Halbjahresrückblick 2021 – 50 best Vinyl Records so far

01.07.2021
Das vergangene halbe Jahr hat gefühlt ganze fünf gedauert. Ein nie endender Winter, quälende Isolation. Und die Musik? Die lief weiter, auf unseren Plattenspielern. Diese 50 Schallplatten blieben dabei besonders im Gedächtnis.

Das vergangene halbe Jahr hat gefühlt ganze fünf gedauert. Ein nie endender Winter, quälende Isolation. Und jetzt? Stehen wir wie ein Kleinkind vor dem Freibadbecken und stippen den großen Zeh ins Wasser, um vorzufühlen. Denn der Stillstand weicht, es kommt Bewegung rein. Hoffen wir nur, dass die nicht die Form eines Wettlaufs gegen die Zeit annimmt – die Delta-Variante hat Großbritannien schon in die Knie gezwungen – und wir in der Flucht nach vorne nicht das Geschehene aus den Augen verlieren. Fast 100.000 Todesfälle hierzulande, über eine halbe Millionen in den USA und in Brasilien, in Indien wird weiterhin gezählt. Also: Wirklich alles nochmal gut oder gar zu Ende gegangen?

Immerhin eins kann und sollte uns dieses verfluchte halbe Jahr doch mitgegeben haben: Dass da draußen noch so viele andere sind und dass es ihnen unter gänzlich anderen Umständen vielleicht wohl gar nicht so anders geht als uns. Das hat uns eben auch die Musik gelehrt. 50 Schallplatten haben wir ausgewählt, die uns im tiefsten Abgrund freundlich zugewunken haben und die uns immer wieder daran erinnerten, dass das, was uns über alle ausgedachten Ländergrenzen hinweg vereint, genau deswegen erhaltenswert ist, weil es bei Musik nie um Musik, sondern immer nur um die Menschen dahinter geht. Ihr Leiden, ihre Freude, ihre Ideen und Visionen.

Neben einigen Reissues von bahnbrechenden Alben – Stella Chiweshe, Sun Ra, Coil, Arovane! – verzeichnet die folgende Liste mit Vinyl-Veröffentlichungen aus der ersten Hälfte dieses Jahres dann auch beobachtende Rundumschläge und Weltvermessungen im Kleinen wie im Großen. Ob die nun von Haftbefehl oder Roc Marciano radikal subjektiviert, von einer Loraine James abstrahiert oder von Dry Cleaning ausgesprochen werden: Vermittelt wird in jedem Fall. Zwischen Lagos und Berlin dank Emeka Ogboh, zwischen Stasis und Fortschritt bei den Lost Girls oder zwischen Jazz und Orchester wie bei Floating Points und Pharoah Sanders, die einander im Orchestergraben trafen.

Und es werden auch Perspektiven geschaffen, klar. Zukunft ist zu wittern. Smerz dachten Pop nochmal grundlegend neu, Merope Volksmusik. Was DJ Black Low mit Amapiano, Zuli mit Mahraganat, Al Wootton mit Dub und Jungle oder Scotch Rolex und die Nyege-Nyege-Crew mit Bassmusik im Allgemeinen angestellt haben, haben wir immer noch nicht ganz begriffen. Weshalb hier und jetzt versprochen sein soll, dass wir deshalb umso genauer zuhören und wenn nötig auch die Ärmel hochkrempeln werden. Weil dahinter Menschen stehen, die wie International Music ihre Ententräume träumen und das auch weiterhin tun sollen.

Die große Veränderung hat gerade erst begonnen und wir sind alle mittendrin. Treffpunkt ist der Plattenspieler. Aber vorher noch geht’s mit einem steilen Köpper ins Wasser.

Al Wootton
Maenads
Trule • 2021 • ab 8.99€
Wahrscheinlich ist Dub Techno per se auserzählt. Die Zutaten sind bekannt: Bässe, Hall, Delays, Echos. Du kannst aber in dem Genre immer noch gut erzählen, sehr gut sogar, wie Al Wootton mit seiner EP »Maenads« auf Trule dieses Jahr zeigte, in dem er vier scharfkantigen Tropftsteinhöhlen-Grooves polyrhythmisch Percussions druntermixte. Genau die richtige Musik um in der Enge seines Wohnzimmers tanzend den Verstand zu verlieren. Sebastian Hinz

Alina Kalancea
Impedance
Important • 2020 • ab 35.99€
Aus Italien kommt derzeit viel spannende elektronische Musik von Musikerinnen, wobei diese nicht zwangsläufig Italienerinnen sind, wie die in Rumänien geborene Alina Kalancea. Sie erprobt ihre Frequenzen in einem offenen Feld, ohne habituelle Genehmigung durch Ambient- oder Drone-Konventionen einzuholen. Mit ihren Buchla-Modularsynthesizern baut sie Pulse, Rauschen, Flirren, Knirsch und Plongs in stoischen Rhythmen, die sich langsam weiterschrauben. Abenteuer, Neugier. Und Widerstand, der lohnt. Tim Caspar Boehme

Amancio D'Silva
Konkan Dance
Roundtable • 2021 • ab 33.99€
Das 1972 in London aufgenommene Werk »Konkan Dance« fand damals aus unbekannten Gründen nicht ans Tageslicht. Es blieb lange Zeit unveröffentlicht. Aus dem Dornröschenschlaf wurde es erstmalig in den 2000er geküsst, zuletzt von dem Label The Roundtable. Modaler Jazz und Indische Klassik vereinen sich zu einem Indo-Jazz-Hybriden getragen von Amancio D´Silvas Gitarre, die es versteht, psychedelische Reize zu versprühen. Martin Georgi

