Review

Charles Bradley

Victim of Love

Dunham • 2013

Um es zu einem klassischen Solisten zu bringen, gibt es die Faustregel der 10.000 Stunden-Hürde. Wer diese in der Jugend nicht überwunden hat, schafft es statistisch gesehen nicht in die vordersten Reihen eines Orchesters. Das übersetzt sich grob in 4 bis 5 Jahre mit täglichen 6 bis 8 Stunden Schichten. Wie Stravinsky schon sagte, setzt sich Erfolg zu 10% aus Inspiration und 90% aus Transpiration zusammen. Um es zu einem Weltklasse-Soulisten zu schaffen, bedarf es wohl derselben ausdauernden Hingabe. Allerdings nicht in gut behüteten Hinterzimmern, sondern mit mindestens ebenso vielen zurückgelegten Kilometern Lebens(ab)weg. Wie im Hip Hop ist im Soul eine der wichtigsten Zutaten die »Street Credibility«, ohne die es schnell lächerlich wird. Und von der hat Charles Bradley mehr als genug. Über Jahrzehnte hinweg steckten er und seine Karriere mal knietief, mal bis zum Hals im Dreck und kamen schleppend oder gar nicht voran. Gerade in dieser Situation ist es aber unratsam den Kopf hängen zu lassen. Und wenn er selbst auch die Hoffnung auf einen besseren Morgen wohl nie ganz aufgeben hat, hätte wohl niemand damit gerechnet, dass trotz ausgiebigsten Düngens aus einer gemeinen Stinkmorchel ein immergrüner Mammutbaum hervorgehen könnte, der noch viele Generationen nach uns für Erstaunen sorgt. So belehrt uns das Wunder des Lebens einmal mehr und beschert uns nun die zweite Ernte an rohen Soulfrüchten, von denen die Rare Groove Gemeinde seit »No Time For Dreaming« nicht genug bekommen kann. Mit ähnlich bittersüß vorgetragenen Zeilen, die Zucker für die Ohren der Fans sind, ist diesmal so manch ein überreifes Exemplar dabei, dass im Kopf Bilder aus den psychedelischen Spätsiebzigern heraufbeschwört. So wundersam wundervoll, dass man es sich ebenso gut im Club wie in Abgeschiedenheit auf einer Waldlichtung zu Gemüte führen kann.