Polnischer Jazz – Eine Einführung in 10 Schallplatten

03.07.2019
Die polnische Jazzszene gilt als eine der wichtigsten und kreativsten in Europa. Sie changiert heute zwischen oberflächlichen Konventionen und versteckten Brüchen. Eine kleine Spurensuche.

Tradition und Dekonstruktion
Im Polen der späten 1940er Jahre trat der stalinistischen Regierung im Zuge ihrer Umsturzparanoia Angstschweiß auf die Stirn, hörten sie die sinkopaken Takte des Jazz. Die Kulturministerien verbannten alles rhythmisch Subtile in die Illegalität des Untergrunds, der erst nach Stalins Tod, 1953, wieder ans Tageslicht durfte. Feliks Falks 1982 entstandener Film »Byl Jazz« folgt den Musikern der Lodzscher Jazz-Kultband Melomani durch diese Periode der Jazzverbannung. Der Schlüsselsatz des Films, »Vielleicht ist dieser Jazz für sie mehr, als nur Musik«, begreift die Regierungsangst in einfachen Worten.

Jazz galt den Obrigen in den autoritären, moralinsauren Staaten seit eh und je als suspekt. Und auch nach seiner Legalisierung nach Stalins Tod blieb Jazz ein Symbol, »die ansteckende Ausdünstung einer zerfallenden, bourgeoisen Kultur«, wie der polnische Maler Andrzej Wroblewski den Jazz einst beschrieb. Dennoch oder gerade deshalb entwickelte sich hinter dem eisernen Vorhang in Polen eine florierende, spannende und erfolgreiche Jazz-Szene. Die polnische Jazzszene der 1950er und 1960er unter Krzystof Komeda, Jan ›Ptaszyn‹ Wroblewski (beide ehemalige Mitglieder Melomanis) und Michał Urbaniak hinterließ auch international Spuren. Tomas Stanko gründete 1962 mit den Jazz Darings die erste, zumindest öffentlich bekannte Europäische Free-Jazz-Combo. Und Komeda hat gleich mehrere Soundtracks für Roman Polanski geschrieben, darunter »Rosemary Baby«.

Kreativität in Isolation
In der Isolation hinter dem Eisernen Vorhang konnte sich eine eigene, wenig reglementierte Stilvielfalt entwickeln. »Die Jazzszene hatte ihre eigenen frischen Ideen«, resümierte 2004 Igor Pudło im Goon Magazine. Gemeinsam mit Martin Cichy hatte er sich damals unter dem Projektnamen Skalpel aufgemacht, Ninja Tune mit modernem Jazz zu bereichern, der ausschließlich aus Samples der »Polish Jazz«-Series bestand. Die von dem Label Polskie Nagrania Muza veröffentlichte Serie war zwischen 1965 und 1989 eine feste Instanz für alle Jazzmusiker in Polen und darüber hinaus. Seit einigen Jahren erscheinen dort wieder sporadisch Jazzalben und ein Teil des lange Zeit vergriffenen Backkatalogs wurde jüngst wiederveröffentlicht.

Trotz einiger Radioverbindungen ins imperialistische Ausland, war die Jazzszene in Polen weitestgehend isoliert. Und griff deshalb auf die eigene Kulturgeschichte zurück. Neben polnischer Folklore und der Klaviermusik von Chopin waren das vor allem auch die Kompositionstechniken philharmonischer Konzertmusik. Mit Andrzej Trzaskowski und Andrzej Kurylewicz bildete sich während der 1960er der sogenannte 3rd Stream heraus, eine Vermischung des Modern Jazz mit zeitgenössischer philharmonischer Musik. Erst in den 1970er Jahren schwappt u.a. durch den in die USA emigrierten Saxofonisten und Violinisten Michel Urbaniak auch Fusion Jazz ins Land. Mit Laboratorium entstand in denselben Jahren ein buntes Kollektiv, das den Jazz in die psychedelischen Ecken bewegte, in denen sich Krautrock, elektronische Musik und Music Concrete verbanden.

Zwischen Aufbruchsstimmung und Traditionszwang
Schnitt in die Gegenwart. Polens Jazzszene war vermutlich nie so groß wie heute. Rund 34 Jazzfestivals finden regelmäßig statt. Das technische Level, auf dem selbst in den kleinsten Clubs gespielt wird, ist enorm. Piotr Turkiewicz, Leiter des Festivals Jazztopad, schwärmte 2017 im Magazin Allaboutjazz uneingeschränkt von der Stärke der polnischen Jazzszene: »Jede Stadt hat seine eigene Community an Musikern, die improvisieren, Avantgarde oder auch Mainstream spielen«. In den letzten Jahren gibt es eine wahre Flut an Veröffentlichungen. Auf dem Blog Polish Jazz besprechen drei Enthusiasten fast tägliche neue Alben polnischer Bands und Soloisten. Doch bleibt bei all dem Reichtum an Musikern und all der Weltklasse-Technik eins offensichtlich: Die Fußstapfen der Väter des polnischen Jazz sind riesig – und nur wenige Jazzbands wagen sich aus diesen tiefen Abdrücken heraus.

