Records Revisited: OutKast – Stankonia (2000)

31.10.2015
Mit ihrem vierten Studioalbum feierten OutKast den internationalen Durchbruch. Auf seinem künstlerisch kompromisslosen Meisterwerk hat das Duo sämtliche Genrekonventionen hinter sich gelassen und neue Horizonte im Hip-Hop eröffnet.

Sie kamen aus dem Süden und sie hatten etwas zu sagen. Als das Duo OutKast aus Atlanta 1996 mit »ATLiens« weiter ins Bewusstsein des informierteren Teils der deutschen Hip Hop-Öffentlichkeit rückte – ihr zwei Jahre zuvor veröffentlichtes Debütalbum »Southernplayalisticadillacmuzik« war hierzulande lediglich als Importvinyl erhältlich und blieb tendenziell noch einem kleineren Kreis von Insidern vorbehalten –, stand man vor einem so offensichtlichen wie rätselhaften Meilenstein. Mit Songs wie »Elevators (Me & You)«, »Wheelz of Steel« oder dem Titeltrack war »ATLiens« das perfekte Album zur Stunde, markierte es doch wie Leuchtstreifen in einem verrauchten Flugzeug den Fluchtweg zu den Notausgängen für ein Genre, das zwischen stagnierendem G-Funk à la Warren G und dem martialischen Macho-Gehabe des Gangsta-Rap’ in einer Sachgasse gelandet zu sein schien.

Bereits im Jahr zuvor waren André »3000« Benjamin und Antwan »Big Boi« Patton im Eklat um die Verleihung des Source Awards anlässlich der von gegenseitiger Ignoranz und Unduldsamkeit geprägten Konfrontation zwischen East Coast und West Coast mehr als zähnezeigende denn als lachende Dritte mit der Auszeichnung als »Best New Rap Group« von der Bühne gegangen. Wer sonst hätte in der aufgepeitschten, aggressiven Stimmung der Mitt-Neunziger den Mut aufgebracht, in einem Album Kate Bush, Focus, Led Zeppelin, Vangelis und Iron Butterfly mit Quincy Jones, The Chambers Brothers, A Tribe Called Quest und sich selbst zusammenzubringen? Schwer vorstellbar, wie diese so zwingende wie unwahrscheinliche Mixtur aus psychedlisch-trippigem Soundplay, tiefenentspannten Raps und bouncenden Beats noch zu toppen sein sollte. Umso größer die Verwunderung, mit welcher spielerischen Leichtigkeit ihnen ebendies zwei Jahre später gelang, als auf »Aquemini« der vom klassischem Soul und Funk eines Isaac Hayes oder Curtis Mayfield inspirierte Dirty-South-Hip Hop ihres Debüts mit der Spaced-Out-Attitude von »ATLiens« zu etwas noch Größerem verschmilzt. Die Riege der Studiomusiker, die für die organische Musikalität des OutKast-Sounds von Beginn an von großer Bedeutung waren, wurde nochmals erweitert, die stilistische Palette mit Country, Electro, Dub Reggae und Jazz abgerundet. Von der Fachpresse bis zur Los Angeles Times herrschte Einigkeit: »Aquemini« war nicht nur das HipHop-Album des Jahres, sondern eines kompletten Jahrzehnts. Was also sollte da noch kommen?

Stankonia« war ein echter Beatles-Moment zur Jahrtausendwende: So unwiderstehlich, dass sich nahezu alle, vom Homeboy bis zur Grammy-Jury, darauf einigen können, zugleich so avanciert, dass es als ultimative Zuspitzung und Erweiterung des Genres dessen state of the art definierte.

In diese Situation hinein erschien im Oktober 2000 »Stankonia«. Benannt nach dem Aufnahmestudio des Duos (»the place from which all funky thangs come«, wie im Intro zu hören ist) und ein Wortspiel mit der ursprünglichen Bedeutung von Funk (auf Deutsch ungefähr: Gestank), bedeutete ihr viertes Album mit Singleauskopplungen wie »B.O.B. (Bombs Over Baghdad)«, »Ms. Jackson« und »So Fresh, So Clean« den endgültigen Durchbruch für OutKast. »Stankonia« war ein echter Beatles-Moment zur Jahrtausendwende: So unwiderstehlich, dass sich nahezu alle, vom Homeboy bis zur Grammy-Jury, darauf einigen können, zugleich so avanciert, dass es als ultimative Zuspitzung und Erweiterung des Genres dessen state of the art definierte, den aktuellsten und gültigsten Stand der Entwicklung, hinter den niemand mehr zurückkonnte. Auch in Deutschland war mit diesem Longplayer der Punkt erreicht, an dem die einstigen Underground-Avantgardisten – die Ausgeschlossen ließe sich ihr Name ins Deutsche übersetzten; auch mit dem Kofferwort »ATLiens« (gebildet aus »Atlanta«, kurz: ATL und »aliens«) griffen OutKast ihre (Hip Hop-)gesellschaftliche Disposition als Outsider auf – zu einer der beliebtesten Hip Hop-Formationen geworden sind. »Ms. Jackson«, in dem André 3000 seine Trennung von der Neo-Soul-Queen Erykah Badu thematisiert, stand zwei Wochen an der Spitze der deutschen Singlecharts und ist bis heute der größte Hit geblieben, den OutKast hier landen konnten – was wohl am wenigsten daran liegt, dass in dieser Entschuldigung bei den »Müttern der Mütter unserer Babies« Richard Wagners als Hochzeitsmarsch bekannter Brautchor »Treulich geführt« aus »Lohengrin« gesampelt wurde.

