Wie Zoviet France zu Kultfiguren wider Willen wurden

19.01.2021
Keine Namen, keine Gesichter, keine Tradition: Zoviet France wollten als anonymes Kollektiv Anfang der Achtziger die Antithese zum orthodoxen Kunstverständnis formulieren – und wurden dabei zu Kultfiguren wider Willen. Bis heute.

Weder konnten sie Instrumente spielen, noch hatten sie Interesse am Geschehen der britischen Musikwelt: Als Ben Ponton, Robin Storey und Peter Jensen durch die Vermittlung einer gewissen Lisa Hale 1979 das Künstlerkollektiv Zoviet France im nordenglischen Newcastle upon Tyne aus der Taufe hoben, lag Punk im Sterben und Industrial auf dem Geburtstisch. Der Thatcherismus drehte die Uhr sozialer Errungenschaften zurück und forcierte neben der gesellschaftlichen Verrohung abermals den Klassenkampf von oben. Um nicht von den Verwertungszwängen der Unterhaltungsindustrie oder irgendeiner Industrie verdaut zu werden, beharrten Zoviet France seit ihrer Gründung, die ganzen Achtziger hindurch so radikal auf ihrer Anonymität wie vor ihnen vielleicht nur The Residents. Als musikalische Amateure und kulturelle Provokateure gaben sie zunächst keine Konzerte, lehnten Interviews ab und waren auch nicht an Kompilationen beteiligt, trotz zahlreicher Einladungen. Aus ihren persönlichen Inspirationen machten sie dennoch nie einen Hehl: Can und Neu!, die ganze Kosmische Musik, frühe Kraftwerk und natürlich Throbbing Gristle waren für die Entstehung des Projekts ebenso wichtig wie Pierre Boulez, John Cage oder Luciano Berio. »Ich denke das einende Element bei all diesen Sachen ist tatsächlich Krach. Krach ist ein nicht-musikalisches Soundformat, das du bei Motörhead genauso wie bei Stockhausen findest«, meinte Ponton mal in einem Interview mit dem EST-Magazin.

Ähnlich wie andere große Namen der ersten Industrial-Welle – 23 Skidoo, Coil, Nitzer Ebb, Psychic TV, Test Dept. – spielte das Trio mit Archetypen aus indigenen Kulturen und Bildern verwaschener Endzeitvisionen, mit westlichem Okkultismus und der mystifizierten Psychoanalyse C. G. Jungs, aber auch mit den Schriften des französischen Schauspielers Antonin Artaud (siehe »The Theater And Cruelty«, 1932) und den harschen Realitäten einer Ära, in der die Refeudalisierung des Abendlandes zur progressiven Politik verklärt wurde und die Angst thermonuklearer Konflikte den historischen Horizont bedeckte. Obwohl die improvisierten, durch schroffe Tape-Loops und eingehende Post-Produktion zusammengehaltenen Aufnahmen nie von Texten begleitet wurden, blieb das ikonoklastische Moment in der Musik von Zoviet France also stets gut erkennbar – an einer konsequent verfolgten Atonalität und abstrakten Cover-Artworks ebenso, wie an selbstgebauten Instrumenten und der Verwendung zahlloser Gegenstände zur Klangerzeugung. Konzerte des Kollektivs waren schon alleine dadurch einmalige, nicht wiederholbare Performance-Events, bei denen mindestens drei Sinne parallel angesprochen wurden. So konsequent transgressiv haben das zu der Zeit vielleicht nur noch P16.D4 in Deutschland verfolgt.

»Wir waren sehr an der inhärenten Kraft von Musik interessiert, andere Geisteszustände hervorzurufen und dir selbst unbekannte Teile deiner eigenen Persönlichkeit zu zeigen, aber auch als Medium für den Zugriff auf primitive Instinkte und das Unterbewusste: Kram der in allen Köpfen abläuft, für den die meisten aber kein Ventil haben«. Anfangs versuchten Zoviet France diese kathartischen Effekte noch aus einem klassischen Band-Instrumentarium – Gitarre, Drums, Bass – herauszukitzeln, mit durchwachsenen Ergebnissen. Obwohl laut eigener Aussage kulturell isoliert, wurden sich alle Beteiligten schnell der experimentellen Möglichkeiten von immer erschwinglicheren Synthesizern, Samplern und Vierspurrekordern bewusst, sodass bereits auf »Mohnomishe« von 1983 (Track 6 birgt einen der allerersten Technobeats) das Durchskalieren hypnotisch raunender Loop-Kaskaden zunehmend in den Fokus geriet und später mit den apokalyptischen »Popular Soviet Songs And Youth Music« (1985) oder »Misfits, Loony Tunes And Squalid Criminals« (1986) in verschiedene Richtungen erweitert werden konnte.

