»Was mich wirklich zu Vinyl hingezogen hat, waren die Kosten und die Umständlichkeit«, unkt Alex Gregorys klassischer New-Yorker-Comic über unser Lieblingsmedium. Mittlerweile ließe sich Ähnliches über unser zweitliebstes sagen. Liegt es an unseren schrumpfenden Geldbörsen, melken die Leute wirklich einen künstlichen Hype aus, ist das alles wieder auf die undurchschaubaren Dynamiken mythischer Lieferketten zurückzuführen, oder … Oder kosten selbst Kassetten heute einfach ein halbes Vermögen, gar zu viel für das, was sie eigentlich wert sein sollten? Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Labels und Künstler:innen sollen für ihre Arbeit adäquat entlohnt werden, und es ist freilich nicht so, als ob nur Kassetten teurer geworden sind – das Gleiche gilt auch für Lebensmittel, Heizkosten und alles andere. Und doch sind selbst Tapes zum teuren Hobby geworden.
Über Umstände zum Ziel
Und die Umständlichkeit? Wenn wir die unzähligen Reparaturen wegen dieses oder jenes kaputten Teilchens ebenso ignorieren wie den ständig bei sich geführten Extrasatz Walkman-Batterien oder den stets in Griffweite liegenden Bleistift, dann … Ja gut, selbst dann gibt noch andere Scherereien. Aber ist das nicht das Schöne daran? Für Außenstehende mag es irrwitzig klingen, aber so viel Mühe in Musik zu stecken, zahlt sich aus: Es geht ja gar nicht so sehr um die Auseinandersetzung mit dem Medium, sondern mit der Kunst an sich; darum, dass der Akt des Hörens ein wesentlicher Bestandteil des Hörerlebnisses wird. Ja, all das ist bestenfalls umständlich und schlimmstenfalls supernervig, es macht uns aber auch zu aktiven Teilnehmer:innen statt nur zu passiven Konsument:innen.
Die folgenden 20 Kassetten aus dem Jahr 2025 waren sowohl ihr Geld als auch die Umstände wert. Mit einer umfangreichen Anthologie von Allen Ginsbergs Nebenbei-Hustle als Songwriter angefangen über eine Live-Interpretation von Bill Orcutts Kompositionen für vier Gitarren bis hin zu dröhnender Ambient-Musik aus Lateinamerika, einer Anthologie mit Madlib-Deep-Cuts aus längst vergangenen Zeiten, buchstäblicher Glühlampenmusik, patinierten Analog-Clubsounds bis hin zu schrägen Lo-Fi-Pop- und Shoegaze-Alben: Das waren die Veröffentlichungen, die uns trotz (oder vielleicht gerade wegen) der Kosten und der Umstände zur Kassette hingezogen haben. Kristoffer Cornils

Allen Ginsberg war so eine Art Jan Böhmermann für Boomer mit abgebrochenem Studium. Er steht für die sogenannte Beat-Generation und sein wichtigstes Gedicht heißt »Das Geheul«. Sagt zumindest das Internet, oder diese schöne Veröffentlichung: More Rags, Ballads, And Blues 1971-1985 ist nämlich so etwas wie Außenseiter-Mainstream ohne Mainstream-Außenseite. Man könnte auch sagen, es ist schrammliger Blues. Gesungen und geheult und auch mal mit Bob Dylan am Bass. Aber das klingt ja eher nicht mehr nach Gegenkultur.
Christoph Benkeser
Die Leute starren wieder gerne auf ihre recycelten Adidas Sambas und das hat einen tollen Grund: Shoegaze ist zurück. Vielleicht war er aber auch nie weg. Jedenfalls: Die Wiener Band Alles Exhausted macht mit ihrem Album Alles Exhausted genau das, wofür man heute 44,80 hinblättert, um Kaugummis bei Slowdive zu kauen. Und: Eigentlich ist die Platte, die beim Edelfabrikanten Siluh erscheint, sowieso besser als neu aufgewärmtes Souvlaki. Da muss man gar nicht erst die schönen Liedernamen lesen.
