Seit 30 Jahren ist Planet µ Records ein Garant für wegweisende elektronische Musik an den vorderen Rändern der Bewegungen. Gegründet 1995 unter dem Dach von Virgin Records (heute Universal), sollte das Label ursprünglich Teil der schnell wachsenden Underground-Dance-Szene werden. Mike Paradinas erhielt dafür Budget und, zumindest anfangs, weitreichende künstlerische Freiheit – doch der Plan ging nicht auf.
Damals galt Paradinas als so etwas wie der „zweite Aphex Twin“. Unter seinem Alias µ-Ziq veröffentlichte er experimentelle Electronica, deren klangliche Ansätze durchaus Parallelen zum Werk von Aphex Twin hatten. Gemeinsam nahmen die beiden sogar ein Kollaborationsalbum auf, und Paradinas’ erste beiden Alben erschienen auf Aphex Twins Label Rephlex Records. Für Virgin schien das zunächst wie ein sicherer Griff. Doch Paradinas hatte nie ein echtes Interesse daran, massentaugliche Musik zu schreiben oder auf seinem eigenen Label zu veröffentlichen – und das Rock- und Pop-orientierte Virgin-Team wiederum wusste wenig mit dieser Nische anzufangen. 1998 zog Virgin die Reißleine und ließ Planet µ als unabhängiges Label weiterlaufen – ein Glücksfall, geboren aus kommerziellem Scheitern.

Lunatic Harness 25th Anniversary Black Vinyl Edition

Rossz Csillag Allat Született

Attrition

Anemones
Seitdem hat sich Planet µ zu einem der wichtigsten Plattformen für radikale Sounds entwickelt. Das Label brachte ganze Bewegungen wie Grime, Breakcore, Dubstep und zuletzt Footwork einem internationalen Publikum näher und etablierte damit Künstler:innen, die die elektronischen Klanglandschaften entscheidend geprägt haben. Heute steht der Katalog bereits bei Nummer 477. Mit seiner frühen Leidenschaft für Jungle, Hardcore und melodische Verspieltheit bleibt Paradinas bis heute ein unermüdlicher Kurator für die Grenzbereiche der Clubmusik: stets stilsicher, häufig Vorreiter, immer auf der Suche nach neuen Perspektiven.
Die 30-jährige Geschichte von Planet µ in zehn Essentials zu verdichten, ist daher beinahe unmöglich – hinter jeder Veröffentlichung öffnen sich neue Klangräume und Netzwerke. Doch genau dieser Reichtum macht den besonderen Reiz des Labels aus. Zeit also, sich im Irrgarten von Planet µ zu verlieren.