Über dem industriellen Fundament türmten sich auf den Folgewerken wankende Dark-Ambient-Strukturen neben körperlichen Drones und manipulierten Feldaufnahmen, afrikanische Stammesgesänge erdrückt unter Lo-Fi-Effekten und ominöser Ritualistik – am Stück gechannelt aus einem postnuklearen Fiebertraum. Gleichzeitig entwickelte sich das Kollektiv aber auch technisch und inhaltlich weiter. Was auf »Garista« (1982) oder der »Norsch«-EP (1983) zunächst durch Soundcollagen nebst obszönem Noise zur Erprobung kam, tönte ein paar Jahre später weniger aggressiv als viel mehr meditativ und wandte sich schließlich ganz einer rohen Form von tribalem Ambient zu. »Loh Land« und »Shouting At The Ground« dürfen auf diesem Sektor nach wie vor zu den tatsächlich zeitlosen Alben gezählt werden, die nichts von ihrer Intensität verloren haben. Dass sie irgendwann als Soundtrack eines Sequels zu Barry Hines’ »Threads« eingesetzt werden, mag unwahrscheinlich sein, läge aber angesichts des Kopfkinos beim Hören verdammt nahe.

Mit Beginn der 1990er Jahre wurden die kreativen Differenzen innerhalb der Gruppe unüberbrückbar: Jensen hatte das Projekt bereits 1984 wieder verlassen und zwischenzeitig waren mit Paolo di Paolo und Mark Spybey zwei Mitglieder so schnell gegangen wie sie kamen, während die beiden Projektköpfe Ponton und Storey keine Einigung fanden, wie die Sache mit der Anonymität weiter zu handhaben sei. Böse Zungen behaupten bis heute, dass Ponton auf einer Art Egotrip seine Person immer mehr in den Vordergrund drängte, das Kollektiv also allmählich seiner künstlerischen Integrität berauben wollte. Storey hatte nach der zermürbenden Nordamerika-Tour 1991 jedenfalls die Schnauze voll, machte ab 1992 mit seinem Folgeprojekt Rapoon ziemlich erfolgreich solo weiter und brachte seither über 70 Alben via Staalplaat, Soleilmoon oder Klanggalerie raus. Heute, drei Jahrzehnte später, sind die Verantwortlichkeiten für den Bruch der beiden nicht mehr auszumachen – und wahrscheinlich auch Nebensache.

Denn für einen finalen Kraftakt reichte es immerhin noch. Auf dem 1991 veröffentlichten »Shadow, Thief Of The Sun« flossen die Experimente der letzten zehn Jahre, das gewachsene produktionstechnische Know-how, die thematische Diffusion zwischen Paläolithikum und Postapokalypse aber vor allem die Fertigkeiten an Dutzenden Instrumenten zusammen. Das Resultat drängt sich in seiner entrückenden Opulenz als kreativer Peak der ursprünglichen Kernbesetzung von Zoviet France auf. Obwohl Ponton danach größtenteils alleine weitermachte und den oft kritisierten Umstieg von analogen zu digitalen Aufnahmen wagte, zeigte er ab 1995 ungefähr im Fünfjahrestakt, dass er dem Projekt immer noch neue Facetten oder zumindest sinnvolle Erweiterungen abzuringen vermochte. So sind etwa »Digilogue« (1996) oder »7.10.12« (2012) durchaus stimmige Updates voriger Alben, die unter dem Eindruck von zeitgenössischem Ambient, Minimalismus sowie Drone entstanden. Und selbst schummrige Archivaufnahmen wie »Music For A Spaghetti Western« (2005) können kaum als Beispiele für einen kommerziellen Sellout herhalten – den haben andere durchgezogen. Seit den 2010ern erscheint außerdem immer wieder frisches Material (zuletzt 2013 »The Tables Are Turning«) neben bisher unbekannten Arbeiten wie den überraschend gelungenen »Russian Heterodoxical Songs« (2020), entstanden 1988. Dass Ben Ponton wahrscheinlich jeden Monat staubige Artefakte aus dem Keller holen könnte, davon zeugen auch die jüngst via Vinyl-On-Demand veröffentlichten Reissues sämtlicher Zoviet-France-Alben, die komplett remastered als einzelne Doppel-LPs und in den stimmig designten »Châsse«-Holzboxen inklusive Bonusmaterial erschienen sind.

Reviews zum Künstler

»Wir produzieren die ganze Zeit Musik, einfach nur um der Musik willen. Insgesamt wurden bisher ungefähr 5% von dem veröffentlicht, was wir über die Jahre gemacht haben. Wir nehmen so ziemlich alles auf, was wir tun. Es gibt daher ein riesiges Archiv mit unveröffentlichtem Material, von dem wir immer nur das rausbringen, was uns in diesem Moment musikalisch wichtiger als alles andere erscheint«, hielten die Projektmitglieder schon 1991 fest. Während der letzten drei Jahrzehnte dürfte dieser Fundus kaum kleiner geworden sein. Sicher ist also mindestens: Die Übertragungen aus der Paralleldimension des sowjetischen Frankreichs werden so schnell nicht abbrechen.