Corona: Krise des Körpers, Krise des sozialen Gewebes. Wie zueinander finden wenn das Miteinander gefährdet? Mögliche Antworten auf diese Frage wurden wie immer vor allem von der Musik formuliert, die sich im digitalen Raum zum Cornern traf und nebenbei mit einer Compilation nach der nächsten bewies, dass Solidarität und Zusammenhalt auch dann praktisch weitergedacht werden kann, wenn die Clubs und Kneipen dieser Welt die Rollläden herunterlassen müssen. Neben Werkeinstiegen zu Künstler*innen wie Beverly Glenn-Copeland und Sade sowie DJ-Mixen von etwa Helena Hauff und Avalon Emerson finden sich deshalb unter den folgenden 20 Schallplatten auch Würdigungen an die Verstorbenen des Jahres, Geschichtslektionen bezüglicher schwarzer britischer Dance-Geschichte und gegenwärtiger traditioneller Musik aus Afrika und dem Underground-Treiben in Japan. Die (fast) ganze Welt schwingt bei 33 1/3 im Gleichklang. Das ist doch was, und sogar sehr viel. Kristoffer Cornils
DER VINYL-JAHRESRÜCKBLICK IM WEBSHOP VON HHV RECORDS.
● Vinyl LP Adult Fantasies – Towers Of Silence (Stroom)
Als zwischen 1988 und 1994 die drei Alben von Adult Fantasies erschienen, war das belgische Duo seiner Zeit weit voraus. Mit ihrer Mischung aus suggestiver Ambientelektronik, Avantgarde-Jazz-Rock und tribalen Sounds saßen Dirk Seghers und Gerrit Valckenaers zwischen allen Genrestühlen, was zu Beschreibungen wie „experimenteller Art Rock mit EBM-Einflüssen“ führte. Produziert von Gerry Vergult (Fred Angst, Aroma Di Amore), klingen die Songs von Adult Fantasies, als hätte man die DNA von Nico, David Sylvian und Coil gekreuzt. Dieser Querschnitt ihres Œuvres ermöglicht eine der Wiederentdeckungen des Jahres. Harry Schmidt
● Vinyl 2LP Avalon Emerson – DJ Kicks (!K7)
Es gibt die Goldenes-Handwerk-DJs, es gibt die Gude-Laune-DJs und es gibt DJs wie Avalon Emerson, die alles können und es trotzdem nicht allen unter die Nase reiben möchten, weil Musik ja schließlich Bock bringen soll. Ihre Ausgabe der »DJ-Kicks«-Serie steckt zwar voller Exclusives und mit ihrem Magnetic-Fields-Cover zum Auftakt inszeniert sie sich auch als fantastische Muss-nicht-immer-Dance-sein-Produzentin, das alles aber geschieht mit fast demütiger Bescheidenheit: Dieser Mix ist gerade deswegen so mitreißend, versatil und wunderschön, weil Emerson einfach nur macht, was sie am besten kann. Kristoffer Cornils
● Vinyl LP Beverly Glenn-Copeland – Transmissions: The Music Of Beverly Glenn-Copeland (Transgressive)
Neues Jahr, neue erfreuliche Nachrichten von Beverly Glenn-Copeland. Neben einem beim Le Guess Who? aufgezeichneten Live-Album ist »Transmissions: The Music Of Beverly Glenn-Copeland« das verspätete Einstiegswerk in einer der kuriosesten Spätzünderkarrieren der letzten zehn Jahre. Gut, »Good Morning Blues« hätte auch noch drauf gepasst, aber so eine Compilation soll ja immer auch ersten den Start einer großen Entdeckungsreise markieren. Hoffen wir, dass Copeland selbst seine eigene noch lange fortführen kann. Kristoffer Cornils
● Vinyl LP Priscilla Ermel – Origins Da Luz (Music From Memory)
Speaking of: Rezeptionsnovellierung. Anfang des Jahres habe ich die Platte geliebt. Priscilla Ermels Lieder waren kleine Etappen auf einer langen mysteriösen Reise in die düstersten Ecken des brasilianischen Regenwaldes. Heute gleichen sie Requien für tausende tote Indigene, die der menschenverachtenden (Corona-)Politik Jair Bolsonaros zum Opfer gefallen sind. Ganze Stämme wurden ausgelöscht, audf *»Origins Da Luz«** hören wir noch ein Mal ihre Kultur und ihre Instrumente. Eine betörend-verfluchte Platte. Lars Fleischmann
● Vinyl LP Ron Boots, Jo Bogaert, Morte – Lachrymation/Ambient Kinsky/Sahara I Mine Haender (Stroom)