Christoph Benkeser
Bill Orcutt hat ein paar der unhörbarsten Noise-Platten aller Zeiten aufgenommen, seine eigene Software geschrieben und außerdem noch eine neue Art erfunden, die Gitarre zu spielen. 2022 zollte er auf Music for Four Guitars der Minimal Music à la Reich Tribut, aber weil die Sache auch ernsthaft rockte, musste er daraus natürlich gleich zwei Live-Alben spinnen. Auf HausLive 4 begleiten ihn Wendy Eisenberg, Ava Mendoza und Shane Parish, und die etwas roughe Aufnahmequalität lässt deren verknotetes, kompliziertes Miteinander dann nochmal lebhafter klingen als noch auf Four Guitars Live.
Kristoffer Cornils Zur Review
So, flexen! Colombian Drone Mafia ist Nyksan ist Co-Pilot des Techno-Labels TraTraTrax. Das muss man zwar nicht wissen, hilft aber eventuell bei der Entscheidung, 20 Euro für ein Tape hinzublättern. Eines, auf dem keine Kick kickt und keine Snare schiebt. Weil also alles beatless ist, das heißt: Memoria füllt die Leerstelle, die dem Labelnamen Ambie__tón eingeschrieben ist. Oder auch nicht. Jedenfalls sollte man das hören, wenn man gerne Snickers-Packungen neben dem Ohr zerknistert und große Geigen mag.
Christoph Benkeser
Das große Ambient-Revival der 2010er-Jahre wurde maßgeblich von Streaming-Plattformen vorangetrieben, die mit dem vagen Versprechen der Entschleunigung in beschleunigten Zeiten die Musik als Playlist-Füller nutzten. Concepción Huerta erinnert mit El Sol de los Muertos daran, dass die beste Art von Ambient derlei Wellness- und Mindfulness-Paradigmen unterläuft. In diesem Album bricht sich der Sound unterdrückter Gewalt, ob nun ökologischer oder politischer, in großen Spannungsbögen Bahn. Sechs unheimliche Stücke gegen den heimeligen Zeitgeist.
Kristoffer Cornils Zur Review
Madlib und seine Familie haben diesen Sommer ihr Wohnhaus bei schweren Flächenbränden in Los Angeles verloren. Auch die Plattensammlung und das Musikequipment des Produzenten wurden zerstört. Die Vinylauflage der Madvillainy Demos hat sicher dazu beigetragen, die schmerzlichen Verluste finanziell etwas abzufedern. Jetzt folgt die Trilogie In the Beginning mit Rapper Declaime im Kassettenformat. So bekommt auch der ein oder andere verschollene Track aus den 1990er-Jahren, roh und staubig im Sound, ein neues Zuhause.
Kevin Frese
Dorothy Carlos lebt zwischen Chicago und New York, und ihre Musik tut es ihr gleich. Das Debüt Ear World der Cellistin hat jazzige Momente und knüpft an die Improv-Traditionen der Windy City an – wem das Album von Macie Stewart für International Anthem gefallen hat, wird auch hier fündig –, ist aber zugleich der Downtown-Szene des Big Apple verpflichtet: Wenn Carlos ins Mikrofon murmelt, klingt sie wie die Großnichte von Arthur Russell oder Meredith Monk. In Verbindung mit ein paar oder ein paar mehr elektronischen Eingriffen in das Ganze ergibt das ein ziemlich einzigartiges, bescheidenes, intimes und durchschlagendes Album.
Kristoffer Cornils
Elena Colombi reiht sich in eine lange Liste von Musiker:innen ein, die ein Album namens Live at Café Oto vorlegen. Als ihre eigene Chefin bei Osàre! Editions wird sie niemand gezwungen haben, diese Aufnahme einer »very special night«, Teil einer von Valentina Magaletti kuratierten Residency, zu veröffentlichen. Colombis psychedelische Interpretation von Industrial und/oder ihre psychoaktive Slow-Mo-Clubmusik mit ihren gelegentlichen beatlosen Ausflügen sorgt jedenfalls für eine großartige Show, ebenso atmosphärisch wie eindringlich.
Kristoffer Cornils
Der Wahlberliner Eric Wong wirft gerne mit Bluetooth-Lautsprechern um sich und hat darauf seinen musikalischen Modus Operandi aufgebaut. Yan Jun aus Beijing behauptet hingegen, in einem Kloster in den Bergen von Mönchen Obertongesang gelernt zu haben, weshalb das nun sein Markenzeichen ist. Obwohl die beiden mit Dichotomic Language bereits ein gemeinsames Album veröffentlicht haben, dokumentiert rely für Infant Tree verwirrenderweise ein viel früheres Zusammentreffen: Diese Aufnahmen entstanden im Jahr 2017 und somit zu einem Zeitpunkt, als beide die ersten Schritte ihres aktuellen Werdegangs nahmen. Wongs sinuswelliger Noise und Yan Juns Brummen, Zischen und Luftholen bilden ein sonderbares, seltsames, wundervolles Duett.