Noch unter dem Joch von Virgin Records erschienen, ist das vierte Album von µ-Ziq Lunatic Harness das wildeste, humorvollste und verschrobenste, was Jungle am Ende seiner Blütezeit passieren konnte. Als ich das Album 1997 unversehens in einem Plattenladen in Edinburgh fand, wusste ich zunächst gar nicht, was mir da um die Ohren flog. Mike Paradinas selbst war die Platte lange Zeit ein wenig peinlich, weil er sie als schwachen Abklatsch von Squarepushers Feed Me Weird Things empfand. Weit gefehlt: Noch heute wirkt Lunatic Harness einzigartig – voller Irrsinn und Schönheit, wie man es vom Titel erwarten kann.
Jens Pacholsky
Mit Jega begann alles – ganz wortwörtlich. Mike Paradinas hob Planet µ einst aus der Traufe, um Jega veröffentlichen zu können. Dessen erste beiden EPs hatten 1996 und 1997 bereits auf Skam Records Jungle, Breakbeat und Electro in neue Sphären geschossen. Die Type Xer0 EP ist deshalb doppelt essentiell: Als ZIQ001 markiert sie die erste Veröffentlichung auf dem frisch gegründeten Indie-Label Planet µ. Für Breakcore ist der Track »Pitbull« genau das, was der Titel verspricht – bevor Breakcore überhaupt als Genre definiert wurde und Planet µ diesem später ein eigenes Plattenfach widmete. Und »Carbon 60« lädt noch heute zu intergalaktischen Sternenreisen durch elektro-magnetische Felder ein.
Sebastian Hinz
Wer Breakcore sagt, muss auch Venetian Snares’ Namen tanzen. Auch wenn einem bei den brachial präzisen 7/8-Rhythmen schnell die Zehen knacken. Rossz Csillag Alatt Született nimmt dabei eine besondere Stellung im Œuvre des Kanadiers ein. Hier erweitert er Breakcore um orchestrale Elemente und bezieht sich dabei auf klassische Komponisten wie Béla Bartók. Das Album zeigte bereits 2005, was vielen aktuellen Spielarten der Neoklassik fehlt: Vision, Mut und eine kompromisslose Eigenständigkeit. Mit seinen dramatischen Streicharrangements, aggressiven Breakbeats und unerwarteten harmonischen Wendungen gilt die Platte bis heute als einer der entscheidenden Referenzpunkte für experimentelle elektronische Musik.
Jens Pacholsky
Während für das in den Kulturalltag explodierende Grime 2005 alle nach East London schauten, richtete Mike Paradinas den Blick nach Manchester und holte die nordenglische Arbeiterklasse-Grittyness ins Rampenlicht. Produziert wurde das Album von Mark One, der bereits auf den Grime-Compilations auf Rephlex Records für Aufsehen sorgte und auch auf Planet µ zwei gefeierte Soloalben veröffentlichte. Seine freshen, sich von Track zu Track weiter morphenden Halfstep-Beats und die soundtrackartigen Horrorsounds bilden das perfekte Fundament für ein kompromissloses Porträt einer zerrissenen Jugend in Nordengland. Hier verschränken sich rohe Energie, soziale Realität und düstere Klangwelten.
Jens Pacholsky
Planet µ hat Dubstep nicht nur mit drei von Mary Ann Hobbs (BBC) kuratierten Compilations einem neuen Publikum außerhalb der Londoner Miniszene bekannt gemacht, sondern war von Anfang an auch rastlose Speerspitze des Genres. In den letzten 20 Jahren fanden sich auf dem Label mehr neue, spannende Weiterentwicklungen des längst durch den Popzirkus annektierten Sounds als auf allen klassischen Dubstep-Labels zusammen. Vex’ds Cloud Seed steht hier exemplarisch – Schulter an Schulter mit Künstlern wie Boxcutter, Pinch, Ital Tek, Starkey, Milanese, Benga und neuerdings Slikback. Das Album ist ein dunkel schillernder Juwel: roh, atmosphärisch, dystopisch, ständig die Dimensionen wechselnd und – in einer seltsam morbiden Art – romantisch.
Jens Pacholsky
Mitten in all den beatlastigen Kraterlandschaften auf Planet µ gönnt sich selbst Labelchef Mike Paradinas zwischendurch Atempausen und lässt sich in futuristisch verzerrte Erinnerungen an eine leichtere Jugend fallen. Hier formen Synthesizer dichte Nebelschwaden, Neonröhren glimmen in weltfremdem Pink und körperlose Traumstimmen schweben durch den Raum. Hier darf es auch mal Glamour geben – und Pathos und ein Hauch von exzessivem Wahnsinn. Ital schuf gemeinsam mit Miracle, Polysick und Kuedo solche regelmäßigen Rückzugsräume auf Planet µ. Auf die Spitze getrieben hat das allerdings Rudi Zygadlo: Sein Debütalbum wirbelt wild zwischen Daft Punk, 70s Glam Rock, Synth-Pop, dem New New Wave von PVT und Bassmusik am Spielautomaten. Was für ein Ritt.
Jens Pacholsky
Zíur ist die Neuzeit auf Planet µ. Genre-Zuweisungen? So was von Generation X. U Feel Anything? stampft, brummt, kreischt – maximal eklektisch. Hier fliegt alles in einen Topf, wird destilliert, gesiebt, eingedickt, molekularköchelnd verfeinert und schließlich mit gleißenden Lichtern serviert. Irgendwo zwischen Arca-Ekzess und Prettybwoy-Brutalismus, zwischen schneidendem Krach und butterweichen Synth-Patches, emotionalem Zusammenbruch und hedonistischem Neon-Glitzer breitet U Feel Anything? die Flügel aus – für alle verlorenen Seelen dieser rastlosen Zeit.
Jens Pacholsky
Auch bei Antwood wirbelt alles wild durcheinander und bildet in seiner Fremdheit doch etwas irrsinnig Kohärentes. Sein drittes Album für Planet µ stürmt in Mikrosekundensprüngen durch 1990er Wipe-Out-Frenzy und Bubblegum-Techno, experimentelle Bassmassagen und pompöse Piano-Emotionen, Kitsch und Krach, euphorische MDMA-Patches und K-Hole-Dissoziation. Gemeinsam mit seinem Herzensmenschen Olivia Dreisinger erzählt Antwood hier ganz nebenher – und ohne viele Worte – eine epische Geschichte über die Liebe in einer durchdigitalisierten Welt.
Jens Pacholsky
Lara Rix-Martin hat zusammen mit Labelchef und Ehemann Mike Paradinas nicht nur zuckersüße Liebes-Elektronik als programmatisches Duo Heterotic produziert. Seit 2016 gibt sie marginalisierten Gendern auf dem Sublabel Objects Limited ein Outlet. Als Meemo Comma erforscht sie mal ravend, mal ambient, mal experimentell Spiritualität, Mythen und absurde Science-Fiction. Ihr drittes Album Neon Genesis: Soul Into Matter2 ist imaginärer Soundtrack und seltsam betörende Zeitreise, die sich in verschrobener Klassik genauso einrichtet wie in Breakbeats, Stimmexperimenten, halbschlaf-driftendem Techno und allen möglichen mentalen Zuständen nach holotropen Atemsessions.
Jens Pacholsky
2010 drehten sich noch alle wild um Dubstep, da hatte Mike Paradinas bereits den nächsten Schritt in der Beat-Evolution entdeckt. Als eines der wenigen europäischen Labels – und vermutlich als erstes – hat Planet µ das Chicagoer Mikrogenre Footwork von Anfang an gefeiert. DJ Nate erschien bereits 2010, wenig später folgten die Urgesteine Traxman, DJ Rashad und RP Boo. Noch bevor Europa verstand, was da abging, definierten Young Smoke und Jlin in jeweils eigenen Entwürfen das Genre neu. Jlin ist bis heute am Ball, verdreht hyperventilierende Rhythmen immer wieder anders und schmeißt Xylophone, Glockenspiel und Violinen zwischen die wild breakenden Patterns.
Jens Pacholsky