Andy Stott
Never The Right Time
Modern Love • 2021 • ab 30.99€
Der Auto-Experte aus Manchester hat es erneut getan – und auf diese Weise wohl zum letzten Mal: Mit »Never The Right Time« beendet [Andy Stott](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/1054/andy-stott,) der Pop, Techno und Breaks schon eindrucksvoll verzahnte, bevor man dafür als revolutionärer Bilderstürmer gefeiert wurde, allem Anschein nach einen knapp zehnjährigen Werkzyklus. Relativ kurz zwar – »Never The Right Time« dauert gerade mal 41 Minuten –, aber pointiert wie selten zuvor. Nach neun aufwühlenden Nummern, die zwischen ultrasterilem Klangbild und genussvoller Überladung pendeln, ist endlich und wirklich alles gesagt. Maximilian Fritz

Armand Hammer & The Alchemist
Haram
Backwoodz • 2021 • ab 47.99€
Das beste Album, dass es in kein deutsches Feuilleton geschafft hat. The Alchemist hat es erst letztes Jahr im Tag Team mit Freddie Gibbs in absolut alle Jahresbestenlisten geschafft, an der Seite von Armand Hammer kann aber auch er sich etwas freier ausleben. Die Beats sind mehr Free Jazz und weniger Fahrstuhlmusik, die Texte frei von Gangster-Attitüde und voller Assoziationen. Features von Quelle Chris und Earl Sweatshirt machen deutlich, dass man es hier mit dem feinsten Underground zu tun hat. Verboten gut. Till Wilhelm

Arovane
Atol Scrap Remastered Edition
Keplar • 2021 • ab 23.99€
Da rutscht einem vor lauter Freude schon mal der linke Daumen beim Tinder-Swipen aus, wenn das erste Vinyl-Reissue von Arovanes »Atol Scrap« auf den Plattenteller springt. 1999 veröffentlicht, hat Uwe Zahn mit dem Album einen eigenen Meilenstein in die Irgendwas-mit-IDM-Landkarte gehämmert. Dass das Teil nach über 20 Jahren noch immer funktioniert, hat wahrscheinlich weniger mit der heutigen Musik als mit dem genialen Dilettantentum zu tun, das damals in und um Berlin herrschte. Muss man nur die Kollegen Hinz & Kunz(e) fragen schon sprudelts los. Berlin Ende der Nineties. Das ist der Sound dafür. Christoph Benkeser

Jac Berrocal, David Fenech, Vincent Epplay
Exterior Lux
Akuphone • 2021 • ab 20.99€
Unser Chef-Kolumnist hat’s ja schon bestmöglich zugespitzt: Die Berrocal’sche Tröte gehöre für ihn zu den drei schönsten Tönen der Welt. »Exterior Lux« hat mehr Blei und Ketten am Jazz hängen als alle anderen Berrocal-Fenech-Kollabos bis dato, das Resultat ist sehr sehr lynchian, rückwärtssprechende Zwerge und Wahnsinnige in Cowboy-Stiefeln tauchen hierzu logischerweise auf. Ich habe deren Auftauchen sehr begrüßt in meinem Wohnzimmer, in diesen Zeiten. Pippo Kuhzart
Pippo Kuhzart

Bobby Would
World Wide World
Low Company • 2021 • ab 21.99€
»World Wide World« kommt musikgeschichtlich gesprochen gut anderthalb Jahrzehnte zu spät. Damals, als Woods noch cool waren und die VICE jede Woche einen Artikel mit dem Wort Shitgaze im Titel veröffentlichte, hätte Bobby Would mit seinem Psych-Folk-Lo-Fi-Dengel-Wave-Pop-Rock vermutlich eine Best New Music und einen Vertrag bei Sacred Bones abräumen können. Aber Would – irgendjemand aus der Berliner Intellektuello-Punkszene, Mitglied bei Diät, vermutlich ist das alles aber auch egal – hat sich Zeit und dieses Album damit für sich stehen lassen. Als ein Alleingängeralbum, das weder Ambitionen noch Allüren kennt und genau deswegen aber tief reinging: Wie ungemein beruhigend es doch ist, dass sich endlich mal jemand wenig Mühe und seinem Publikum damit sehr viel geben kann. Kristoffer Cornils

Claire Rousay
A Softer Focus
American Dreams • 2021 • ab 24.99€
Claire Rousay ist die Überfliegerin, die aller nach Logik keine sein dürfte, weil so vieles an ihren Klangcollagen komplett bizarr und irrational ist. Was aber nur eben auch heißt, dass sich kaum etwas folgerichtiger in eine auf dem Kopf stehende Welt einpasste wie die Schwemme von Rousay auf eben jene losgelassene Releases – neun Alben allein letztes Jahr, okaaay. »A Softer Focus« riecht streckenweise stark nach 12k-Ambient, wird aber immer wieder durch komplett sonderbare Sounds und Twists auf neuen Kurs gebracht. Mehr nach außen gekehrte Innenwelt war kaum zu haben. Kristoffer Cornils

Coil
Love's Secret Domain Black Vinyl Edition
Infinite Fog • 2021 • ab 48.99€
Als sie kam, war die Zeit kurz vor der Reife, ebenso jungfräulich wie wild: »Love’s Secret Domain« hatte nicht den Anspruch eine Platte fürs Raven, sondern übers Raven, über Rausch und Sex zu sein. 1991 nach knapp drei Jahren Aufnahmetätigkeit, physischen wie psychischen Strapazen und dem Beinahe-Ende von Coil finalisiert, definieren die post-industriellen Soundwellen dieser Platte das, was die Neunziger im Folgenden ausmachen sollte: Endliche Ekstase – und die dunkle Vorahnung, dass alles ein Traum bleiben würde. Nils Schlechtriemen

