Jahresausklang 2015 – Die besten Songs (10-1)

30.12.2015
Woche für Woche picken unsere Redakteure im Ausklang ihre Lieblingssongs. Jeder für sich. Jetzt sollten sie gemeinsam die Top 50 des Jahres festlegen. Es wurden Existenzen in Frage gestellt bis Platz 1 alle vereinte.

Earl Sweatshirt – Grief
Florian Aigner: Ich habe wortwörtlich auf »Grief« so reagiert wie How To Dress Well einst sein »I Wish Cover« beendete

Kristoffer Cornils: Es gibt Songs über Depressionen, die traurig sind und es gibt Songs über Depressionen, die wahr sind. »Grief« ist die B-Seite zu »Bitch, Don’t Kill My Vibe« von der dunkelsten Seite des Mondes, im Video zum Track eingefärbt in die Unfarben der Depression. Das, was überbleibt, wenn alles zu viel wird, wenn die Haut sich dermaßen verdünnt, dass der Schmerz durchbricht und frei in alle Richtungen irrlichtern kann.

Philipp Kunze: Wenn völlig isoliert von allen Menschen das Wissen zum Bewusstsein reift, dass um einen herum alles lebt, dann ist das Panik. Earls Song erfasst dieses Gefühl, ungeschliffen und unglorifziert. Hier zieht sich die äußere Welt zu einem einzigen viereckigen Zimmer zusammen, während die innere sich ausdehnt wie ein gärendes Fruchtsaftgetränk und dem noch gesunden Gefäß knabbert. Unerträglich.

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Skepta – Shutdown
Florian Aigner: Man könnte jetzt an dieser Stelle nochmal auf das transatlantische Gewicht von »Shutdown« verweisen und warum Skepta das gelungen ist, was nicht mal Dizzee vergönnt war, aber die vielleicht faszinierendste Randnotiz: Hashtag-Rap hat hiermit die Reifeprüfung abgelegt.

Kristoffer Cornils: Hätte der perfekte Theme-Song für einen Skins-Reboot sein können. Das Video zum Track ist eine Mischung aus Milieutourismus im eigenen Lager und animiertem Lookbook für überteuerte Sportkleidung, die niemals irgendjemand beim Joggen tragen würde. Kurzum: Ich habe dazu keine Meinung, aber ein bisschen Verständnis, warum das relevant ist.

Philipp Kunze: Richtig, hier über Relevanz zu sprechen. Das haben die Kollegen ja schon erledigt. Bleibt anzufügen: Das war 2015 der Song, zu dem bei jedem Mal Hören Mike Tyson zu einem Ohrläppchen-Abknabber-Wettkampf aufgefordert hätte; zu dem ich fremde Auftritte crashen würde, um O-Saft zu verschütten bei dem ich jedes Mal angehalten war, einer der für immer witzigsten Sachen nachzugehen: Einem Telefonstreich. Und ihn mit »ring, ring pussy« zu beginnen.

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Route 8 – It Doesn’t Matter Anymore
Kristoffer Cornils: Die »Lifestyles Of The Laptop Cafe« gehören einer anderen Zeitrechnung an und Route 8 ist das egal. »Let Me Be Me« summt dieser Track unterschwellig und zerfetzt mit der Snare die Linearität der Uhrwerke: Sehnsüchtiger Electro mit Pathos-Flächen, bouncenden Bässen und Hi-Hat-Gezischel kann gar nicht aus der Mode kommen, denn er war schon immer weit, weit draußen – vor allem außerhalb der Zeit.

Florian Aigner: Die beste Lobster-Platte in einem Lobster-Jahr. Ich wollte mehr dazu schreiben, aber die Laptop-Café-Pointe war schon vergeben.

Philipp Kunze: Ach fuck, die Pointe mit dem Laptop-Café ist schon vergeben?

