Aigners Inventur – November 2013

06.12.2013
Auch diesen Monat setzt sich unser Kolumnist vom Dienst wieder kritisch mit der Release-Flut auseinander, selektiert, lobt und tadelt. Any given month. Dieses Mal u.a. unter der Lupe: 7 Days Of Funk, Blood Orange, Shadowlust und Logos.
7 Days Of Funk (Dam-Funk & Snoopzilla aka Snoop Dogg)
7 Days Of Funk 45 Box Set
Stones Throw • 2013 • ab 54.99€
Man muss es einfach mal festhalten: Seit Snoop Dogg endgültig seine Schäfchen im Trockenen hat, erreicht er mit seiner Whatever-Haltung fast schon wieder die Lässigkeit, die ihm im neuen Jahrtausend etwas abhanden gekommen war. Nun ist er tatsächlich auf Stones Throw angekommen, lässt sich von Dam-Funk genau jene Funkadelic-Tributes auf den Leib schneidern, auf die er insgeheim vermutlich schon seit 30 Jahren rappen wollte und genießt auch noch die Freiheit darüber nicht rappen zu müssen. Vielmehr säuselt, nuschelt und nölt sich Snoop hier in einer derart furiosen Nonchalance durch die »7 Days Of Funk«, dass man in diesen gut 30 Minuten direkt seine Tagesration an Endorphinen gedeckt hat.

SSIO
BB.U.M.SS.N. Deluxe Edition
Alles Oder Nix • 2013 • ab 20.99€
Es ist selten ein valides Verkaufsargument, wenn einem ein Künstler von einem 17-Jährigen bei Rewe an der Kasse ans Herz gelegt wird. Genau auf einer solch surrealen Empfehlung gründet letztlich aber meine verspätete Wertschätzung für Ssio. Das liegt zum einen an den für deutsche Verhältnisse unglaublich fett produzierten, stets die frühe Death Row-Schule, Mecca & The Soul Brother und die Jeepbeats-Ära gleichzeitig verarbeitenden Beats, zum anderen aber auch daran, welche Kunstfigur der Bonner hier erschaffen hat – half Arschproll/half Golden Ager. So führt es zu einer ungeheuren Dynamik, wenn Ssio in der einen Minute von Boss Orange, Big King XXLs und Rotlicht-Happy-Hours erzählt, nur um direkt danach alles mit soviel Selbstironie und Hängertum wieder zu entkräften. Eine Tour De Force der Augenzwinkerei, grenzdebil betitelt und doch so viel lustiger als all diese deutschen Spaßrapper von damals.

Eminem
The Marshall Mathers LP Volume 2
Interscope • 2013 • ab 17.58€
Eminem? Hatten wir schon

Weiter also mit Rich Homie Quan, dem fehlenden Bindeglied zwischen Futures Slickness und Young Thugs Wahnsinn. Nachdem er mit Some Type Of Way eventuell das nächste #YOLO gecoined hat, geht es jetzt mit dem Versprechen weiter, immer alles zu geben am Mikro. Und ey, das tut er, irgendwie. Eminem mag immer noch alles durchdeklinieren was Metrik und Semantik zu bieten haben, Rich Homie Quan singsäuselt sich mit 200 Prozent weniger Anstrengung durch 300 Prozent erinnerungswürdigere Tracks. Was ich mich freue den Heiligen Abend mit einer Karaoke-Version von They Don’t Know zu krönen.

Yancey Boys
Sunset Blvd.
Delicious Vinyl • 2013 • ab 10.19€
Ach man, ein Großteil des Dilla Nachlasses wurde nicht gerade so verwaltet wie man sich das 2006 gewünscht hätte, aber immerhin haben Yancey Boys’ Alben nicht dieses fiese Nekrophilie-Gschmäckle, das so viele posthume Jay Dee »Projekte« umweht. Nun ist Dillas kleiner Bruder kein Virtuose am Mic und weder Frank noch Dank hätten in einem anderen Kontext jemals eine Platte veröffentlicht, aber über diese stoischen, größtenteils nach Dilla zwischen seiner Fantastic Vol.2 und Soulquarian-Phase klingenden Beats, wirkt »Sunset Blvd« schon so wie es sich der große Bruder gewünscht hätte.

Roc Marciano bleibt weiter rastlos und schiebt vor sein kurz vor Weihnachten erscheinendes nächstes Album noch »The Pimpire Strikes Back«. Darauf findet sich endlich eine Kollaboration mit Madlib, schlafwandlerisch sichere Alchemie und überhaupt dieses ganze New Yorker Timbs & Hoodies Ding, das man als klassisch sozialisierter Mobb Deep Ultra eben so schätzt. Weitermachen.