Deadline Paranoia
3/3
Ongehoord • 2021 • ab 16.99€
Bei Deadline Paranoia handelte es sich um eine Gruppe aus der belgischen Kassettentäterszene Ende der 1980er-Jahre und damit wäre zwar schon das meiste gesagt, aber noch lange nicht alles erzählt. Der dritte und letzte Teil von Ongehoords großer Werkschau beweist nochmals eindrücklich, dass auch jenseits von Crammed Discs in Belgien neue Welten erdacht und umgesetzt wurden: Mit Schwurbel-Synthies, Trommelkreis-Dub, Echobox-Psychedelik und Psycho-Funk entgrenzen hier vier Typen ihren eigenen Möglichkeitsradius ins Unermessliche. Kristoffer Cornils

DJ Black Low
Uwami
Awesome Tapes From Africa • 2021 • ab 24.99€
Brian Shimkovitz, der live tatsächlich mit Kassetten ankommt, betreibt mit Awesome Tapes From Africa einen Blog und ein Label, das afrikanische Musik aus der Vergangenheit und Gegenwart wiederaufbereitet und fördert. Klingt erstmal leicht shady, in diesem Fall stecken da aber eine Menge Know-How, aufrichtiges Diggertum und hohe musikalische Qualität dahinter. DJ Black Low beweist das mit »Uwami« eindrucksvoll, auf dem er Amapiano seines Zeichens das beliebteste Dance-Music-Genre der dortigen Bevölkerung, mit feiner Klinge und diversen Feature-Gästen so lange seziert, bis die Stille zwischen den unregelmäßigen Schlägen selbst zur Musik wird. Maximilian Fritz

Dry Cleaning
New Long Leg Black Vinyl Edition
4AD • 2021 • ab 28.99€
Die Post-Punk-Platte dieses Jahres: Dry Cleaning aus London beleben mit ihrem Debüt »New Long Leg« den seit Anfangstagen halbtoten Art Rock. Die zehn Songs zeichnen sich durch einen stabilen Groove und den Sprechgesang inklusive verwirrender Lyrics von Sängerin Florence Shaw aus. Mit jedem Durchlauf brennen sich daneben die Gitarren ein. Als hätten Sonic Youth sich mal entschlossen eine Cover-Platte mit Songs von Joy Division zu machen. Großartig für lange Nächte, in denen sich der Geist zerstreut. Björn Bischoff

El Michels Affair
Yeti Season Black Vinyl Edition
Big Crown • 2021 • ab 26.99€
Instrumentale Soulmusik scheint Leon Michels zu langweilen. Denn für fünf der elf Stücke auf »Yeti Season« lud der Kopf von El Michels Affair Sängerinnen ein. Doch die Platte überrascht nicht nur durch die Gäste. Neben Trompeten und Gitarren ertönt das orientalische Kanun. Überhaupt wiegen sich die New Yorker auf ihrem dritten Album nicht in Sicherheit. Dafür sind die Arrangements mit ihren ständigen Akkord- und Tempowechseln zu komplex. Dennoch – und das ist die Stärke der Platte – groovt »Yeti Season« ungemein. Stefan Mertlik

Emeka Ogboh
Beyond The Yellow Haze
A-Ton • 2021 • ab 18.99€
»Beyond the Yellow Haze« war eigentlich bereits drei Jahre alt, als es im Frühjahr über den Ostgut-Ton-Ableger A-Ton neuveröffentlicht wurde, aber trotzdem ein Segen. Der Intuitivkonzeptkünstler Emeka Ogboh ließ Field Recordings aus Lagos auf eine Interpretation Berliner Clubmusik clashen, die sich das Post-Pandemie-Rave-Business unbedingt zu Herzen nehmen sollte. Hitzefiebrig, bisweilen unheimlich und voll verschlungener Grooves, die zwischen white cube und Darkroom vermitteln. Kristoffer Cornils

Felicia Atkinson
Echo
Boomkat Editions / Documenting Sound • 2021 • ab 24.99€
Als die Stille sich über die Dinge legte, drehte Félicia Atkinson sie nur lauter. Mit der Familie irgendwo außerhalb von Genf in eine Kunstkommune gestrandet, machte die Shelter-Press-Mitbetreiberin Musik, die eigentlich keine war. Die Klaviertöne tröpfeln wie ein Frühjahrsregen, hier und dort blühen Synthies und ein Saxofon im Mix. Was aber eigentlich im Zentrum von »Echo« steht, ist die Nicht-Musik. Die Geräusche, die sich drumherum gruppieren. Plätschern, Rascheln, Räuspern, Sprachnotate. Während also die Welt da draußen leise zusammenzubrechen schien, baute sie Atkinson mit den banalsten Mitteln wieder aus dem Innern heraus auf. Danke dafür. Kristoffer Cornils

Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra
Promises Indie Exclusive 180g Vinyl Edition
Luaka Bop • 2021 • ab 30.99€
Bei dem auf gut 45 Minuten angelegten Gipfeltreffen zwischen Floating Points, Pharoah Sanders und dem London Symphony Orchestra wird mit klassischen Songstrukturen und Playlist-Denken gebrochen. Das immer wiederkehrende Motiv schleicht meditativ durch das Album während Sanders Saxophon und die Streicher des Sinfonieorchesters sich bewusst zurück halten. Spirituell – fast schon ambient– gelingt es »Promises« emotional zu berühren. Benjamin Mächler

