Records Revisited – Aphex Twin’s Selected Ambient Works II, 1994

03.09.2014
Vor 20 Jahren erschien Aphex Twins »Selected Ambient Works II«. Das Album war nicht nur eine Umkehrung der gerade aktuellen Ambient Music. Es war auch ein weiterer Erfolg der kontinuierlichen Totalverweigerung eines Sturkopfes.

Es gibt drei Wege, in der Populärkultur erfolgreich zu sein.

Mache das, was deine Fans und Kritiker von dir kennen. Problem: Irgendwann ödet es dich selbst an, weil du auf jedem Konzert dieselben Schmunzetten spielen musst.

Halte nach den Trends Ausschau und passe dich an. Problem: Wenn das alles fein säuberlich am Reißbrett erdacht wurde, nimmt es dir entweder niemand ab oder keinen interessiert es.

Werde Aphex Twin – und schaffe es, mit einer Mischung aus Totalverweigerung, kurzer Aufmerksamkeitsspanne und einem Gespür für »Da geht noch was« immer ein Schritt neben allen anderen zu laufen. Problem: Es kann nur einen geben und der Platz ist besetzt.

Richard D. James wäre sicherlich auch gut auf dem ersten Weg gefahren. Seine Single »Didgeridoo« für R&S Records hatte ihn 1992 in den Olymp der Ravekultur katapultiert. Aphex Twin war bereits ein Star, bevor er richtig angefangen hatte.

»Admittedly, there’s a major problem with this album, namely the lack of the sheer goofiness and insanity which Mr. James has cleverly emphasized just enough to keep IDM bores on their toes.«

Ned Raggett in The Quietus
Das war dem Langhaarzottel unter den Techno-Glatzköpfen aber herzlich egal. Er fuhr lieber Panzer statt Sportwagen und bezog eine alte Bank anstelle eines schicken Lofts. Mit seinem Debütalbum »Selected Ambient Works 85-92« auf Apollo Records nahm er den Club-DJs dann wörtlich die Platten vom Teller. Es war für damalige Verhältnisse butterweich, gewissermaßen eine Frühform von Ambient Techno oder in Ansätzen das, was heute irgendwie als Dubtechno und Minimal firmiert. Gezielter konnte er seinen Status nicht zerstören. 1994 veröffentlichte er »Selected Ambient Works II« (SAW 2) und setzte damit noch einen oben drauf. Wenn heute in Foren gefragt wird, mit welchen Schallplatten von Aphex Twin man als Einsteiger beginnen sollte, wird »Selected Ambient Works II« als letztes genannt.

Richard D. James hätte nur fünf Monate nach dem Top 40-Erfolg seiner Single »On« kein sperrigeres Nachfolge-Album veröffentlichen können. Lang gezogene Synth-Patches mit wenigen Noten und Effekten dominieren die 25 Titel. »Selected Ambient Works II« war Reduzierung und Rückzug schlechthin.

»›SAW2‹ really isn’t a typical Aphex Twin release.«

Kay Vehmanen in Wakkanet
Erneut entglitt Aphex Twin den Zuordnungen und Erwartungen seiner Fans und Journalisten. Ein Schreiber des NME gab ihm 1994 in einem Anflug von gefährlichem Halbwissen den Titel »Mozart des Techno«, was die noch Subkultur-ferneren Feuilletons bis heute dankbar als Volkskanon verbreiten. Richard D. James erzählte lieber irgendetwas von in luziden Träumen konzipierter Musik und angeborener Synästhesie. Sein Garn dürfte jedem Fischer ein Leben lang gereichen.

»Selected Ambient Works II« war jedoch nicht nur eine Verweigerung an die Erwartungen an Aphex Twin als Musiker, sondern zugleich an den Stereotypen von Ambient Music. Diese war seit Anfang der 1990er Jahre mit Projekten wie The Orb und Future Sound Of London wieder populär geworden und von spacigen, meist blumigen und warmen Klängen geprägt. Es war der Sound zum Einkuscheln nach durchravten Nächten, zum Bewusstsein erweitern, zum Einwerfen der letzten Pille mit einem Gute-Nacht-Joint.

»Selected Ambient Works II« dagegen sollte lieber nicht auf Drogen gehört werden. Zwar gibt es auch einige harmonische Titel, wie das sehr häufig referenzierte »Rhubarb« oder das nur auf der Vinylversion zu hörende »Stone In Focus«. Ein guter Teil des Doppelalbums ist jedoch eher ein Trip durch den Hades um Mitternacht. »Radiator«, »Tree«, »Grey Stripe« und das frenetische, nicht enden wollende Lachen auf »White Blur 2« sind in Sound gegossene Klaustrophobie.

Dieser Ansatz des Transzendierens von Musikkonzepten zieht sich durch Aphex Twins gesamtes Schaffen. Eigentlich hat Richard D. James stets ein wenig mit Weg 2 kokettiert (auch wenn er es nie zugeben würde). Anstelle jedoch auf der gerade aktuellen Musikwelle einfach mitzureiten, wusste er immer etwas oben drauf zu setzen. Er war eben einfach zu schnell gelangweilt. Hardcore Techno machte er noch härter und er machte ihn noch schneller. Mit »Windowlicker« und »Milkman« erschuf er die besten Popsong-Farces aller Zeiten, während Drum & Bass bei ihm zum Drill & Bass exponiert wurde. Als sich Label-Chef Steve Beckett 2001 über die sperrige Vinylverpackung des »Drukqs«-Albums mokierte, konterte RichardD. James kurzerhand: »I want it to be really fucking awkward. I am very fucking awkward.« Vor zwei Jahren ließ er Pianos durch ein Theater fliegen und dirigierte ein Orchester und Chor mit geometrischen Symbolen.

Wie eigentlich alle Veröffentlichungen von Aphex Twin, ist »Selected Ambient Works II« vor allem kompromisslos und eigenwillig. Die unfassbare Ironie dieser Verweigerung ist, dass Aphex Twin genau dadurch zum wichtigsten und gehyptesten elektronischen Musiker unserer Zeit wurde und seinem Ziel, nie arbeiten zu müssen, immer treu bleiben konnte. Nicht nur gilt »Selected Ambient Works II« heute als absoluter Klassiker der elektronischen Musik. Es hat bisher auch niemand geschafft, solch ein intensives, zeitloses und beklemmendes Ambient-Album heraus zu bringen.


Weiterlesen: Unser Autor Jens Pacholsky hat in dieser Reihe zuletzt Brian Eno’s »Ambient 1: Music For Airports besprochen.