Seefeel – Musik im luftleeren Raum

18.05.2021
Foto:Stefan de Batselier © Warp Records
Seefeel sind eine Zusammenkunft der Unwahrscheinlichkeiten. Seit fast 30 Jahren spielen sie zwischen den Stilen und befreit von kontemporären Referenzen. Ihr Sound ist bis heute unbegreiflich.

Seefeel sind nicht gerade der glitzernde Stern in der Musikhistorie, bei dessen Nennung alle wohlwissend nicken. Trotz Veröffentlichungen in den 1990er Jahren auf den Hype-Labeln Astralwerks, Rephlex, Too Pure und Warp, trotz horrender Preise ihrer Alben auf Discogs und trotz aktueller Deluxe-Wiederöffentlichungen fristet die Band seit fast 30 Jahren ein Dasein der Underdogs.

Das mag ein wenig mit langwieriger Funkstille zu tun haben, die über die Jahrtausendwende 14 Jahre und seit 2011 mehr oder weniger weitere zehn Jahre andauerte. Denn wenn der Musikmarkt etwas nicht verzeiht, ist es Diskontinuität. Doch selbst in den durchaus aktiven Jahren zwischen 1993 und 1996, in denen Seefeel drei Alben und mehrere EPs veröffentlichten, erzeugte der Name eher Fragezeichen.

Seefeel sind schwer zu finden

»Seefeel hast du entweder gefunden, oder eben nicht. Ganz einfach. Es gab keine Querverlinkungen, wo dir jemand sagen konnte ›Wenn du das magst, solltest du mal Seefeel anhören‹«, erklärte Mark Clifford, Kopf der Band, 2003 in einem Interview. Seefeel zu entdecken, ist auch nach fast 30 Jahren eher eine zufällige Begegnung. Denn heute noch mehr als damals verläuft das Entdecken von Musik in der Regel stark entlang von Referenzlinien.

Zwar hätte 1995 allein die Zugehörigkeit zum Warp-Record-Rooster bei einer Menge Leute für Schnappatmung sorgen sollen. Dumm nur, dass Seefeel den de facto ersten und lange Zeit einzigen Act auf dem Dance- und Elektronik-Label darstellten, der nicht nur der Bezeichnung »Band« würdig war, sondern auch noch Gitarren und die Konzerte im ursprünglichen Sinne live spielte. Zugleich hatte ihre Musik mit Rock, Alternative und dem heranrollenden Britpop so viel gemein wie Oasis mit Musique Concréte.

Suche Menschen, mit denen ich schöne Musik machen kann

Für Seefeel war das stets ein selbst gewählter Pfad. Bereits die Entstehung der Band spricht für sich. Mark Clifford, wollte, angetrieben von seiner Liebe für die Band Cocteau Twins, 1991 unbedingt eine Band gründen. Nach über einem Dutzend Proben in bestehenden Bands blieb die Erkenntnis, dass niemand der Musiker:innen auf derselben Wellenlänge ritt. Und diese formulierte Clifford laut Sarah Peacock dann in einer eigenen Anzeige mit »Suche Menschen, mit denen ich schöne Musik machen kann«.

Vielleicht war es gerade dieser absolut referenzbefreite, beinahe transzendentale Ansatz, der am Ende Menschen zusammenführte, die sonst nie zusammengefunden hätten. Mark Clifford (Sequencer, Gitarre, Pedale) kam eher aus effektbeladenen Subgenres wie Dream Pop und Dub. Sarah Peacock (Stimme) war ein klassischer Indie-Rock-Fan. Daren Seymour (Bass) orientierte sich im Krautrock. Und Drummer Justin Fletcher hörte vor allem Blues. Mark van Hoen, der nach der erste EP »More Like Space« (Too Pure, 1993) Seefeel verließ, entstammte dem Ambient und der Elektronik.

Die Summe der einzelnen Teile führt ins Unbekannte

Auch als sich Seefeel 2010 nach einem 14-jährigen Hiatus mit Clifford, Peacock, Iida Kazuhisa und Shigeru Ishihara neu formierten, zählten genretechnische Anknüpfungspunkte wenig. Kazuhisa war zuvor Drummer bei der Noise-Band Boredoms. Ishihara prügelte als DJ Scotch Egg Breakcore durch die Anlagen. All diese Einflüsse fanden sich in der einen oder anderen Form in Seefeels Musik. Sie wurden jedoch nicht zu Manifestationen, sondern zu vergessenen Echos, die sich auf unbekanntes Terrain begaben

Metallische Drums und eine gewaltige Bassdichte vermischten sich in riesigen unterirdischen Kavernen zu einem Erdzittern.

Der Start dieser unwahrscheinlichen Melange verlief 1992 dennoch vorerst unausgegoren. Die ersten, auf einem einfachen 4-Track-Recorder aufgenommenen Stücke, folgten eher konventionellem Indie, wie Sarah Peacock 2007 in einem Interview gestand. Über den Weggang von Mark van Hoen gibt es wenige Informationen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Clifford und van Hoen bei kreativen Fragen in verschiedene Richtungen zogen, dürften nicht nur den Bruch erklären, sondern auch die nachfolgende Entwicklung zu einem radikal neuen Sound.

Auditiver Klebstoff

Die Rhythmik änderte sich und trat in den Hintergrund. Klänge wurden zwar nach wie vor live eingespielt. Jedoch wurden diese in Dub-Manier unter massiven Effekten vergraben. Klassische Songstrukturen flogen aus dem Fenster und wurden durch die Freiheit mäandernder Tracks überwunden. Und Sarah Peacock beschränkte ihren Gesang auf Einzeiler, die ebenfalls durch Effekten umgedeutet wurden.