Godspeed You Black Emperor
G_d's Pee At State's End!
Constellation • 2021 • ab 28.99€
Dass Post-Rock alles andere als tot ist, beweisen Godspeed You! Black Emperor mit ihrem siebten Album eindringlich. Mit »G_d’s Pee AT STATE’S END« ist dem Kollektiv aus Montreal ein rohes, wütendes und hochenergetisches Meisterwerk gelungen, das an ihre beste Schaffensphase vor 20 Jahren anknüpft. Die atmosphärisch dichten Monster-Tracks lassen dabei neben brachialen Soundgewittern auch Platz für zarte Streicher-Melodien und unterstreichen mit Songtiteln und Artwork wie politisch Instrumentalmusik sein kann. »OUR SIDE HAS TO WIN«! Martin Silbermann

Haftbefehl
Das Schwarze Album White & Black Marbled Vinyl Edition
Urban • 2021 • ab 23.99€
Kunst, genau das ist »Das Schwarze Album« von [Haftbefehl](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/193/haftbefehl.) Denn natürlich lässt sich sein sechstes eigenes Werk nicht nur als die beste deutschsprachige Rap-Platte seit langer Zeit betrachten. Lyrik, Gegenwart, Depression, Zeitgeist. Alles drin. Dazu durchweg bombastische Beats. Da fand sogar der Deutschlandfunk Kultur höchste Töne in seiner Kritik. Es ist Haftbefehls großer Kniff, dass er sich dafür nicht verändern musste. Oder wie er es selbst hier sagt: »Du weißt, dass es Haft ist.« Björn Bischoff

International Music
Ententraum HHV Exclusive Transparent Brown Vinyl Edition
Staatsakt • 2021 • ab 26.99€
Das bekanntlich knifflige zweite Album meistern International Music mit Bravour. Die Band aus Essen denkt ihre – schon im Vorgänger »die besten Jahre« hörbare – so schön seltsam und knorpelig geformte Vorstellung von Rock weiter. Ihr Konglomerat aus Psychedelic Rock, Proto-Punk, Krautrock und Blues begeistert jegliche Musikjournalist*innen im gleichen Maße wie ihre lyrisch aufregenden wie auch aufstoßenden Zeilen. Da weiß man oft nicht, ob ihnen ein tieferer Sinn innewohnt oder ob die Worte einfach angenehm skurril zusammenklingen. Aber zum Glück muss man den Dadaismus von »Ententraum« nicht verstehen, sondern vor allem hören. Louisa Neitz

James K
Whyt 036 Feat. Yves Tumor
Ad 93 • 2021 • ab 12.99€
James K war fünf Jahre lang weitgehend abgetaucht und ganz ehrlich, wirklich vermisst hat sie niemand. Aber Katalognummer »036« von Nic Taskers Label AD 93 kam dann doch zurück in unser Leben wie die gute Freundin aus der Mittelstufenzeit, die plötzlich in einer anderen Zeit in einer anderen Stadt aufkreuzt und noch bevor der gemeinsame Espresso angenippt wurde, ist wieder alles, wie es dereinst war. Maximal verspulte Musik, die immer noch an Grimes zu besseren Zeiten erinnert und doch Eartheater zeigt, wie sich das alles besser anstellen lässt. Bonuspunkte für das Yves-Tumor-Feature, klar. Kristoffer Cornils

Kurt Vile
Speed Sound Lonely KV Black Vinyl Edition
Matador • 2020 • ab 25.99€
*Kurt Vile – Speed, Sound, Lonely KV (EP) (Matador)
In den USA ist
John Prine eine Legende. Einer der größten Bluegrass-Gitarristen, einer der größten Folk-Country-Musiker überhaupt. Ein Held auch für Kurt Vile Ende 2019 hatte der Songwriter aus Philadelphia die Gelegenheit mit John Prine dessen Song »How Lucky« aufzunehmen. Da ahnte noch niemand, dass John Prine ein halbes Jahr später gestorben ist, SARS-CoV-2 war im Herzen Amerikas angekommen. Es war eine beseelte Aufnahme. Eine, die das Leben umarmt, ohne die Schattenseite auszublenden. Sie wird auf »Speed, Sound, Lonely KV – EP« gerahmt von vier Stücken, die bei einer Session 2016 entstanden sind und den exakt selben Geist atmen. Darunter ein Cover von John Prines »Speed of the Sound of Loneliness«. Sebastian Hinz

Lea Bertucci
A Visible Length Of Light
Cibachrome Editions • 2021 • ab 27.99€
Alle Reisen gecancelt, da muss Musik als Trip-Ersatz dienen. Lea Bertucci hat zuvor mit Langkompositionen Zeit und Raum vermessen oder im Dialog mit Amirtha Kidambi kratzigen Konfrontations-Improv gemacht, ist »A Visible Length of Light« aber quer durch die Amerikas gereist, hat die gesammelten Sounds zwischen Flöten-Minimal gestellt und schillernde Drones zu einem musikalischen Reisetagebuch verflochten. Als jeder Tag derselbe wie der vorige war, blieb sich dieses Album niemals gleich. Danke dafür. Kristoffer Cornils

