Tanzen? Da war doch was, früher einmal. Die 12inch hat eine lange Tradition und eine ungewisse Zukunft, zugleich aber ebenso eine wilde und prekäre Gegenwart. Seit Jahren schon gibt es im erweiterten Umfeld der Clubkultur – ihr eigentlicher Wirkungsradius – kaum mehr noch die großen Konsenshits und stattdessen viele kleine Perlen, die entdeckt und gewertschätzt werden wollen. So manches Release wurde in diesem Jahr aus offensichtlichen Gründen auf die lange Bank geschoben oder gar komplett abgesagt, und doch erschienen weiterhin viele Singles, die zumindest den Lockdown-Workout oder heimische DJ-Sets befütterten. Es ist Musik, die von einer Zeit nach der Katastrophe träumt und meistens einen Club vor Augen hat, ihn aber anders denkt als zuvor, sich vom Rande des Geschehens vorsichtig zum Zentrum des Dancefloors heranpirschen. Diese 20 (plus einem aus der Reihe tanzenden Bonus) Schallplatten haben Bock auf Zukunft und verlieren keine Zeit damit, das kundzutun. Das hat sie in einem Jahr, in dem sie nicht gebraucht wurden, umso wichtiger gemacht. Kristoffer Cornils
DER VINYL-JAHRESRÜCKBLICK IM WEBSHOP VON HHV RECORDS.
● Vinyl 12inch Alan Johnson – E-Fax 006
Alan Johnson hat bereits auf seinen vorherigen Maxis das Synkopen-Game durchgespielt, wie er auf E-Fax 006 aber Jungle, Ragga und insbesondere Grime in ungewöhnliche Tempi und Drumpatterns presst, ist, ja doch, peerless. Natürlich hätte das im Club gezündet, natürlich ist das Musik, die laut gehört werden muss, aber in ihrer seltsamen Glitschigkeit ist sie gleichzeitig auch DIE programmatische Dance-Maxi des Jahres für mich: Musik die eigentlich keine Heimat mehr hat, der allerechte Alienscheiß, die endlos in die Ferne timegestretchte Utopie. Florian Aigner
● Vinyl 12inch Anz – Loos in Twos (Nrg) (Hessle Audio)
Ja, schon klar, Altern-8 haben sich nach drei Jahrhunderten wieder zurückgemeldet, weil ihre Outfits endlich wieder en vogue sind. Eigentlich aber braucht’s nur den Titeltrack von »Loos in Twos (Nrg)« mit seinen plötzlich in den Mix scheppernden ‘Ardkore-Chords, um wieder von illegalen Raves im Londoner Speckgürtel circa ‘92 zu träumen. Ein Glück, dass Anz ihr Publikum auf der B-Seite mittels zweier spartanischer Workouts mit Electro- und Gqom-Flavour daran erinnert, dass sich aus epidemiologischen Gründen Bodenturnen auf der Yoga-Matte viel eher anbietet. Kristoffer Cornils
Blazer Sound System / CS+Kreme – Split (Efficient Space)
Blazer Soundsystem auf der einen, CS+Kreme auf der anderen Seite dieser äußerst attraktiv aussehenden 10inch. Genauer: »Baby Got Back« Dub-Version auf der einen, weirder Synth-Headbanger auf der anderen Seite. Die einzige Kunstplatte dieses Jahr, zu der man einen ganz schwarzen Tracksuite tragen möchte. Pippo Kuhzart
● Vinyl 12inch Mohammad Reza Mortazavi & Burnt Friedman – Yek 2 (Nonplace)
Wenn die Welt nur ein kleines Bisschen wäre wie die gemeinsam von Burnt Friedman und Mohammed Reza Mortazavi ersponnene Musik, wäre sie ein großes Bisschen besser. »YEK2« ist der Nachfolger ihrer ersten EP aus dem Jahr 2017 und fragt noch eindringlicher danach, warum sich das Gros dieser Welt beim Musizieren noch an Regeln hält, die schon seit fünf Jahrzehnten als passé geächtet sein sollten. Solange es darauf keine Antwort gibt bleiben die wirbelnden Rhythmen und dezenten Tonalitäten dieser Musik aber vollumfänglich essentiell für diese Welt. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch D. Tiffany – Cruel Trance (Lou Karsh Rhythms)