Jonwayne
Rap Album One
Stones Throw • 2013 • ab 8.99€
Was es mit diesem erfrischend augenkrebsigen Stones Throw-Ginger Jonwayne auf sich hat, habe ich nach »Rap Album One« zwar immer noch nicht vollständig verstanden, immerhin aber ist das Instrumental zu The Come Up Pt.2 eine Sensation. Ansonsten soll das Moppelchen ja manchmal ein bisschen so rappen wie der große Daniel Dumile, was ich nicht wirklich nachvollziehen mag. Nun ja, viele Leute scheint das glücklich zu machen, es ist Advent und Yada Yada Yada

Blood Orange (Dev Hynes aka Lightspeed Champion of Test Icicles)
Cupid Deluxe
Domino • 2013 • ab 43.99€
Ich freue mich derweil über die Schwüle, die »Cupid Deluxe« in diese trockenen Wintermorgen bringt, bin mir aber nicht mehr ganz so sicher, ob Blood Orange nicht auch dieses Twin Shadow-Schicksal ereilen wird. Das ist alles so hittig, so zugänglich, so 80s, so Hook-lastig, dass man zu schnell der Repeat-Versuchung erliegt und das dann nach zwei Wochen erstmal wieder für ein Jahr aus allen Playlists verbannen muss.

Sebastien Tellier
Confection
Record Makers • 2013 • ab 20.99€
Ähnliches galt in der Vergangenheit auch oft für Sebastien Telliers Anzüglichkeiten. »Confection« löst sich von Telliers hypersexuellem Pop der letzten Jahre und beschwört La Ritournelle Zeiten herauf, ohne sich allerdings zu klassischen Hit-Strukturen zu bekennen. Nein, das hier sind kleine Symphonien, mit langen, sehr langen instrumentalen Passagen, fetten Streichern, betörend schönen Klavierstücken und ganz wenig Sirup.

M.I.A.
Matangi
Interscope • 2013 • ab 16.19€
Und damit auch die Antithese zu »Matangi«. M.I.A. und insbesondere ihr Hochglanz-Revoluzzer-Habitus sind möglicherweise zurecht allseits zum Ärgernis geworden, was ihr hier aber zum ersten Mal seit «Kala« wieder gelingt, ist musikalisch relevant zu sein. Das liegt auch an Hit-Boy, der stellenweise dermaßen Affenscheiße geht, dass seine bisherigen Produktionen fast brav wirken, zum anderen auch an M.I.A.s Ehrgeiz es allen beweisen zu wollen, auch ohne Diplo relevantes Kulturgut kreieren zu können. Über die teils dummdreisten Slogans darf man stolpern, die Fratboy-Banger schnell verdrängen, aber bisweilen ist das musikalisch ein beeindruckendes Dokument des Hier und Jetzt.

M.I.A.
Matangi
Interscope • 2013 • ab 16.19€
Warum Gesaffelstein aktuell sogar auf Teeniehandies stattfindet ist mir weniger ersichtlich als Kanyes Wunsch den Herren auf »Yeezus« zu haben, aber andererseits schafft es Gesaffelstein auch immer wieder diese zwar kantigen, aber extrem sauber und druckvoll produzierten Peaktime-Geschosse zu produzieren, die zwar augenscheinlich Industrial Techno zitieren, aber gleichzeitig auch im Coachella-Kontext funktionieren. Das ist respektabel, aber auch wesentlich langweiliger als die subtileren Momente auf »Aleph«, in denen man sich tatsächlich vorstellen kann, dass die primäre Inspirationsquelle doch nicht Boys Noize Records anno 2006 sondern Cabaret Voltaire anno 1984 waren.

Shadowlust
Trust In Pain
L.I.E.S. • 2013 • ab 16.99€
Wem das zu glatt ist und wer EBM nicht mit Ableton-Spuren assoziiert, dem hilft der gute alte Morelli mit »Trust In Pain«, dem größtenteils auf Live-Improvisationen basierenden Album von Shadowlust. Dahinter verbergen sich Svengalisghost und 51717 und wer das im Hinterkopf hatte, wird von der rohen Körperlichkeit, der scheppernden Off-Beat-Percussion und der dystopisch-paranoiden Atmosphäre auch nicht überfordert sein. Der Rest wärmt sich vielleicht erst mit ein paar alten Surgeon Maxis und The Land Of Rape And Honey auf.

Vatican Shadow
Remember Your Black Day
Hospital Productions • 2013 • ab 25.99€
Das wäre auch keine schlechte Vorbereitung für »Remember Your Black Day«, die nächste Vatican Shadow Platte, wobei hier vermutlich auch noch eine konspirative 9/11-Doku helfen würde, um sich auf die wie immer schwer wahnsinnigen Titel vollends einlassen zu können. Die etwas eigenwillige Ästhetik mal außen vorgelassen, ist Vatican Shadow mittlerweile definitiv in die erste Riege der querköpfigen Technoproduzenten aufgestiegen, auch weil er genau weiß, wann Noise und Terror mit fragilen Melodien konterkariert werden müssen.

