Halbjahresrückblick 2020 – 50 best Vinyl Records so far

01.07.2020
Wahrscheinlich wird man in 40 Jahren zwei Fragen beantworten müssen: Was man 2020 selbst gegen das Leid und die Ungerechtigkeit getan und welche Platten man gehört hat. Bei der Beantwortung der zweiten Frage, können wir behilflich sein.

Die Welt dreht sich weiter und das mag normaler Weise etwas Beruhigendes an sich haben. Im Jahr 2020 wurde allerdings selbst denen schwindelig, die sich im vergangenen halben Jahrzehnt noch gut auf den Beinen halten konnten. Weiß hier noch irgendwer, was im Januar so vor sich ging, kann sich jemand an den Status quo dieser Welt im Februar erinnern? Nein? Wie denn auch! Die Welt dreht sich und das nicht etwa bei smoothen 33 1/3, sondern auf 78 rpm – Tendenz steigend.

Die ganze Welt? Nein! Denn die Musikwelt musste dichtmachen und den Betrieb anhalten. Clubs, Konzerte: abgesagt, und zwar auf lange Zeit. Was blieb übrig? Den vielen, vielen Toten zu gedenken. Von Andy Gill (Gang of Four), Manu Dibango, Bill Withers, David Roback (Mazzy Star), Mike Huckaby, Florian Schneider (Kraftwerk), Andrew Weatherall, Little Richard, Betty Wright, Juice WRLD, Bonnie Pointer und einigen mehr mussten wir uns in kürzester Zeit verabschieden. Doch verdünnten sich sogar die Medien, in denen die Trauerfeiern stattfanden: Weltweit brach mit der Veranstaltungsindustrie der Kulturjournalismus langsam in sich zusammen.

Musik vor allem hat immer schon subtile Systemfragen gestellt, Veränderung gefordert und antizipiert oder schlicht Mut geliefert, wo Hoffnung Mangelware ist.

Zuletzt wurde das Magazin SPEX nach 40 Jahren und einem digitalen Neustart auf Eis gelegt und mit Zitty ein legendäres Berliner Stadtmagazin eingestampft. Auch sie: nicht die einzigen.

Gibt es da Perspektiven? Vielleicht. Ausgehend von der USA sorgte die Black-Lives-Matter-Bewegung weltweit für eine Neuverhandlung von strukturellem Rassismus und einer weitgreifenden Dekolonialisierung, wie sie im ökonomischen Nachgang der COVID-19-Pandemie noch dringender geboten sein als sowieso schon. Und obwohl es zynisch anmuten mag, das im selben Atemzug zu erwähnen: Der Soundtrack dazu war nicht der Schlechteste – und so unwichtig ist das nicht. Musik vor allem hat immer schon subtile Systemfragen gestellt, Veränderung gefordert und antizipiert oder schlicht Mut geliefert, wo Hoffnung Mangelware ist.

Auf den folgenden 50 Schallplatten ist mal alte und mal neue Musik zu hören, mal sind sie nach wenigen Minuten vorüber und mal entfalten sie sich über lange Zeit hinweg. Eines aber ist ihnen gemein: Bei 33 1/3 oder 45 rpm drehten sie sich parallel und doch als Kontrapunkt zu einer Welt, die für ein halbes Jahr in mehr Chaos versank als schon zuvor. Sie haben uns begleitet und geformt, manchmal sogar eine bessere Welt versprochen. Die schließlich haben wir dringend nötig. Kristoffer Cornils


Die 50 Schallplatten der ersten Jahreshälfte findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/die-50-besten-schallplatten-der-ersten-jahreshaelfte-2020/i:D2N4S0SP15814.)


Ak'Chamel, The Giver Of Illness
The Totemist
Akuphone • 2020 • ab 22.99€
Warum es seit Wiley eigentlich neben Mr. Mitch, Logos und einer handvoll anderer niemandem gelungen ist, Grime so dermaßen zu skelettieren, dass man sich traut mit dem Begriff weightless zu hantieren, ist schwer zu sagen. Stallgeruch und diverse andere stilistische Portfolio-Arbeiten im britischen Bass-Kontinuum scheinen jedenfalls unumgänglich zu sein. Grimescapes ist nun also auf einem der Labels der Stunde next in line alle tragenden Säulen britischer Feierkultur einzureißen und dabei über eine vollkommen neue pandemische Form von Tanzmusikresidue zu stolpern. Irgendwo fehlt hier jetzt noch eine The Last Of Us II Referenz, bitte nach Belieben einfügen. Florian Aigner


Die 50 Schallplatten der ersten Jahreshälfte findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/die-50-besten-schallplatten-der-ersten-jahreshaelfte-2020/i:D2N4S0SP15814.)