Lon Moshe & Southern Freedom Arkestra
Love Is Where The Spirit Lies Black Vinyl Edition
Strut • 2020 • ab 26.99€
Es ist ja nun relativ offensichtlich, wessen eingerahmtes Porträt Lon Moshe über dem Nachttisch hängen hatte, und nicht nur die Schreibweise seines Southern Freedom Arkestra bringt das zum Ausdruck. Doch bietet dieses erstmals in diesem Jahr veröffentlichte Werk aus den späten 1970er-Jahren dann eben doch mehr als Fußnoten in einer Hausarbeit über Sun Ras musikalisches Nachbeben. Sondern einen im allerbesten Sinne komplett bescheuerten Mix aus Free Jazz, spirituellen Anklängen, übertrieben ambitionierten Soli und jeder Menge nicht-westlichen Einflüssen, der weiterhin wunderbar enigmatisch und elektrifizierend bleibt. Kristoffer Cornils

Loraine James
Reflection
Hyperdub • 2021 • ab 26.99€
Zwar nicht mehr so dark as fuck wie auf ihrem Debütalbum, doch hat die Londoner Produzentin Loraine James auch für **»Reflection «, ihr Album aus dem Lockdown-Jahr, jede Menge Hochspannung angesammelt, die sich in ihren Beats entlädt. Genres wie Grime dienen ihr als Material, das sie nach eigenen Vorstellungen gestaltet. Tiefe Bässe, hochgepitchte Stimmen, hypernervöse Breaks – alles bekannt und trotzdem sehr anders bei ihr. Es gibt eine Zukunft, sagt die Musik, und vielleicht werden wir sogar tanzen. Tim Caspar Boehme

Loscil
Clara
Kranky • 2021 • ab 30.99€
Unangenehm das Geschwurbel von Licht und Schatten, und wenn der eine Song »Lux« und der nächste gleich »Lumina« heißt, darf man es natürlich zurecht mit der Angst vor aus Indien zurückgekehrten Philolog:innen zu tun kriegen. Die Musik wäscht all das weg. Loscil ist mit »Clara« eines der schönsten Ambient-Alben dieses Halbjahres gelungen. Die Ruhe ist hier so vollkommen, dass man sich neben die Zurückgekehrten ins Feld legen will, in die Sterne gucken, und sich Schweinereien ins Ohr flüstern will: Das Licht ist schwer heute Nacht. Pippo Kuhzart

Lost Girls
Menneskekollektivet
Smalltown Supersound • 2021 • ab 24.99€
Dass Jenny Hval schlicht und ergreifend eine der interessantesten Künstler:innen unserer Zeit ist, spricht sich langsam glücklicherweise rum. Bei ihrem Engagement in dem Duo Lost Girls, das sie zusammen mit Håvard Volden bildet, bringt sie ihren Wahnsinn in eine Dance-Form. Für gedanklich und körperlich besonders gelenkige Gestalten wohlgemerkt. Aber wenn es jemand schafft die Comics von Alan Moore, Menstruationsgedanken und Beats unter eine Decke zu bekommen, dann eben Jenny Hval. Lars Fleischmann

Maulawi
Maulawi
Strata Records Inc. / 180 Proof • 1974 • ab 40.99€
Der Opener von »Maulawi« gehört ohne Weiteres zu den grandiosesten Blaxploitation-Szenen, die nie gedreht wurden. »Street Rap« stellt sich direkt an den Street Corner während das Maulawi-Ensemble das bunte Geschwatze im überhitzten Chicago mit einem super-slicken Jazz Funk überzieht. In sechs mäandernden Titeln kreierte Maulawis 11-köpfige Band 1974 ein buntes, Funken und Leben sprühendes Debütalbum, das nach Lust und Laune zwischen Free Jazz, Criminal Jazz, Jazz Funk und Bossa springt. Der Bass treibt alles, schnarrt und groovt wie ein pinkes Pimpmobile. Und alles klingt dabei lose und spontan und superpräzise zugleich. Jens Pacholsky

Merope
Salos
Stroom • 2021 • ab 23.99€
Volkslieder von anno dunnemal neu einzukleiden ist eine beliebte, aber eben auch brenzlige Arbeitsaufgabe. Merope griffen für ihr viertes Album »Salos« ganz tief in die Mottenkisten litauischer Volksweisen und zogen Ideen daraus hervor, die weniger New Age denn New World waren: Ineinander fließende Kompositionen, die Balsam auf die von dumpfnationalistischer Rhetorik wundgeriebenen Hirnwindungen rieb und es nebenbei noch irgendwie schafften, balearische Anmutungen mit jazzigem Esprit, Choralstücken und Ambient zu versöhnen. Eine Wohltat, ein bescheidener großer Wurf, ein einziger Flow von Schönheiten. Kristoffer Cornils

Mind Maintenance
Mind Maintenance
Drag City • 2021 • ab 37.99€
Joshua Abrams ey, seit Jahren eine Bank. Wir nennen das, was er da meistens mit der Natural Information Society macht der Einfachkeit halber mal nur Jazz. Das Spezielle an diesem Jazz: Er sucht die Grenzen nicht in der Ausdehnung, sondern im nach Innen Gewandten; Reduktion, Repetetion und Rückzug sind die wichtigsten Parameter seines Ausdrucks. Das trifft auch auf seine Kollaboration mit Chad Taylor als Mind Maintanance zu. Von der Herangehensweise gut vergleichbar mit der Zusammenarbeit von Floatie und Sanders, nur dass es hier kein Sax gibt, sondern Mbira und Gimbri. Pippo Kuhzart