Mischt man Kraut mit New Age-Attitüde und schnüffelt am Zeder-Gemisch von Aesop-Kerzlein, kann man sich zwar nicht vorstellen, auf welchem Trip die Herren Ron Boots, Jo Boggaert und Morten Søndergaard Mitte der 90er gewesen sind – aber mit der auf Stroom erschienen Platte erhält man zwischen Topfpflanzen und instagramtauglichen LSD-Trip die Qual der Wahl: rote oder blaue Pille? Für immer jung oder doch mit einem Fuß auf dem Gaspedal in die Midlife-Crisis? Christoph Benkeser
● Vinyl LP Ruth Anderson – Here
Ruth Anderson ist Ende des Jahres 2019 im Alter von 91 Jahren gestorben und so hat sie die Veröffentlichung ihrer ersten Soloschallplatte »Here« auf Ar Light Editions nur wenige Monate später leider verpasst. Dioe Testpressung hat sie dem Vernehmen noch gehört. Dennoch: Der Tod spielt einem manchmal seltsame Streiche. Ruth Anderson war die erste Frau, die Anfang der 1960er Jahre an der Princeton University Graduate School zugelassen wurde. Neben ihrer akademischen Tätigkeit arbeitete sie für das Fernsehen. Zu hören sind hier fünf minimalistische Stücke, die eine schöne Palette von Musique conréte, Plunderphonics, Drones bieten. Gemastert wurde die Schallplatte von Giuseppe Ielasie. Sebastian Hinz
● Vinyl 6LP Sade – This Far (Sony)
Seit zwei Jahren steht ein neues Album von Sade in Aussicht, im nächsten könnte es endlich soweit sein. Solange bietet »This Far« im wuchtigen Box-Set-Format an, was sowieso schon alle kennen und lieben: Sechs Alben, über deren Verlauf hinweg die Band um Sade Adu sich immer weniger um die Marktzwänge geschert hat und doch auf der Höhe der Zeit blieb. So weit ging’s also und recht bald schon weiter – es gibt sie noch, die schönen Aussichten. Kristoffer Cornils
● Vinyl 2LP Various Artists – Black Riot: Early Jungle, Rave And Hardcore (Soul Jazz)
Jungle ist seit ein paar Jahren wieder da, und vielleicht ist der Irrwitz des Hochgeschwindigkeits-„Amen Break“ gerade jetzt die beste Möglichkeit, dem Wahnsinn all around ein wenig körperlichen Ausdruck zu verleihen. Geht ja auch zu Hause noch ganz gut. Zeit für einen »Black Riot« ist allemal. Soul Jazz leistet dazu elektrisierende Erinnerungsarbeit an die Anfänge des Hardcore Continuums mit 175 BPM-Beiträgen von frühen Jungle-Pionieren wie DJ Duplate, The Freaky oder Hi Fi Power. Wicked! Tim Caspar Boehme
● Vinyl 2×12inch Various Artists – Endlich Normale Menschen Vol.1 (Ear Clip Series)
Lyon handshakeemoji Berlin. Die von Low Bat kuratierte Compilatoin »Endlich Normale Menschen Volume 1« ist trotz Tommy Gerhardt-ismus im Titel eine weitgehend unblödelige Angelegenheit, die Kashual-Plastik-Charme mit biggem Big Beat und rumpeligem Industrial zusammendenkt, das Ganze auch noch konsequent sequenziert und damit für die Lockdown-Crowd einen halben Arkaoda-Ersatz-Abend kredenzt, der spätestens mit dem Rewind in die Verlängerung geht. Nummer zwei kann kommen, noch steht das Bier im Kühlschrank kalt. Kristoffer Cornils
● Vinyl 2×12inch Various Artists – Join The Future – UK Bleep & Bass 1988-91 (Cease & Desist )
Zurück nach dort, wo alles anfing: 1988 bis 1991, die Wendezeit in Westeuropa, als sich nicht nur politisch, sondern auch musikalisch so manches zum Besseren zu wenden schien. »Join The Future« hieß es damals selbst in der Glotze – und was für einen Bock die Leute hatten! Deutlich wird das auf diesem verspielten, fast schon kindlich gut gelaunten »Join The Future – UK Bleep & Bass 1988-91«-Sampler in zehn knackigen, teils kultigen Tracks von damaligen Szenegrößen. Kuratiert von Matt Anniss, gemastert von Warp-Mitgründer Rob Gordon. Nils Schlechtriemen
DER VINYL-JAHRESRÜCKBLICK IM WEBSHOP VON HHV RECORDS.