Baller-Trance war der Sound der plague raves, für Hauntolo-Trance zeigte sich DJ Metatron zuständig und »Cruel Trance« nennt sich die langsame RAMZification von D. Tiffanys Sound. Die Rhythmen werden komplexer, die Soundästhetik tropischer, das Ganze also sphärischer und der Stimmungslage dieses Jahrs gerechter. Wenn nicht die Electro-Abstraktion »4 Leaf« so merklich zum Dancefloor zurückkehren wollte, läsen sich diese Stücke fast wie ein Bewerbungsschreiben auf einen Deal mit Marionette. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch FFT – Bruk1 (Bruk)
FFT aka Josh Thompson fka Alma Construct ist ungefähr das, was passieren würde, wenn Djrum, Mr. Mitch, Don’t DJ, Photek, DJ Rashad (RIP!) und Venetian Snares miteinander in den Ring stiegen und seine Auftakt-EP für das Label Bruk dementsprechend ein harter hitter. Trance-Stabs irrlichtern durch den Raum, die Percussion rattert wie ein Lastenrad ab Kilometer zwölf und zwischendurch wird alles mit Dub eingewattet, damit der Aufschlag nicht so weh tut. »Bruk1« kommt sogar mit Kassette einher, auf der das Ganze nochmal als Weightless-Version durchgespielt wird. Essentiell, visionär, der shit. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch Gooooose & DJ Scotch Egg – JAC (SVBKVLT)
Während in Dunkeldeutschland (nicht nur im Herbst heißt das: überall) die Deppchen auf die Straße gehen, weil sie Angst vor ein bisschen Stoff vor dem Mund-und-Nasen-Raum haben, läuft in China nach erfolgreich eingedämmter Pandemie das Leben wieder regulär weiter, sprich die Clubs sind wieder offen. Die Sounds darin sind ebenso far out, weil SVBKVLT schließlich weit vorne mitspielt. Gooooose hat sich für »LAC« als Sparringspartner DJ Scotch Egg of unter anderem WaqWaq Kingdom fame hinzugeholt, das Ergebnis ist ein dementsprechender Clusterbrainfuck, soll heißen: die Zukunft, die wir hier gerade begraben. Kristoffer Cornils
Grimescapes – Grimescapes (Youth)
Warum es seit Wiley eigentlich neben Mr. Mitch, Logos und einer handvoll anderer niemandem gelungen ist, Grime so dermaßen zu skelettieren, dass man sich traut mit dem Begriff weightless zu hantieren, ist schwer zu sagen. Stallgeruch und diverse andere stilistische Portfolio-Arbeiten im britischen Bass-Kontinuum scheinen jedenfalls unumgänglich zu sein. Grimescapes ist nun also auf einem der Labels der Stunde next in line alle tragenden Säulen britischer Feierkultur einzureißen und dabei über eine vollkommen neue pandemische Form von Tanzmusikresidue zu stolpern. Irgendwo fehlt hier jetzt noch eine The Last Of Us II Referenz, bitte nach Belieben einfügen. Florian Aigner
● Vinyl 12inch Hamilton Scalpel – Hamilton Scalpel 2: Airfoil (Concrete Cabin)
Hamilton Scalpel sind notorische Übertreiber. Jedes Airhorn zu laut, jede Wiley Synth zu cheap, jedes Break zu hart, jeder Track 5-25 BPM zu schnell. Genau das macht Airfoils zuckerschockige Energie dann aber auch aus und spätestens wenn auf B2 dann völlig schamlos The Fat Of The Land mit J-Zbel zusammengebracht wird, ist klar: diese Maxi wird Mitte 2021 einschlagen, und zwar richtig. Florian Aigner
● Vinyl 12inch Holy Tongue – Holy Tongue EP (Amidah)
Hard facts: Alles, woran Valentina Magaletti beteiligt ist, kann nur geil werden. »Holy Tongue«, die Debüt-EP ihres gemeinsamen Projekts mit noch so einem Instant-Vergeiler, Al Wootton, beginnt mit »Bela Lugosi’s Dead«-Goth-Dub-Zitaten, verliert sich in einem Noise-ziselierten No-Wave-Jam und beschließt das Ganze mit einem neunminütigen Schieber, der mit einer Konsequenz Dub-Basslines und marode Sound-Beigaben ineinanderschweißt, dass es Shackletons Frühwerk mit einem Schlag leichenblass ausschauen lässt. Kurzum: geil geworden. Kristoffer Cornils
DER VINYL-JAHRESRÜCKBLICK IM WEBSHOP VON HHV RECORDS.