(https://www.hhv.de/shop/de/monokultur-vinyl-cd-tape/i:A175104D2N4S6U9]) Monokultur – Ormens Väg (Ever Never)
Erst der Bubble-Hype um Brannten Schnüre, der »Durchbruch« für Labels wie Vrystaete… warte, man muss es sagen, wie es ist: Die Etablierung von so etwas wie Lo-Fi-Doom-Kammer-Folk durch Kieran Sande hat dazu geführt, dass Monokultur mit »Ormens Väg« hier auftauchen und das skandniavische Platten plötzlich in London, Amsterdam, Ostende und Köln in aller Munde sind. K.P., was weiter im Osten geht, aber hier trifft diese angedubbte Müdigkeit voll den Nerv. Repress kommt im Herbst. Pippo Kuhzart

Moor Mother & billy woods
BRASS
Backwoodz Studioz • 2021 • ab 33.99€
Moor Mother ist Musikerin und Spoken Word-Künstlerin, billy woods der liebste Untergrundrapper deiner liebsten Untergrundrapper. Ihr kollaboratives Projekt »BRASS« glänzt mit ebenso hypnotischen wie drückenden Instrumentalen und liefert Zugänge zu Schwarzer Geschichte, Spiritualität und Rausch am laufenden Band. Nach Linearität und Versmaß sucht man hier vergebens, stattdessen finden sich psychedelische Exkurse an alle Ränder unseres geistigen Universums. »You can’t imagine a blacker future than me«. Till Wilhelm

Mosquitoes
Mosquitoes
World Of Echo • 2021 • ab 16.99€
Nicht wenige der Tracks voriger Releases der Mosquitoes klangen schon wie ein zehnfach überspieltes Suicide-Tape oder eben doch das von Mutti bei 90°C gewaschene DAT mit dem Master von »Bela Lugosi’s Dead«. Die selbstbetitelte 10inch der drei – Namen sind bekannt, zwei von ihnen betreiben Komare und einer von diesen zwei wiederum hat mal vor ewig kurz mit Primal Scream zusammengearbeitet – reibt noch einmal Schmirgelpapier drüber. »Fullscan« könnte die Ruine einer Techno-Bassline sein, bei »Eraserdom« spielt jemand im KK-Null-Style Gitarre, »Hexadex« ist der monotonste Jazz-Tune aller Zeiten und dazwischen gibt es Riddims, so spooky wie die Prognosen für die Bundestagswahl. Dub aus dem Kohlenkeller. Unvergleichlich. Kristoffer Cornils

Nico
The Driving Rain Black Vinyl Edition
Midnight Shift • 2021 • ab 11.99€
Lang ist’s her, dass Nicolas Guerrero unter dem Pseudonym White Visitation weitgehend noch rödelnden Minimal im Terrence-Dixon-Stil und sabschigen Dub-Techno veröffentlichte und sich dabei treu blieb. Klangholz-Dub-Techno, Trance-Dubstep, Gqom-Techno, Balearen-Acid-Hop: Vier Genres, die Nico nun auf seinem zweiten Release für Midnight Shift erfand, um sie im selben Zug schon wieder hinter sich zu lassen. Einem grundlegenden Rebranding folgen gleich auf kleinerem Level vier weitere und die nächsten sind bestimmt schon im Anmarsch – Ohr draufhalten! Kristoffer Cornils

Nyssa Musique
Comme Au Moulin
Ici Bientot • 1985 • ab 26.99€
Kämen Nyssa Musique aus Japan, hätte uns der YouTube-Algorithmus dieses Album schon vor fünf Jahren in den Sidebar gelegt. So aber mussten Ici Bientôt ran und es einfach auf Gutdünken neu auflegen. Das im Jahr 1985 im Selbstverlag veröffentlichte »Comme Au Moulin« erinnert deutlich an die Musik von vor allem Midori Takada und dem Mkwaju Ensemble oder auch Yas-Kaz in seinen jazzigeren Momenten: Wild drauflos gespielte und doch ewig verfeinerte, Patschuli-verwaschene Musik, die sich aus aller Welt bedienen will, um die Träume einer neuen Transkulturalität wahr werden zu lassen und dann aber doch noch ganz andere Richtungen einschlägt. Die Tropical Drums of Frankreich schlugen selten mit so viel Nachhall. Kristoffer Cornils

Pauline Anna Strom
Angel Tears In Sunlight Black Vinyl Edition
Rvng Intl. • 2021 • ab 26.99€
Pauline Anna Strom verstarb im Dezember letzten Jahres mit 74 Jahren. Die Veröffentlichung ihres erstes Album seit 30 fucking Jahren erlebte die Pionierin folglich leider nicht mehr mit. Sicher weitet das Wissen um Leben und Tod Stroms die Erfahrung noch weiter, die man beim Hören ihres »Angel Tears In Sunlight« hat, ganz sicher ist es aber auch ohne Mystiefizierung der Person eines großes Ambient/Tribal-Album, einfach weil so selten Flächen so spannungsstark komponiert werden wie hier, einfach, weil man hier gleichzeitig an verglühende Sterne und »Donkey Kong Country« denken darf und sollte. Pippo Kuhzart

Robbie Basho
The Art Of The Acoustic String Guitar 6 & 12
Gnome Life • 1979 • ab 23.99€
Die schlechte Nachricht zuerst: Robbie Basho singt auf dieser Platte. Die gute lautet: Er tut es nur ganz, ganz wenig. Was er ansonsten auf den wahlweise sechs oder zwölf Stahlsaiten seiner akustischen Gitarren an Raga-Anverwandlungen und folkloristischen Variationen aus seinen Fingern fließen lässt, hat magische Kraft. Gar nicht im bedrohlichen oder unheimlichen Sinn, man wird einfach verzaubert. Der wohl wunderlichste von den Künstlern des American Primitivism, wird heute nicht mehr gebaut. Tim Caspar Boehme