● Vinyl 3LP Various Artists – Kern Vol. 5: Helena Hauff (Tresor)
Scheiße, was macht eigentlich Helena Hauff!? Keine andere DJ lebt dermaßen davon, hinter den Decks den Jahresverbrauch der VW-Flotte wegzuqualmen (zumindest seitdem Lena Willikens mit dem Vapen angefangen hat) und dabei unbedarften Jung-Raver*innen eine Electro-Lektion nach der nächsten um die Ohren zu ballern. Das funktioniert nicht im Zoom-Konferenz-Format, dankenswerter Weise aber hat sie ihrem überragenden Mix »Kern Vol.5« ein paar Hausaufgaben in Form von Exclusives und Raritäten beigelegt. Bitte durchbüffeln, Multiple-Choice-Test kommt nach dem Impfstoff. Kristoffer Cornils
● Vinyl LP+DVD Various Artists – Kparr Dirè – Balafon Music From Lobi Country (Edition Telemark)
Während sich halb Zentraleuropa vorbeugend die Waden massierte, weil während der Festival-Saison mit viel Singeli zu rechnen war, brachte ein Avantgarde-Label stillschweigend im März die noch viel krasseren Grooves heraus. »Kparr Dirè – Balafon Music From Lobi Country« versammelt Aufnahmen der Lobi in Burkina Faso, die rasante und verschlungene Grooves ineinander weben wie das selbst versierte Footwork-Producers nicht ohne Weiteres hinbekommen. Mindmelter! Der nicht unwichtige Zusatz: Die Einnahmen gehen direkt an die Leute vor Ort. Kristoffer Cornils
Various Artists – Lifesaver Compilation 4 – 21 (Dedicated To Andrew Weatherall) (Live At Robert Johnson)
Hier kommt einiges zusammen: Zum einen feiert die Zusammenstellung das 21-jährige Bestehen der Offenbacher Clubinstitution Robert Johnson. Gleichzeitig war den Producern bewusst, mit ihren Beiträgen den im Februar verstorbenen Andrew Weatherall als einen der großen Freigeister der Clubkultur zu würdigen. Dem im Namen der Reihe manifestierten hehren Anspruch werden nahezu alle 21 Exclusives der Fünffach-Vinyl-Box vollumfänglich gerecht: Unverzichtbar, lebensrettend, unvergesslich ist so gut wie jeder Track der »Lifesaver Compilation 4. Harry Schmidt
● Vinyl 2LP Various Artists – Minna Miteru (Morr Music)
Die Notwist-Japan-Connection hat in den vergangenen Jahren schöne Blüten getrieben und als wäre die dezent unübersichtliche, unbedingt aber willkomene Release-Flut von Tenniscoats-Alben nicht genug, legten Markus Acher und deren Mitglieder eine mehr als satte Compilation mit Tracks von Bands und Künstler*innen aus dem erweiterten Umfeld vor, die trotz ihres massiven Umfangs so gut wie keine Schwächen hat. »Minna Miteru« heißt übersetzt soviel wie »Alle hergeschaut!« und viel gibt’s da nicht zu ergänzen. Kristoffer Cornils
:● Vol.1 | ● Vol.2 Various Artists – Mother’s Finest (Mother’s Finest)
Tja, dumm gelaufen: Erst wird die Homebase den Immobilienhaien zum Fraß vorgeworfen, dann die Ausweichlocation pandemiebedingt geschlossen. Die Berliner Party-Reihe Mother’s Finest ist mittlerweile im Griessmuehlen-Nachfolger Revier Südost angekommen und wieder im Lockdown, glücklicherweise funktioniert die exzellente Auftakt-Compilation des angeschlossenen Labels aber auch auf der Couch: Hodge, Laurel Halo, Batu, Dynamo Dreesen – ein no-brainer aus dem Bereich der avancierten Club-Musik folgt dem nächsten. Kristoffer Cornils
● Vinyl LP Various Artists – Still In My Arms: Compiled By Bayu And Moopie (A Colourful Storm)