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Grimes – REALiTi
Florian Aigner: Während mich der Großteil von »Art Angels« mit seinem bemüht bodenständigen Umarmen von Girlpop eher gelangweilt hat, ist REALiTi wieder das eine Überding, das Grimes pro Album gelingt. Mehr entgenderte Madonna als Katy Perry, mehr MTV als Vine.

Kristoffer Cornils: Kurz nach dem Dubstep-Debakel kurz vor der Prog-Pop-Oper zeigte Grimes noch mal Kernkompetenz: Die Indie-Nerds und das Pop-Publikum zugleich abholen, ohne von einer Seite auf den Deckel zu bekommen. Derweil alle Backlashs eh nichts anderes als forcierte Butthurt-Outbursts waren, bleibt »REALiTi« doch der beste Grimes-Song des Jahres, genauso genial-dilettantisch aus dem Puffärmel geschüttelt wie alle großen Momente im Claire Boucher-Universum. Ich möchte, ich wiederhole das, nach wie vor mit ihr vegane Pizza essen und Hand in Hand durch Tokyos Straßen skippen.

Philipp Kunze: Vielleicht so wunderbar, weil Chord-Folgen dieser Art einen schon gepackt haben, als man Musik gegenüber noch nicht kritisch war. Vielleicht so wunderbar, weil Grimes in einem Jahr, in dem endgültig kein Platz mehr für Naivität zu sein schien, mit ihrer Musik spürbar ihr eigenes Kinderzimmer und damit ihre eigene Traumwelt mit ins Erwachsenwerden rettet. Wahrscheinlich meinte das beides jetzt ein und dasselbe. Und wahrscheinlich ist genau das das Grimes-Gefühl, in das man sich auf »Genesis« und »Oblivion« auf einer Art und Weise verliebte, wie man sich in ein nach fettem Haar riechendes Fabelwesen verliebt: selbstlos und asexuell.

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Dominica – Gotta Let You Go (Bicep Remix)
Kristoffer Cornils: An Biceps »Gotta Let You Go«-Edit wurde bemängelt, dass er eigentlich zu nah am Original vorbei schrammt, im Grunde aber geht es genau darum: Den Kids eine Lektion darin zu verpassen, dass MDMA zwar an sich schon viel ist, als Multiplikator von inniglich empfundener Freude aber umso stärker ballert, bis sie sich mit dem Unterkiefer am Hinterkopf kratzen können. Don’t try this at home though. Sondern im Club eures Vertrauens, mit allen Menschen, die ihr genauso liebt, wie ihr aufgekratzten Europop liebt: Zuerst verschämt und heimlich, dann immer lauter.

Florian Aigner: Schamlos sind sie, diese Bicep Boys. Sich den veritablen Neunziger-Hit »Gotta Let You Go« im einzig akzeptablen Mix zu krallen, minimalst den Strophenkäse zu kürzen und die fast »Show Me Love«-ige Hook so prominent auszuschlachten, ist nicht kreativ, aber zeugt von so viel Feierexpertise, dass hierzu gerüchtehalber schon Staubwischarbeiten zu Vogueing-Showcases wurden (do try this at home). Überhaupt: wer braucht Kreativität bei 170 Puls?

Philipp Kunze: 10, 10, 4, so die Punktvergabe im Redaktionsrating Cornils, Aigner, Kunze. Während die beiden also mit Herz und Kiefer den Michael Schumacher auf allen Pisten machen, hole ich mir ein neues Bier und weiß einsam an der Bar: Ich bin ein trauriger Mensch, vom Stock gänzlich durchbohrt. Weil wer hierzu keinen Spass hat, der sitzt auch auf einer Orgie durch und durch attraktiver Menschen und denkt darüber nach, mit Grimes eine Beziehung einzugehen, die darauf basiert, keinen Sex zu haben und sich nicht die Haare zu waschen.