● Vinyl 12inch J Albert – Pre Formal Audio (Anno)
Beginnt wie jede beliebe 1080p-Platte anno 2014, holt dann zum Glück aber die Kickdrum raus: J Albert macht klanglich nichts Besonders und mit jedem einzelnen Beat alles komplett richtig. »Pre Formal Audio« hat den irrwitzigen Mid-Tempo-Techno-Stepper, den kodeinbesoffenen Chopped’n’Screwed-Banger, die Footwork-Reduktion und die im Loop gefangenen Jungle-Breaks, die sonst niemals jemand auf einer einzigen EP unterbringen könnte. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch Kouslin – 2020 Vision (Livity Sound)
Schlimmer Titel, drin ist aber zum Glück Livity: Kouslin ist ein bisher weitgehend verhaltensunauffälliger Produzent aus London und sein Grundkonzept – alles langsamer, Dancehall als Blaupause – nicht unbedingt originell, das Ergebnis aber zum Glück eben Livity: Irgendwo zwischen den Stühlen, sauber ausproduziert und ein grab bag voller Sounds, die mal Grime-Reminiszenzen aufrufen, mal die PC-Music-Ästhetik glattbügeln, um sie über harten Riddims ausspielen zu können. Jeder Snare-Schlag eine Schelle, schön. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch Laksa – Sen On One
Der Dancehall-Techno von Laksa macht keine Gefangenen. Mit Peitschenhieben wirst du geradeaus zur »Ardhall« getrieben, wo du dann den »FWD Ghost« zugewendet tanzen musst, auf dass sich die Clubs wieder öffnen mögen, und sei es nur für zwei Nächte und wenn zwei zu viel sind, »Sen On One«, das reicht auch schon. Oh Lord, lass mich endlich wieder Bässe spüren. Sebastian Hinz
● Vinyl 12inch Loraine James – Nothing (Hyperdub)
Loraine James hat schon im Vorjahr mit ihrem Debütalbum »For You and I« alles bewiesen und immer noch Bock beziehungsweise Wut im Bauch. Dreiviertel von »Nothing« entstand in Kollaboration mit der singenden Produztenin Lila Tirdo a Violeta, dem Rapper Tardast sowie Jonnine Standish von HTRK und bewegt sich dementsprechend zwischen Auf-die-Fresse-Burial-Derivaten, Gabber-Dancehall, Balladen-IDM und Electroclash-Garage, wird aber von James’ Talent zusammengehalten, das Disparate in eins zu integrieren, um damit große Ansagen zu machen. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch Neinzer – Whities 025 (AD93)
Black Lives Matters hat 2020 auch die Clubszene betroffen. Veranstalter und Clubs wurden zum Nachdenken über ihre »weiße« booking policy und andere institutionell verfestigte, rassistische Verhaltensweisen bewegt. Einige taten das unaufgefordert. Wie Nic Tasker vom Label Whities, das nun seit dem Frühjahr AD93 heißt. Katalog-Nummer »025« kam von Neinzer, britischer Produzent, männlich, weiß, privilegiert. Rein musikalisch betrachtet zeigt Neinzer hier eine erstaunliche Bandbreite an Stilen: von zielgerichtetem Haus, über dubbigen Techno, bis hin zu ambienter Kammermusik und Musique concréte-haften Soundskizzen. Ein Musiker, den du dir für 2021 merken solltest. Sebastian Hinz
● Vinyl 12inch Promoter – Cogitate (Patience)