Gerade noch ein Fall für Spezialisten, Experten und sonstige Bescheidwisser, wurden André 3000 und Big Boi auf einen Schlag als Popstars wahrgenommen. Gleichzeitig liegt mit »Stankonia« ein künstlerisch kompromissloses Meisterwerk vor, das nicht zu Unrecht mit ikonischen Alben wie Funkadelics »Maggot Brain« (1971) und »1999« (1982) von Prince verglichen wird. Die Spur zu einer Parallele haben OutKast selbst ausgelegt: Die amerikanische Flagge auf dem Cover ist eine deutliche Anlehnung an »There’s A Riot Goin’ On« (1971) von Sly and the Family Stone – allerdings mit schwarzen statt roten Streifen, was in Andrés Worten für den »Tod Amerikas« stehe. Erneut haben sie mit ihrem langjährigen Producer-Team Organized Noize und ihrem DJ David Sheats das Spektrum an Einflüssen erweitert: Zu den bereits vorhandenen Rock-Elementen treten Impulse aus der Rave-Kultur. In »B.O.B. (Bombs Over Baghdad)« trifft Uptempo-Drum’n’Bass auf einen Gospelchor, Orgelklänge und E-Gitarren – von der Verwendung des im Vorfeld der George W. Bush ins Weiße Haus einschleusenden Präsidentschaftswahlen veröffentlichen Songs durch US-Truppen im Dritten Golfkrieg haben sich OutKast übrigens seinerzeit, wie von der kompletten US-Invasion im Irak, explizit distanziert. Musikalisch klingt manches hier wie eine Vorahnung von Trap.

OutKast
Stankonia
LaFace • 2000 • ab 35.99€
Auch inhaltlich lassen OutKast sich keinerlei Beschränkungen mehr auferlegen, weder vom normativen Druck administrativer Instanzen (»Don’t everybody like the smell of gasoline? / Well burn, motherfucker, burn American dreams« heißt es in »Gasoline Dreams«) noch von der Black Community: Paradoxerweise ist es gerade die Reibung zwischen den gegensätzlichen, ihrerseits bereits gegensätzliche Zügen aufweisenden Charakteren – der modebewusste Vegetarier und gesellschaftspolitisch bewusste Dandy André 3000 vs. Big Boi, den ehemaligen Pitbullzüchter mit Berufswunsch Kinderpsychologe –, die OutKast zu einer unverwechselbaren Einheit macht und es ihnen erlaubt, sich von Gesetzestexten und Gruppenzwängen freizumachen, stereotype Erwartungen und Genrekonventionen hinter sich zu lassen. Im minimalistisch-lasziven »I’ll Call B4 I Cum« wird etwa darüber diskutiert, die sexuellen Bedürfnisse einer Frau vor die eigenen zu stellen. Diese im Studio und am Mikrofon ausgelebte dialektische Twist ist – gewissermaßen als soundkritische Wende – dafür verantwortlich, dass »Stankonia« neue Horizonte im Hip-Hop eröffnete und noch heute wie ein Kaleidoskop sich überschlagender Ideen und potenzierender Doppeldeutigkeiten mit jeder Umdrehung aufs Neue Sinn produziert. Auch wenn ihr größter kommerzieller Erfolg mit »Speakerboxxx/The Love Below« noch drei Jahre auf sich warten ließ, bleibt »Stankonia« künstlerisch der größte Triumph von OutKast: geerdet in der Hip Hop-Geschichte UND futuristisch, sexy UND feministisch, komplex UND Pop-as-Pop-can-be, privat UND politisch – auch im Abstand von 20 Jahren noch ein Jahrhundertalbum.


Die Musik von Outkast findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/outkast-vinyl-cd-tape/i:A651D2N4S6U9.)