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Molly Nilsson – 1995
Kristoffer Cornils: Das gesamte Retromania-Genöle wieder aus den vergilbten Annalen des Pop-Diskurses hervorzufischen, wäre 2015 ironischer Weise völlig anachronistisch gewesen. Molly Nilsson aber beschwört und zerfickt es im Laufe von zwei Zeilen: »What’s wrong with living in the past / it just happens to be the place I saw you last.« Mic drop, Saxofonsolo, Credits, Simon Reynolds weint den Staub von seinen Jungle-12"s.

Florian Aigner: Saxofonsolo. Windows 95. Alter, eben.

Philipp Kunze: Dieses Nostalgie-Inferno. Wie es brennt. Fühlt sich an, als wäre mehr verloren als Windows 95. Die alten Freunde verheiratet, die alte Liebe auch, alles hat sich verändert nur das Kaff, aus dem man kommt, ist gleich geblieben. Der Motor tuckert wie diese Synth-Pop-Line, man selbst sitzt im Auto, ist umgeben von alter Heimat und erfüllt von dem Gefühl: keine mehr zu haben. Dieses »You« in der zweiten vom Kollege zitierten Zeile kann alles sein. Ein Ex, die Heimat, die Zukunft.

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Alles von Drake
Florian Aigner: Ich habe mit Drake schon mindestens fünf Mal Schluss gemacht. Weil er aber immer, immer, immer spätestens zwei Tage später wieder eine passende Antwort auf seine Instagram-Shirtlessness und schmierigen Groschenromanchauvinismus hatte, weil Drake 2015 nicht mehr nur das Internet verstanden, sondern das Internet selbst geworden ist und weil das Internet in all seiner Ambivalenz ein verdammter Segen für uns ist, werden Drake, das Internet und ich auch wieder ein inniges 2016 haben.

Kristoffer Cornils: Richtig ist immerhin so viel: Drake steuerte 2015 beharrlich seiner eigenen Memefizierung entgegen. Die Bilder zu »Hotline Bling« ließen die Musik fast ein bisschen egal erscheinen. Zwischen dem Emotionale-Erpressungs-Rap seiner Beinahe-Nummer 1 schwappte in »Know Yourself« und »You And The 6« immerhin ernstgemeinte Innerlichkeit nach außen, die weniger die selbstgeschaffenen Klischees bediente, sondern auf Größeres dahinter verwiesen. Das ist er wohl, der »shit that can only be created if you go through it.« Der Struggle von Drake ist real, auch wenn er selbst verursacht wurde.

Philipp Kunze: Drake war immer vor allem Gewinner der Herzen. Dieser ungelenke Knuff, liebestrunken und unbeholfen, er bot einfach eine Menge Identifikationspotential. Seit diesem Jahr ist er einfach nur noch Gewinner. Nicht mehr ungelenk, alles erschien komplett gelenkt und perfekt durchdacht. Das »Hotline Bling«-Video war der Höhepunkt dieser Entwicklung: Musikalisch noch absolut geil, aber bereits total herzlos. Es könnte das letzte innige Jahr von mir und Drake gewesen sein. Wir fahren unsere gemeinsame Abschiedstournee zu dieser unfassbaren zweiten Strophe von »You & The 6« und akzeptieren jeder Teil unserer gemeinsamen Geschichte als irgendwie richtig.

Fontarrian – To Desire The Things That Will Destroy You In The End
Kristoffer Cornils: Ich kann Stille nicht ertragen. Ich höre immer Musik. Mit Ausnahme von vielleicht ein bis höchstens drei Tagen im Jahr, während derer ich rein gar nichts ertragen kann, weil die Schattenseiten des Alltags in den Frontallappen gekrochen sind. Dann scheint selbst Stille das weniger schlimme Übel. Fontarrians 16minütige Ambient-Elegie auf einem fatalistischen Sylvia Plath-Zitat kommt in so einer Zeit wie ein Liter Aspirinwasser an einem sommerlichen Katertag. Ein Lullaby, das die Untiefen der menschlichen Erfahrung nicht leugnet und doch mit unfassbarer Eleganz darüber hinweg segelt.