Im Laufe weniger Monate morphten Seefeel zu einer Band im klassischen Rockoutfit, deren Sound für jedweden Genre-Reiter als amorphe Gestalt den Raum neu gestaltete. Anstelle, wie viele Rockbands dieser Ära, elektronische Elemente und Manipulationen als modernes Werkzeug in ihr traditionelles Rockformat zu pressen, waren sie integraler Bestandteil des Klangs und des eigentlichen Songwritings. Sound war der Song und nicht nur ein nachgelagerter Gedanke. Die Live-Konzerte wurden zum auditiven Klebstoff, wie es Clifford selbst benannte.

Vom Licht ins Dunkel ins Vakuum

In verhältnismäßig kurzen Zeiträumen brach sich danach in drei wegweisenden Alben eine Neu- und Weiterentwicklung von Sounderfahrung, die in ihrer Singularität mit Autechre und Future Sound Of London gleichgesetzt werden kann. Das Debütalbum »Quique« (Too Pure, 1993) erzeugt noch heute einen flirrenden Äther, der in seiner Gänze unfassbar bleibt. Gitarrenklänge und Sarah Peacocks Stimme wurden zum Teilchenstrom. Basslinien bauten Tiefseefundamente. Und die Drums wurden stoische Schattenfiguren.

»Succour« (Warp, 1995) und die Vorabsingle »Spangle« (Warp, 1994) strebten dann bereits in düstere Räume. Metallische Drums und eine gewaltige Bassdichte vermischten sich in riesigen unterirdischen Kavernen zu einem Erdzittern. Mit dem Sprung zu Warp wirkte der Sound noch elektronischer, stand in Teilen direkt neben Aphex Twins »Selected Ambient Works II« (Warp, 1994). Dabei verwendeten Seefeel auf dem Album weitaus weniger Samples, als auf dem Debüt. Und nach wie vor kamen keine Synthesizer zum Einsatz. Alles war live, selbst die unkenntlichste Gitarrenspur.

From Aphex Twin, With Love

1996 erschien als eine Art Nachgedanke mit »(CH-VOX)« das vorerst letzte Lebenszeichen Seefeels auf Rephlex Records. Die Tracks stammten aus der »Succour«-Session, und waren ein Dankeschön an Richard D. James (alias Aphex Twin), der ihnen 1993 auf ihrer EP »Time To Find Me« (Too Pure) aus reiner Liebe zwei kostenlose Remixe geliefert hatte. Der Sound auf diesem Minialbum wurde noch düsterer und transportierte ein Gefühl der Separierung.

Seefeel waren 1993 bis 1996 ein Kind ihrer Zeit, in der soundtechnisch eine kambrische Artenexplosion erfolgte..

Die drei Alben zeichneten klanglich einen Weg vom Aufbruch zum Zerbrechen. Das glamourös gedachte Touren wurde zur Dauerbelastung. Insbesondere die Soundchecks, die Mark Clifford als der »Sound-Meister« der Band verantwortete. Saß der Sound nicht, wurde jedes Konzert zu Brei. Auch die Banddynamik wurde zunehmend schwerfällig.

Erschöpft im Soundbrei

Mark Clifford blieb all die Jahre der Mastermind. Auch wenn Clifford in Interviews nachdrücklich erklärte, dass jedes Bandmitglied seinen Anteil an den Tracks hatte – sei es konzeptionell, musikalisch, dynamisch oder einfach mental – zeichnete er sich für das Schreiben verantwortlich, das in seiner Basis auf Klangmanipulation fußte. So lag es an dem Klangmanipulierer Clifford, den Impuls zu formen, dem Peacock, Seymour und Fletcher zuarbeiteten und Änderungen hinzufügten.

1997 legten Seefeel erschöpft eine Pause ein, die 14 Jahre währen sollte. Dass Peacock und Clifford wieder zusammen fanden, verdankten sie dem damaligen Warp-Records-Chefs Steve Beckett. Er hatte sie um einen Gig auf einer der Warp XX-Partys gebeten, mit denen das 20-jährige Bestehen des Labels gefeiert wurde. Plötzlich stimmte wieder die Chemie. Da Seymour und Fletcher mittlerweile nicht mehr in Großbritannien lebten und somit Live-Proben unmöglich wurden, kamen kurzerhand Kazuhisa und Ishihara an Bord.

Mut zur Lücke

Das selbstbetitelte Album, das 2011 erschien, knüpfte an den vergangenen Sound an, ohne ihn nostalgisch zu umklammern. »Seefeel« lieferte ein klareres Klangbild, differenzierter, auch erwachsener und ausgeformter. Die längst erfolgte Zersplitterung der elektronischen Musik in alle möglichen Genres, Klangschluchten und Ideenräume ließen Seefeel in einer Post-Dubstep/Breakcore/Techno/IDM-Welt jedoch weitaus weniger singulär wirken, wie noch Mitte der 1990 Jahre. Und auch wenn die neue Seefeel-Konstellation noch immer live spielen, lässt ein Nachfolgealbum vermutlich nicht ohne Grund seit zehn Jahren auf sich warten.

Seefeel waren 1993 bis 1996 ein Kind ihrer Zeit, in der soundtechnisch eine kambrische Artenexplosion erfolgte. Ihre Musik bleibt ungreifbar und nicht reproduzierbar. Wenn man eine Beschreibung herbeizerren möchte, so muss vielleicht auf eine unbestätigte Anekdote zurückgegriffen werden. Aphex Twin beschrieb angeblich in einem Interview seine Liebe für Seefeels Musik mit den Worten »The main reason I like it is that as soon as you turn it off it leaves this big gap, this really big void.«