Roc Marciano
Mt. Marci
Fat Beats • 2021 • ab 34.99€
Der Fluss, der dem »Mt. Marci«[:https://www.hhv-mag.com/de/review/11571/roc-marciano-mt-marci entspringt, ist kein reißender, aber umso mehr mitreißend. Denn der Sprudel, aus dem “Roc Marciano](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/1462/roc-marciano) seinen neuen hochprozentigen Stoff braute, ist ein bis ins Ultimo eingekochter Sud, der auch in kleinen Dosen verabreicht aus den Latschen haut. Wem das schmeckt, dem blüht hypnotische Entrücktheit beim Dranbleiben, inklusive der Wechselwirkung, die Marcis Wortwahl verantwortet – und die wie immer so entspannt wie möglich und so bestimmt wie nötig über den minimalen Klangteppich rollt, holpert und auf ihm parkt. Marci ist halt eine sichere Bank. Längst meint man, mit einem neuen Album einer weiteren Fingerübung zu lauschen. Dabei ist es doch immer ein Kunststück. Christian Neubert

Sarah Mary Chadwick
Me And Ennui Are Friends, Baby
Rice Is Nice / Ba Da Bing • 2021 • ab 24.99€
Während des niemals enden wollenden Lockdowns habe ich bemerkt, dass ich dankbar war für Musiker:innen, die mich unmittelbar ansprachen, no flight, I’m always falling into other people’s worlds. Niemand war dabei in diesem Jahr direkter als Sarah Mary Chadwick. I’m not much for repeating lyrics / But I’ll repeat every sickness I ever had, baby. Und so erzählt sie, ein paar Tasten eines Klaviers spielend, von Liebschaften, Muttersöhnchen, Selbstbestimmung und Depression. »Me And Ennui Are Friends, Baby«. So ist es. Sebastian Hinz

Scotch Rolex
Tewari
Nyege Nyege Tapes • 2021 • ab 26.99€
Außen candyfarben, innen Blut schwitzend. Schon lange nicht mehr so gehörig eins auf die Fresse bekommen. Scotch Rolex pudert mit »Tewari« die Covid-Lethargie per Backstein gespicktem Klammerbeutel aus den Gesichtern. Gqom trifft Dubstep trifft Grindcore trifft Industrial trifft Trap trifft die illustren Seelenverwandten der ugandischen Labels Nyege Nyege Tapes und Hakuna Kalala, die hier alle Wut und jeden gerechtfertigten Frust rauslassen. Pedantisch sequenzierte Radikalität und Gewalt auf Zuckerstangenvinyl. Jens Pacholsky

Senyawa
Alkisah
Les Album Claus • 2021 • ab 18.99€
Außerhalb der Welt von Punk und Hardcore ist es eher ungewöhnlich, dass mehr als 30 Labels an einem Release mitarbeiten, bei Senyawa war es indes auch die Musik. »Alkisah« war das Metal-Album des Jahres, das gar kein Metal-Album war. Die beste Swans-Platte eines Paralleluniversums, in der die Swans ihre Instrumente selber bauen, klassischen indonesischen Musiktraditionen ein polyglottes Update verpassen und in der Michael Gira nicht so ein peinlicher Lappen ist. Handelte natürlich wovon? Der Apokalypse, klar. Und den Möglichkeiten danach. Zeitgeistiger ging’s halt auch einfach nicht. Kristoffer Cornils

Skee Mask
Pool
Ilian Tape • 2021 • ab 39.99€
Für Album Nummer drei setzt Skee Mask weiterhin auf Immersion, allerdings weniger durch den cineastischen Fluss von »Compro«. »Pool« wirkt wie ein wildes Gemisch aus rohen Stimmungen, das durch Zusammenwürfelungen von Breakbeat, Drum’n’Bass, Footwork und IDM stets am Siedepunkt steht. Intensiv und druckvoll wummert der eindreiviertelstündige Percussionporno in epischer Länge, auch weil hier nicht zwanghaft ein Albumkonzept gepflegt werden soll. Das ist Musik zum Kopffreikriegen und Unkrautjäten. Tim Tschentscher

Smerz
Believer
XL Recordings • 2021 • ab 31.99€
Eine gängige Feedback-Schleife moderner Liebestragödien: Simuliertes Nichteinlassen führt zu Plan B, Plan B führt zu realem Nichteinlassen usw. Vertont klingt so ein Kommunikationsdilemma im allerbesten Fall wie »Believer«, das endlich erschienene Debütalbum von [Smerz](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/5548/smerz.) Technoider Synth-Pop-Sexappeal tritt wehleidig aus dem Club, packt sich eine Geige und säuselt im Morgendunst RnB-Vocals. Intime Instrumentalmomente verführen ahnungsvoll und aus geloopten Synths scheppert ein Requiem der Verheißungen. Jana-Maria Mayer

Stella Chiweshe
Ambuya!
Piranha • 2021 • ab 26.99€
Wetten, irgend so ein Michi labert gleich von »World Music«? Ne, ne! Das lassen wir mal lieber bleiben, mein Lieber, sonst schepperts links und rechts! »Ambuya!« von der aus Zimbabwe stammenden Stella Chiweshe ist a) keine Allerweltsmusik. Und b) Lebensfreude im Dreiliterfass, verschäumt und verspritzt in den späten Achtzigern, von Jon Peel gefeaturt und jetzt – 33 1/3 Jahre später – endlich wieder auf Vinyl. Wer das Teil aufdreht und nicht den unmittelbaren Drang verspürt, auf einem Bein mit ausfallenden Bewegungen durchs Wohnzimmer zu springen, hat keine Seele! Christoph Benkeser

