Vincent de Boer – Wie Jazz mit Pinseln

23.02.2021
Der niederländische Künstler Vincent de Boer ist zu einem festen Bandmitglied der britischen Jazzer von Ill Considered avanciert. Er zeichnet Plattencover auf Basis der gehörten Grooves. Für »The Stroke« wurde der Prozess nun umgedreht.

Am 30. August 2020 saß der niederländische Künstler Vincent de Boer in einem Studio in London und war überwältigt. »Und auch gleichzeitig so nervös, weil ich nicht verstand, was da passierte.« Dabei löste er die ganze Sache selbst aus. Mit 4.056 handgemalten Bildern, aus denen sich der Animationsfilm »The Stroke« zusammensetzt. Und alles entstand durch eine Nachricht.

Über YouTube fand de Boer vor vier Jahren diese Band, seine Band: Ill Considered aus London. Frei improvisierte Musik mit Groove und Melodie. Experimenteller Jazz, der sich aber weit weniger experimentell anhört, sondern oftmals auch gefällig daherkommt. »Ich finde diese großartige Musik und schaue nach dem Hören: Das ist von 2017! Und es ist gerade einmal vor zwei Wochen gepostet worden«, sagt der 32-Jährige heute. »Ich fühlte mich gleich als Teil der Sache, nur weil ich das herausgefunden hatte.«

Er bestellte sich eine Schallplatte direkt bei der Band – allerdings kam die Platte mit einem White Label. Kein Cover. »Also habe ich gefragt, ob ich das für die Band übernehmen kann.« Seitdem gilt Vincent de Boer als das einzige nicht-musikalische Mitglieder von Ill Considered. »Es brauchte dafür nur diese Nachricht auf YouTube und danach einen Call per Skype mit Leon Brichard. Da wusste ich aber noch nicht, was für eine unglaublich produktive Band sie sind.« Es folgten: Neun Alben in drei Jahren, zu denen de Boer jeweils das Cover gestaltete. Heute ist de Boer manchmal die erste Person, die neue Stücke von Ill Considered zu hören bekommt.

Stets geht ein eigenartiger Sog von Vincent de Boers Bildern aus, seine Zeichnungen tragen deutlich die Einflüsse von urbaner Kunst und Kalligraphie in sich. Nur mit dem Pinsel schafft er einen Groove, der in seine Kunst zieht. Alles trägt bei ihm eine beneidenswerte Einfachheit. Aber was einfach aussieht, muss nicht immer einfach sein und forderte in diesem Fall vor allem Geduld.

Nur mit dem Pinsel schafft er einen Groove, der in seine Kunst zieht.

Denn de Boer und Ill Considered drehten den kreativen Prozess um. Nach eineinhalb Jahren Vorbereitung und neun Monaten Gestaltung in seinem Studio in Utrecht, konnte de Boer gemeinsam mit seinem Kooperationspartner Hans Schuttenbeld »The Stroke« zeigen, jenen Animationsfilm aus über 4.000 handgemalten Bildern, den Vincent de Boer im August vor einem Jahr in London präsentierte.

Im dortigen Studio sah die Band den Film zum ersten Mal und improvisierte direkt zu den Bildern, die über eine große Leinwand flimmerten. Darauf spielte sich die abstrakte Geschichte eines Pinselstrichs ab, der sich im Film verwandelt, wandert, auflöst, auftaucht. Alles in starken, kräftigen Zeichnungen.

Auf einem Storyboard waren Vincent de Boer und Hans Schuttenbeld der Produktion immer 30 Sekunden voraus. »Wir haben uns viele Gedanken gemacht, aber es war natürlich schwierig, weil das nur Vermutungen waren: Wenn wir jetzt dies tun, dann wird die Band vielleicht leiser«, erzählt de Boer. Aber jeder plötzliche Wechsel im Film wird für einen Musiker nicht plötzlich sein. »Sie würden darauf reagieren, aber natürlich immer zu spät sein.« Weswegen die Animationen auf Höhepunkte hinarbeiten.

Im Film gibt es eine Wendung, bei der Schuttenbeld und de Boer dachten, dass die Band einen großen Knall setzen würde. Doch es passierte beim ersten Take das genaue Gegenteil. »Sie wurden ganz leise und wechselten den Grundton. Das war komplett unerwartet. Und ich war wahnsinnig glücklich damit.« Für die Band war die Aufnahme nicht schwierig, so de Boer. Es war eher kompliziert beim Spielen auf die Leinwand zu schauen. Einfach weil Musiker ja manchmal die Augen schließen oder sich bewegen.

Drei Takes der Aufnahme erscheinen nun als EP – und jeder der 338 Platten liegt jeweils eine Sekunde des Animationsfilms bei. Eine der zwölf Zeichnung dient als Cover, die anderen elf Zeichnungen befinden sich als Bündel in der Hülle. Ein oder zwei Alben wird de Boer für sich behalten – so kann er seinen liebsten Moment behalten. »Aber die Sache ist ja auch: Vielleicht hat es diese Sekunde ja vielmehr verdient in einem anderen als meinem Wohnzimmer zu sein. Ich weiß es noch nicht.«

Bald erscheint bereits das nächste Album der Band, wieder mit einem Cover von de Boer. »Der Weg, den Du vorher nicht gesehen hast, das ist Kreativität für mich«, sagt er. Für seine Kunst, seinen Vibe und seine Energie gibt es keine bessere Beschreibung. Ill Considered nehmen übrigens gerade wieder Musik auf. Sie haben de Boer schon erste Tracks geschickt.

Ill Considered & Vincent De Boer
Ill Considered 10 - The Stroke
Ill Considered • 2021 • ab 94.99€