Bayu und Moopie haben zuletzt mit »I Won’t Have to Think About You« rumpeligen Post-Punk und schrumpeligen Twee-Pop aus den 1980ern zusammengestellt, mit »Still In My Arms« kommen sie ungefähr bei der Jahrtausendwende an und bringen verschiedene Entwürfe von IDM (ausgesprochen: ei-die-am-bient) zusammen, hinter den zumeist absolute No Names und Randnummern der Musikgeschichte stehen. Große Fallhöhe also. Gut nur, dass diese zehn Tracks sowieso am Schweben sind und daher niemals auf dem Boden der Tatsachen aufschmettern werden. Wunderschön. Kristoffer Cornils
● Vinyl 2LP Various Artists – The World Is A Cafeteria
Aufwendiges Cover, persönlich geschriebene, mit Liebe und Rechtschreibfehlern gespickte Liner-Notes, so muss eine Compilation verpackt sein, da stimmt dann auch der Preis. »The World Is A Cafeteria« ist der fünfte Teil der Soul-Serie aus dem Hause Cairo. Aus einem Song trieft mehr Herzschmerz als aus dem vorherigen. Wenn man bei Jimmy Scotts unsterblicher Version von »Nothing Compares 2 U« angekommen ist, ist man ein besserer, geläuterter Mensch, demütig vor all dem, was man allen angetan hat. Für zwei Minuten. But still. Pippo Kuhzart
● Vinyl LP Various Artists – Uzelli Elektro Saz
1971 riefen Muammer und Yavuz Uzelli 1971 in Frankfurt/Main ihr Label Uzelli Kaset ins Leben, um den zehntausenden türkischen Gastarbeitern ein bisschen Heimatgefühl zu schenken. Im Zentrum stand nicht selten das Elektro Saz, die elektrifizierte traditionelle Langhalslaute, die als Akustikvariante bereits seit über 1400 Jahren den Klang Anatoliens verkörpert. Bis auf 14 LPs und eine handvoll 8-Track-Tapes erschienen fast alle der über hundert Alben auf Uzelli Kaset auf Kassette. Die wundervollen Esma und Murat Ertel haben sich mit viel Detailarbeit und Liebe durch das Archiv gearbeitet und die glänzendsten Juwelen auf erstmals auf Vinyl gebracht. Jens Pacholsky
● ###HHV:774148 :Vinyl 3LP### Various Artists – Virtual Dreams: Ambient Explorations In The House & Techno Age 1993-1997
Ende des Jahres veröffentlichte das Label Music From Memory seinen 50. Release: »Virtual Dreams: Ambient Explorations In The House & Techno Age 1993-1997«. Allein das wäre schon einige Glückwünsche wert, vor der Compilation selbst darf sich aber auch verneigt werden. Denn die klingt nicht wie eine Zusammenstellung 25 Jahre alter Musik, sondern hochaktuell und ist eine echte Gefahr für heutige Ambient-Musiker, weil sie zeigt, dass ihre ganze Kreativität und das Lob der Journaille nur auf einem schlechten Gedächtnis beruht. Aber die Wieder-holung im richtigen Moment ist ja auch eine Leistung. Zwinkersmiley. Lange Schelte, kurzer Sinn: super Platte! Sebastian Hinz
● Vinyl LP Various Artists – Mogadisco: Dancing In Mogadishu (Somalia ’72-91) (Analog Africa)
Als erstes Label überhaupt nimmt sich Analog Africa des popmusikalischen Erbes von Somalia an und gibt Einblick in eine facettenreiche Szene, in der Acts wie Dur-Dur Band oder Omar Shooli ihr originelles, weltoffenes und lebensbejahendes Süppchen aus Afrobeat, Dub & Reggae, Psychedelic und natürlich Disco kochten. »Mogadisco: Dancing In Mogadishu (Somalia ’72-91)« lädt zu einer mental-akustischen (Zeit-)Reise in ein Land, das die meisten nur als Krisengebiet kennen und das auch ohne Reisebeschränkungen nur die wenigsten tatsächlich besuchen würden. Martin Silbermann
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