Teresa Winter
Motto Of The Wheel Blue Vinyl Edition
The Death Of Rave • 2021 • ab 29.99€
Beim Blick durch ein Kaleidoskop siehst du ein Muster und wenn du das Kaleidoskop drehst, dann verändert sich das Muster. Wenn du das Kaleidoskop schüttelst, erhältst du ein neues Muster. Die meisten Musiker:innen verändern die Muster langsam. Wenn sie ambitioniert, waghalsig, neugierig sind, dann Schütteln sie zwischen den Tracks. Teresa Winter ist aber irre. Sie schüttelt während des Tracks. Nicht danach. Du bekommst dann schon mal 3 unterschiedliche Muster in zweieinhalb Minuten. »Motto Of The Wheel«: Dreister Drum’n’Bass, Rummeltechno, Music for stillgelegte Airports, Androidengespräche, Humanoidengespräche, Atem-Yoga, Rave ohne Katharsis, Hyperintelligent Dance Music. Neue Muster, ständig in Bewegung. Sebastian Hinz

Thugwidow
Post Modern
Sneaker Social Club • 2021 • ab 9.99€
Bestenlisten ohne Sneaker-Social-Club-Content sind schon seit geraumer Zeit mindestens sinnfrei bis vollkommen illegitim und in den ersten beiden Quartalen dieses Jahres bewies Thugwidow, dass dieses Label selbst im Stillstand noch den Fortschritt anschiebt. »Post Modern« ist eine kreative Rückgriffsfantasie, das zu Rave-Zeiten bei Grooverider und Fabio decksharkt, zugleich aber an allen Bandcamp-Jungle-Produzent*innen und Breakbeat-Revivalists vorbei zieht. Wie Djrum auf Plus acht mit Kiefermuskulaturkrämpfen, soll heißen der absolute Wahnsinn. Kristoffer Cornils

Tomaga
Intimate Immensity Black Vinyl Edition
Hands In The Dark • 2021 • ab 21.99€
Tom Relleen ist nicht die einzige Person aus dieser Liste, die von uns gegangen ist, aber auch nicht die bekannteste. [Tomaga](https://www.hhv-mag.com/de/glossareintrag/4905/tomaga,) sein Projekt mit der Drummerin Valentina Magaletti, blieb einem kleinen Kreis vorbehalten und fühlte sich dort allerdings wohl auch am wohlsten. »Intimate Immensity« ist nun also das schätzungsweise letzte Tomaga-Album, fertiggestellt und veröffentlicht nach seinem Tod im August letzten Jahres. Es könnte keinen schöneren Abschied geben, wie auch kein brillanteres Requiem je geschrieben wurde als der finale Track, das Titelstück. In zehn Schritten gehen Relleen und Magaletti noch einmal Hand in Hand vor und zurück, kreuz und quer alle Möglichkeiten von Wiederholung und Differenz durch. Bis das Licht erlischt und Stille sie verschlingt. Kristoffer Cornils

V.A.
La Ola Interior: Spanish Ambient And Acid Exoticism 1983-1990
Bongo Joe • 2021 • ab 30.99€
Eine kleine Tour durch den fruchtbaren Untergrund Südeuropas während der Achtziger gefällig? Bitteschön. Was die zwanzig Tracks auf »La Ola Interior: Spanish Ambient & Acid Exoticisms 1983-1990« über 70 Minuten versammeln, ist ein weiteres Zeugnis der endlosen Möglichkeiten, die sich durch die Verbindung von westlicher und fernöstlicher Musiktradition ergeben. Beseelt von amerikanischem Minimalismus, Hassels »4th World Music«, Krautrock und experimentellen Tape-Recordings, verschwimmen hier totgeglaubte Tropen in pulsierenden Panoramen und ergeben Visionen, die bis heute vibrieren. Nils Schlechtriemen

Vladislav Delay
Rakka II
Cosmo Rhythmatic • 2021 • ab 27.99€
Ohne es zu wissen und schwer von der finnischen Natur inspiriert, steuerte der Finne Sasu Ripatti alias Vladislav Delay mit »Rakka« Anfang 2020 den Soundtrack zur nahenden Apokalypse bei. Scharfkantig und unbarmherzig rauschten die brüsk betitelten Stücke über Trommelfelle hinweg, erzeugten bei Hörer*innen Panikattacken, die sonst nur leere Drogentütchen auf Berliner Bootsdemos auszulösen vermögen. Im April dieses Jahres legte Ripatti »Rakka II« vor, der deutlich kohärenter, doch mit der gleichen infernalischen Wucht daherkommt. Maximilian Fritz

Zuli
All Caps
UIQ • 2021 • ab 13.99€
Man kann ZULI die Maschinen klauen. Aber den Maschinen nicht ZULI wegnehmen. Der Ägypter zerfetzt auf Lee Gambles Label UIQ Amen Breaks und reißt mit sonischen Handgranaten ein dickes fettes Loch in die Bassbox. Habibi und Hawara, »All Caps« ist der Knüller des Jahres, ein Massagegutschein für Mind und Body – die seltene Gelegenheit, Footwork, Jungle und den persischen Golf in die 2020er zu schießen. Das ist elektronische Musik, die mit zwei Fingern auf den Puls der Zeit pocht. Saustark. Christoph Benkeser