John Heckle
Desolate Figures LP
Tabernacle Records • 2013 • ab 15.29€
Etwas zu viel Hektik für meinen Geschmack verbreitet hingegen John Heckle auf »Desolate Figures«. Auf seinem zweiten Album scheint ihm sein Roland-Fetisch das erste Mal stellenweise zum Verhängnis zu werden, viele der Stücke klingen in ihrer rüde zur Schau gestellten Modernitätsverweigerung entweder zickig oder redundant. Das ist schade, weil Heckle das Herz definitiv am rechten Fleck hat und seine Maschinenliebe furiose Live-Shows produziert, deren Energie er hier zwar versucht einzufangen, aber nicht kanalisieren kann.

Recondite
Hinterland
Ghostly International • 2013 • ab 9.99€
Ich spare mir an dieser Stelle billige Casper-Kalauer und konstatiere lieber, dass »Hinterland« ein wirklich schönes Winteralbum ist. Weil Recondite nicht mehr ganz so schüchtern in seiner Melodieführung ist und auch ab und zu mal die Sonne in seinen Kerker scheinen lässt. Sein nun auch schon zweites Album erscheint bei Ghostly und tritt dort inoffiziell die Nachfolge von Lusine an.

Axel Boman
Family Vacation
Studio Barnhus • 2013 • ab 23.99€
Und wo Lusine oder Recondite andeuten, ist Axel Boman ungeniert explizit. Die Kollegen von Resident Advisor machen für »Family Vacation« das 90er-Koordinatensystem auf und ordnen die Quirkiness des Schweden zwischen Lemon Jelly, Groove Armada und Royksopp ein, der ultimative Bruder im Geist ist aber vielleicht viel einfacher zu finden: Cheffe Kozalla, dem Boman damals einen seiner größten Hits für Pampa geliefert hat und der ebenso in dieser Trickster-Rolle aufgeht wie Boman selbst.

In dieser Rolle gefällt sich auch Heatsick, wobei sich jener eher im subversiven Adolf Noise-Zynismus wohlfühlt als in Bomans nordischer Kuscheldecke. Der Titeltrack seines zweiten Albums für PAN schmeißt direkt mit fiesen Aphorismen um sich, ehe Heatsick die Watermarks des letzten Nicki Minaj-Albums persifliert, die Berliner U-Bahn und ein darin dargebotenes, grausames Wondercall-Cover samplet und noch allerlei anderen Schnickschnack in seine zähflüssigen House-Not-House-Arrangements packt. Irritieren will er, gelobt und gekauft wird er. Also zumindest von mir.

Die Engländer verkaufen uns bekanntermaßen etwa einmal pro Monat die Revolution in geflügelten Worten, aber verdammt nochmal, Logos’ »Cold Mission« könnte tatsächlich wieder einer dieser Quantensprünge sein, die all things Dubstep nachhaltig ändert. Nun sind diese amorphen, minimalistischen Beats streng genommen definitiv eher Grim(m)e als Dubstep, aber da man unter diesen Begriff mittlerweile alles mit gutem Gewissen subsumiert, was nicht eins zu eins wie 90s Piano-House mit Vocal-Sample klingt, treiben wir die alte Kuh halt nochmal durch’s Dorf. «Cold Mission« ist eine Sensation, soviel steht fest, ob im größeren Kontext wie der frühe Dizzee oder Burial oder weniger nachhaltig wie die Purple-Boys um Joker und Guido, das wird sich zeigen. Solange: early adopten, besserwissen und in der Bahn das Fußvolk belächeln, das gerade Mount Kimbie entdeckt hat.

Guido
Moods Of Future Joy
Tectonic • 2013 • ab 12.59€
Wo wir gerade bei der Original Purple Swag-Posse waren: Guido hat ein neues Album gemacht und eröffnet »Moods Of Future Joy« direkt mit der offensichtlichsten »Futuresex/Lovesounds« Verneigung in seinem ohnehin Timbo-lastigen Oeuvre. Danach dann die Bristol-Version von Dres Xxplosive inklusive Alien-Vokoder. Und weiter mit androgynem R&B, Hud Mo Steroiden, Regen in der Sahara und diesen ganzen wunderschön käsigen Synths überall. Ich mag den immer noch, den Guido.

So und am Ende dann noch die britischste Tanzplatte von allen: West Norwood Cassette Library hat bereits auf einer Hand voll Maxis demonstriert, dass ihm Schubladen höchst zuwider sind, was auf »8 Track Cartridge« passiert, treibt diesen Genre-Clusterfuck aber auf die Spitze. Im einen Moment hüpft er mit Plüschkissen zu Dee-Lite, im nächsten setzt es Amen-Breaks, Acid-Lines, Autoscooter-Jungle und kontemplativen After Hour House. Kohärent ist das seltsamerweise trotzdem, einfach weil man diesem Derwisch in jeder Sekunde diese diebische Freude über seine Sauereien anmerkt.