Dub Techno unterlag nie dem Innovationszwang anderer Techno-Spielarten. Negativ gewendet bedeutet das, dass die meisten Heads nie über die Auslaufrille von »Q 1.1« hinausgekommen sind, positiv jedoch, dass Musik wie die von Promoter dem Nachhausekommen nach einem harten Arbeitstag gleichkommt. »Cogitate« spult über 35 Minuten alle bekannten Formeln ab und will auch gar nicht mehr. Der Raum zerfließt, die Zeit steht still. Schönheit dringt in jede Pore. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch Robin Stewart – Marsupial (No Corner)
Giant Swan, Avon Terror Cops, SRS – Robin Stewart ist ganz dick im Konfrontationsmusikbiz, seine zweite Solo-Veröffentlichung ist aber mehr als angenehm zurückhaltend, inwendig und bisweilen sogar subtil. Ein Spoken-Word-Track mit der umtriebigen Daniela Dyson hier, Raime-Gedenk-Geratter dort, danach Raster-Noton-Frost, Techno-Abstraktionen und zum Schluss Xenakischer Ambient-Noise: »Marsupial« macht viel aus wenig und liefert also das bristolische Dub-Update, das es dieses Jahr noch gebraucht hat. Kristoffer Cornils
SW. – Viole(n)t (Kimochi)
Stefan Wust kommt nicht zur Ruhe und das ist nun wirklich nichts Schlechtes. Neben einem tollen Mini-Album für Night Defined und einer Doppel-LP auf Avenue 66 sowie einer EP auf LOVEiT ist »Viole{n}t« das vierte und zweifelsohne versierteste SW.-Release des Jahres. Wust dreht für jeden Track die Marker diverser Dance-Subsubgenres auf links und wäscht sie dann bei 90° und 1400+ Umdrehungen gehörig durch. Das Ergebnis ist kuschelweich und doch voller Kanten, frühlingsfrisch und dennoch wie für melancholische Winternächte zugeschnitten. Kristoffer Cornils
● Vinyl 12inch Swisha – Sitting On Chrome (SWXDI)
Swishas New Yorker Crew Juke Bounce Werk hat zurecht die letzten Jahre viel Aufmerksamkeit bekommen. Mit Sitting On Chrome gibt es endlich auch mal ein physisches Testament des vollkommenen Scheuklappen freien Ansatzes des Kollektivs. Masta Aces Überklassiker biegt in Baltimore und Chicago ab, ein Jigga-Staple wird je nach gewählter Geschwindigkeit zum Überschall-Brett oder feingeistigen Midtempo-Stepper, der Opener schiebt Memphis in die Peaktime und »Innit M8« ist ellbogenschwingendes DJ Assault-Bizness. Wyld, ganz wyld. Florian Aigner
● Vinyl LP Yssue – The Laughing Gas (Yes Belgrade)
Auf Yes Belgrade sind bisher erst drei Platten erschienen. Zwei davon verwalteten den starken Salon Des Amateurs Einfluss auf solide, dezent angepunkte Art und Weise. Yssues »The Laughing Gas« aber ist die erste wirklich essentielle Katalognummer. 1x Riddim Science auf 150 BPM, 1x sorgenfreier Tropical Dub Funk, 1x Electroclash gone Savant,, 1x eine Dembow-Finte mit Safri-Duo-Rolls, 1x Jokster Acid in Lichtgeschwindigkeit: eine Platte, die es im Juni eigentlich schon hätte besser wissen müssen, aber nochmal den R-Wert auf 0,05 drückte. Florian Aigner
HONORABLE MENTIONED: ONE FOR THE SINGLE BOX
● Vinyl 7inch Angel Bat Dawid – Transition East (IARC)
Müsste man sich richtig festlegen, Angel Bat Dawid wäre wahrscheinlich in einer Liste der Musikerinnen des Jahres ganz weit oben, International Anthem in der Label-Liste bei nicht wenigen Spitze. Ich persönlich liebe ja »Transition East« weil die A-Seite diese galoppierende Madrigal-Drumline featured – darüber das unverkennbare gebrochene Saxophon, hammer. Mehr Konzept und Free Jazz dann auf Seite Flipside. Pippo Kuhzart
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