Trotz der Menge an Jazzmusikern (Frauen kommen in der polnischen Jazzszene so gut wie nicht vor) ist das Klangspektrum heute verhältnismäßig homogen. Es finden sich zwar speziell polnische Phänomene, wie die Interpretation Chopins oder die Integration von Violinen. Doch die musikalischen Strukturen haben sich seit den 1970er Jahren nur unwesentlich verändert. Anfang der 1990er Jahre gelang der jungen und aus dem Umfeld des Punk und der Performancekunst entstandenen Yass-Szene ein kurzzeitiger Ausbruch. Bands wie Miłość und Łoskot brachen nicht nur sprachlich mit den Altvorderen. Wie so viele Subkulturen übergab sich die Szene Anfang des neuen Jahrtausends jedoch dem Mainstream und versickerte.

Auch im Contemporary Free-Jazz und Experimentellen bleiben die Dynamiken heute vielerorts altbekannt. Reist man durch verschiedene, einschlägige Jazz-Alben in Folge, verwischen die Unterschiede. Eingängigkeit und Wiedererkennung dominieren. Ecken und Kanten finden sich eher abseits der einschlägigen Jazzinfrastruktur. So verwischen Zimpel / Ziołek und Innercity Ensemble auf dem Indie-Label Instant Classic die Grenzen von Folk, Jazz, Postrock und Minimal. Auf dem Experimental-Label Plaża Zachodnia rotieren Chrystie Panie zwischen Tribal, Jazz und Psychedelic. Während Solodrummer Hubert Zemler unter anderem auf Bôłt, einem Label für Contemporary Classical Music, eine spannungsgeladene, zurückhaltende Welt aus Effektgeräten, Drums und Xylophone kreiert.

Ob auf Spurensuche an den Anfängen oder am Puls der schier undurchdringbaren Gegenwart, Polen gehört noch immer zu den spannendsten europäischen Ländern für Jazz. Wer sich in das Dickicht begibt, muss jedoch tief ins Unterholz, um nicht-kartiertes Terrain zu entdecken.


Polnischen Jazz findest du im Webshop bei HHV Records


: Wir brauchen mehr Noise- und Indierock im Jazz. Seriously! Aufgenommen während eines drei Tage andauernden Impro-Meetings rudern die sieben Musiker aus teils ziemlich unjazzigen Hintergründen auf ihrem dritten Album so herrlich weit raus. Eigentlich erinnert nur noch die Instrumentierung vage an Jazz. Irgendwie mehr Postrock, etwas Montréal, ein wenig Chicago, tribale Percussions, im Kern genau genommen Krautrock. Willkommen am Event Horizon des polnischen Jazz (Reingelegt Du bist schon einen Schritt drüber). (Jens Pacholsky)_

EABS – Repetions (Letters Ot Krzysztof Komeda) (2017): Gut, an Komeda kommt kein Jazzmusiker in Polen vorbei, der was auf sich hält (übrigens auch die Jazzmusikerinnen nicht, wenn es sie denn bis auf die sehr wenigen Ausnahmen geben würde). Wie dem auch sei, Komeda ist der Geist, der über allen schwebt. Das junge Kollektiv EABS schnappt sich das Gespenst mit allem Respekt und dreht es zwischen Hommage und Neuverordnung, Dekonstruktion und Kitsch, zwischen Soundtrack und Free Jazz, Fusion, Funk und Rap. Das Live-Album dreht noch etwas mehr auf. (Jens Pacholsky)_

Jan Ptaszyn Wróblewski – Moja Słodka Europejska Ojczyzna (2018): Jan Wroblewski spielte bereits in den 1950er Jahrenn mit Krzysztof Komeda, dem Godfather of Polish Jazz. Mit 77 wollte er es nochmal wissen und interpretierte 2013 mit gestandenen Jazzern das 50 Jahre alte »Moja Słodka Europejska Ojczyzna« (»Meine Süße Europäische Heimat«) von Krzysztof Komeda neu. Alles bleibt natürlich beim Alten. Der Jazz ist cool. Hier und da springen die wohl geplanten Improvisationen ins Ohr. Neu ist auch im Qualitätsjazz eben immer noch relativ. Auch wenn das Jammern auf hohem Niveau bedeutet. (Jens Pacholsky)_


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