Florian Aigner: Halt einfach mal so das beste Stück Ambient in einem Jahr, in dem man sich vor großartigen (semi)beatlosen Ingwertee-Drones und new agigen Topfplanzen-Dubs kaum retten konnte, auch weil Fontarrian ein verdammtes Arrangement-Genie ist. 2016 wird das auch ein Warp-A&R bemerken und der Kristoffer muss seinen Adoptivsohn in die weite Welt entlassen.

Philipp Kunze: Zu sowas kann ich still sein.

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Abra – Roses
Philipp Kunze: Ich will ein alter Sack sein. Wenn Abra singt »I’m young and I’ll waste you away«, will ich eine Familie gegründet haben, nur damit ich diesen größten Fehler machen kann, alles aufgeben für diesen Song, für Abra, für die stürmische Jugendlichkeit. Ich dumm in meiner Triebhaftigkeit, ich Dekan, sie 21, aber sie schlauer, hat mich völlig in der Hand. »Roses« ist wie die letzte Chance auf Erfüllung, untrennbar an die Konsequenz geknüpft, dass danach alles in Trümmern liegt.

Kristoffer Cornils: Es entscheidet sich alles zwischen der achten und neunten Sekunde, heißt: Wenn der Beat einsetzt. Wirklich besiegelt wird es ab der sechzehnten, wenn Abra zu singen anfängt. Wo Drake noch aufs schlechte Gewissen pocht, werden Abras Bedürfnisse in der zitierten Zeile zur Kampfansage. Alle verlieren, memento mori. Dazu die Musik: Im Grunde ist das hier kein R’n’B-Track, obwohl er als solcher verkauft wird. Sondern Abra ist die einzig legitime Erbin von Robert Owens und »Roses« gehört definitiv in die Sonntagabendschicht der Panorama Bar.

Florian Aigner: Der eine denkt an Fingers Inc., der andere an Houellebecq-Fingerei – was das halt einfach für Genies sind, diese Awful-Posse.

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Post Malone – White Iverson
Florian Aigner: »White Iverson« ist auch deswegen vielleicht mein meist abgespielter Song des Jahres, weil er genau jenes Pathos bedient, für das ich am empfänglichsten bin. Nicht nur musikalisch, sondern auch sporthistorisch. Allen Iversons Geschichte ist so inhärent tragisch, dass AI für 25-35 Jährige immer noch der moderne Werther ist, dem nun endlich jemand ein musikalisches Denkmal gesetzt hat, das all seinen menschlichen Tragödien und Wirren gerecht wird und dennoch so erhaben im Scheitern ist, dass ich mir einbilde, Iverson habe hier endlich den ring he never won überreicht bekommen, den er sich als ultimativer Außenseiter in der Summe verdient hatte.

Kristoffer Cornils: Eben, um Pathos geht es dabei. Post Malone hat die Nostalgie-Hymne für eine Generation geschrieben, die ihre Vergangenheit per iCloud aufrufen kann. Soviel daran ist falsch: Das unfassbar hohe Level an kultureller Appropriation, die Ignoranz genau darüber oder einfach nur der schamhaarige Nackenbart von Post. Aber darunter liegt eine Melancholie, die – so ziellos sie sein mag – ein großes Gegengewicht für die Zynismusvorwürfe darstellt, mit denen sich Millenials herumschlagen müssen. Es geht in »White Iverson« um nicht wirklich viel und trotzdem ist es ein essentieller Song. Ziemlich sicher, dass es mindestens zehn Dutzend Teenies auf dieser Welt gibt, die die YouTube-ID im Schlaf hervorlallen können. Was also ist »White Iverson« in diesem Jahr gewesen?

Philipp Kunze: The Answer.

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