Records Revisited – The Streets’ Original Pirate Material, 2002

27.03.2018
Mike Skinner wollte mit seinem Debüt ein echtes englisches Hip-Hop-Album machen, das auf US-Klischees verzichtet. Herausgekommen ist ein äußerst präzises Porträt des Lebens britischer Millennials zwischen 9 to 5 und Binge Drinking.

Als 2002 »Original Pirate Material« erschien, gab es in Großbritannien noch die Sperrstunde. Pubs nahmen 23 Uhr die letzten Bestellungen entgegen. Danach wurde dicht gemacht. Das klassische Bild war dann: schnell noch 2 Pints und (mindestens) einen Shot hinter gekippt und danach raus in die kühle Nacht. Noch viel zu munter, aber dafür gutgehend bis total besoffen. Wenn wir Glück hatten, gab es in der Nähe einen Club, der uns bis knapp 2 Uhr Unterschlupf und Alkohol gewährte, bevor auch dieser von Sicherheitspersonal ausgekehrt wurde.

Dann standen wir wieder draußen. Immer noch viel zu munter, dafür aber definitiv strunzbesoffen. Zusätzlich frustriert, dass wir von jetzt auf gleich von der Tanzfläche gefegt wurden. Und mit uns standen dort Dutzende anderer junger Menschen in einem identischen Zustand und mit Lust, dass es noch irgendwie knallen müsse. Ich erinnere mich noch an einen Abend im schottische Stirling, als – kaum dass ich aus dem Club trat – ein Typ aus zehn Metern Entfernung zu mir rief, sein Opa trüge ebenfalls so eine Mütze wie ich (eine Schiebermütze). Ich war viel zu perplex (und betrunken), um ernsthaft zu reagieren. Meine Kumpels aber hatten Blut gewittert. Sie kamen sofort an meine Seite. Lechzende Hyänen mit schiefem Blick und hängenden Mundwinkeln. Ich müsse nur was sagen. Ein Wort, um den Typen anzugehen. Einen Spalt für die Provokation öffnen.

Real Street-Rap

Als Mike Skinner mit »Original Pirate Material« begann, wollte er Street-Rap machen, ohne wie typischer britischer Street-Rap zu klingen. Der orientierte sich seiner Meinung nach immer noch zu sehr an den US-Amerikanischen Vorbildern. Seine Straßen lagen in Birmingham, nicht in New York. Dem AV Club erzählte Skinner 2008: »Rap Music hat mich nie wirklich angesprochen. Ich hatte nie das Gefühl, dass irgendwelche Rapper mich spiegelten.« Er konnte mit der Champagner-&-Bitches-im-Club-Farce noch mit der gewalttätigen Ghetto-Romantik etwas anfangen. Dafür war er zu sehr weiße britische Arbeiterklasse. Bei ihm wurden im Auto des Kumpels UK Garage Tapes gehört, im Pub das Binge-Drinking kultiviert und daheim abgefeiert. Dort gab es Kronenberg aus der Büchse, eine Bong und Pizza. Anstelle Sex & Drugs und Rock ‘N Roll bestand sein Leben aus »sex, drugs and on the dole (Sozialhilfe)«. Und überhaupt »Around here we say birds / not bitches« (»Let’s Push Things Forward«).

Immer am Kämpfen. Immer am Trinken. Immer am Verlieren.

Dementsprechend beginnt Skinners Debüt als The Streets mit einer Verortung. Die A-Seite des Doppelalbums ist pure Selbstversicherung und Positionierung. Skinner wollte weder UK Rap machen, noch das omnipräsente und mittlerweile als Auslaufmodell trudelnde UK Garage weiterführen. »I make bangers not anthems / leave that to the Artful Dodger«, wie er in »Let’s Push Things Forward« klarstellt. Er wollte eine Weiterentwicklung und einen eigenen Sound, der zwar all die Elemente aus Rap, UK Garage und der sogenannten Urban Music beinhaltete, aber doch eigen klang. Ironischerweise stecken gerade die beiden Hitsingles »Let’s Push Things Forward« und »Has It Come To This?«, in denen er seinen individuellen Stil am deutlichsten propagiert, noch sehr klar im UK Garage.

Eine Nacht in UK

Skinners eigentliche Arbeit beginnt sowieso auf der B-Seite mit »Same Old Thing«. In hingerotztem Cockney-Akzent startet er seine UK Street-Storys der kommenden zehn Songs genau dort, wo jeder Abend in der Regel seine Nemesis findet: im Pub zur Sperrstunde. Schnell noch das letzte Bier exen, krawallend über den Tisch fallen, die Kumpel anpumpen und irgendwie im obligatorischen Take-Away landen, wo es denselben »shit in an ashtray« gibt, der euphemistisch Chicken Curry genannt wird. Und in all dem möglichst versuchen, jeder Rangelei aus dem Weg zu gehen. Denn Skinner gehört zu den Entspannten im Königreich.

Skinners Storytelling und Deliverance ergänzen und konterkarieren sich dabei perfekt. Auf der einen Seite stehen präzise herausgearbeitete Snapshots des ganz normalen Millennial-Alltags in Big UK in Form folkloristischer Cautionary Tales und Satire, die einem Dickens und Swift genügt hätten. Es ist ein Leben aus 9 to 5, Exzess und Absturz im Kreislauf. Nostalgisch in der Happy-Ecstasy-Zeit der Warehouse Raves verhaftet, als noch alles möglich war. Immer am Kämpfen. Immer am Trinken. Immer am Verlieren. Und immer wieder am Aufstehen, wenn das Gesicht auf dem Asphalt landet (oder sich in eine kleiner Sperrstunden-Schlägerei verirrt hat). Auf dem Nachfolger »A Grand Don’t Come For Free« wird er diese Stärke des Cautionary-Tale-Storytellings auf die Spitze treiben.

Auf der anderen Seite spukt Skinner mit allem Sarkasmus und Proletariat, aller Desillusionierung und Liebe seine Zeilen aus. Wenn er sich in »Old Same Thing« und »Too Much Brandy« dem Alkoholexzess hingibt, schwingen das Lallen und die Speicheltropfen auf den Lippen direkt mit. In »Irony Of It All« springt er mit Leichtigkeit vom rechtsbewussten Alkoholiker-Schläger zum friedlichen Carl Jung lesenden Kiffer mit Ingenieurstitel. Skinner schafft auf »Original Pirate Material« nicht nur ein authentisches Bild der Millennials in einer von Thatcher und Blair demontierten Nation. Er bleibt in all dem Widerspruch aus besinnungslosem Besäufnis und Reflexion auch zu jeder Zeit er selbst. Er ist der Rapper, den er in seinen Vorbildern nie gefunden hat. Proletarisch und doch irgendwie sympathisch. Laut aber nicht gewalttätig. Verloren und voller Hoffnung.

Ich winkte damals übrigens ab und trottete in meinem zufriedenen Suff mit meiner Freundin nach Hause. Skinner hätte das sicherlich nicht anders gemacht.