Haftbefehl
Das Weisse Album
Urban • 2020 • ab 29.99€
Dass alles gut ist, mag man nach diesem Halbjahr vielleicht nicht finden, aber das gilt zum einen nicht erst seit gestern und zum anderen mag sich das auf Friesisch noch mal anders darstellen. In dieser Sprache singt die Art Rock-Band It Dockumer Lokaeltsje, und für ihr Coveralbum von D.A.F.s »Alles ist gut« ist das höchst vorteilhaft. Auch dass es weder sägende Synthesizer noch Präzisionsgetrommel gibt, weiß man souverän zu lösen. Man nehme nur »Ik yn it echt« mit seinem kollabierenden Schlagzeug. Dank des Coverbilds zudem einer der bisher besten Beiträge zum ansonsten etwas ins Wasser gefallenen Beethovenjahr. Tim Caspar Boehme

J Hus
Big Conspiracy
Black Butter • 2020 • ab 40.99€
Andrea, Cindy, Ulla – wir nennen uns jetzt wieder alle beim Vornamen. 2019 hieß Ulla noch Ulla Straus und mit »Tumbling Towards A Wall« hat die Musikerin aus Philadelphia zumindest mir das Du angeboten. Kratzte sie in der Vergangenheit mit ihren Sounds immer leicht an der Gebrauchsmusik, sind diese nun viel rhythmischer und strukturierter. So dass ich hier ohne schlechtes Gewissen sagen kann, wenn du Huerco S. magst, wirst du auch Ulla S. mögen. Sebastian Hinz

Wolfgang Muthspiel / Scott Colley / Brian Blade
Angular Blues
ECM • 2020 • ab 25.99€
Gitarrenhelden wie Wolfgang Muthspiel brauchen nicht zu gniedeln. Jazz aus Österreich wird ja womöglich etwas unterschätzt, doch dagegen spielt Muthspiel seit Jahrzehnten mit stiller Größe an. Zur Seite stehen ihm mit Scott Colley am Bass und dem Schlagzeuger Brian Blade zwei Meister der Zurücknahme. Eckig ist das Ergebnis auf eine Weise, die vor allem die Hirnwindungen anregt, ohne dass es in den Ohren schmerzen muss. Dieses Trio zwingt mit sanfter Überredung zum Hinhören. Lieder ohne Worte, elegant komplex. Tim Caspar Boehme

V.A.
Join The Future - UK Bleep & Bass 1988-91
Cease & Desist • 2020 • ab 25.99€
Kuratiert von Matt Anniss, gemastert von Warp-Mitgründer Rob Gordon nimmt der erste Sampler von JD Twitchs neuem Label Cease & Desist mit auf eine Zeitreise zum Anbruch der 90er, als Bleep Techno neben allerlei Fusionen futuristischer Bassmusik in England – und kurz darauf ganz Europa – die Clubs übernahmen. Zehn Tracks, zehn Gems, garniert mit der zwischen Sounddesign und Rhythmik versteckten subversiven Energie eines in Yorkshire geborenen Styles, der anschließend nicht nur britische Tanzmusik für immer prägen sollte. Nils Schlechtriemen

Laurel Halo, Batu, Carl Gari, Hodge & Franklin De Costa
Mf Compilation Part 1 Blue Vinyl Edition
Mother's Finest • 2020 • ab 15.99€
Auch schon wieder scheiße: Da schließt erst die Clubheimat Griessmuehle und dann wird noch der Umzug vereitelt, weil ein Virus um die Welt getragen wird. Dabei war (oder hoffentlich: ist) Mother’s Finest nicht nur eine der besten Clubnächte der regionalen Szene in Berlin, sondern die zweigeteilte Auftakt-Compilation des angeschlossenen Labels auch Ausdruck einer denkbar und dankbar aufgeschlossenen Internationalität, die aus geschlossenen Räumen heraus radikale Offenheit predigt. Kurzum: Bei Mother’s Finest wird auch auf Platte anders getanzt als sonst irgendwo. Kristoffer Cornils


Die 50 Schallplatten der ersten Jahreshälfte findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/die-50-besten-schallplatten-der-ersten-jahreshaelfte-2020/i:D2N4S0SP15814.)