hhv.de/shop/de/sade-vinyl-cd-tape/i:A3080D2N4S6U9.)