Kristoffer Cornils
Fi(r)s(t) things fi(r)s(t): Der in Berlin lebende Künstler fis ist nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls in Berlin lebenden Künstler Fis. Wie auf früheren Veröffentlichungen für Labels wie den Leipziger Cassettendienst – der sich für Last Song of the Yeah mit Verydeeprecords aus Nürnberg zusammengetan hat – nutzt der Singer/Songwriter hier IDM/Indietronica-Elemente als Bühne für die Inszenierung seiner gecroonten Entschleunigungstheatralik. Wer sich nach dem sanften Schimmer von »Neon Golden« sehnt und sich in »Chabos« eher wiedererkennen konnte als in »Babo«, wird hier ein Zuhause finden, und sei es nur für einen Sonntagmorgen lang.
Kristoffer Cornils
Luke Blair alias Lukid kehrt auf seinem ersten nur auf Tape erhältlichen Release zu dem zärtlich zerfransten House zurück, den niemand so gut beschwören kann wie er. Underloop ist geprägt von rauschigen, matschig-bleepigen Sounds und dahinsiechenden Grooves, die klingen, als habe er heimlich das Radiosignal eines untergegangenen Schiffs abgefangen. Wenn sich überhaupt einmal so etwas wie ein Beat auf dieses Album verirrt, dann pulsiert er maximal sachte und dreht, ganz wie es der Titel fordert, einsam seine Kreise um sich selbst.
Christopher Hunold Zur Review
Glühlampenmusik ist der Titel und die Beschreibung und eigentlich auch ein Versprechen. Dass man hier eher keinen Formatradioblödsinn zu hören bekommt. Sondern das, was hartgesottene Förderanträge nach wie vor als radikales Experiment umschreiben. Und, irgendwie stimmt das: Michael Vorfeld macht schließlich seit 20 Jahren »Musik« mit Glühlampen. Man muss mutmaßen, dass er dabei keine Energiesparlampen verwendet. Eher die guten, alten Dinger, die man heute im Euro-Shop suchen muss. Aber wer einmal die klare 100-Watt-Glühbirne in einer Laterna Magica gesehen hat, weiß Bescheid.
Christoph Benkeser
Irgendwer hat mal geschrieben, Nikolaienko produziere zerknüllte Exotica. Damit können wir hier arbeiten: Der ukrainische Producer und Gründer des Labels Muscut kann sich nämlich nicht zwischen Ausflügen ins Amazonasdelta und der abermaligen Lektüre von Mark-Fisher-Büchern entscheiden. Für ihn mag mangelnde Entscheidungsfreude ein künstlerischer Kniff sein, für uns ist sie: Love-Fidelity Or Hiss Goodbye. Ein Tape, das rauscht und wackelt und am besten mit dem Vorgängeralbum Meta im Postkasten landet.
Christoph Benkeser
Da muss man schon genau hinhören, sagen Leute, die da genau hinhören und es dann Echtzeitmusik nennen. In vielen Fällen eine Zumutung, hier ein Geschenk: Ruhiges Gewerbe, ein Berliner Free-Music-Grüppchen, machen ja nicht umsonst ganz wenig. Also, ganz wenig Krach und Kontrollverlust. Eher das Gegenteil. Leise Töne, mag man das in den richtigen Kulturspalten nennen. Oder einfach Estate Moments. Kommt im Kassettenrekorder auf dasselbe raus.
Christoph Benkeser
Decomposition: Fox On A Highway geht unter die Haut. Auf diesem Konzeptalbum malt Saapato das Verrotten eines vulpinen Roadkills mit sanftem Pinselstrich. Maden, Fäulnisgase und das Desinteresse von Passant:innen wird mit einer Zärtlichkeit beschrieben, die normalerweise nur dem Antlitz von geliebten Personen vorbehalten ist. Die Idee, mit Ambient Verfallsprozesse abzubilden, ist alles andere als neu. Aber sie wurde seit Everywhere at the End of Time nicht mehr so berührend umgesetzt.
Michael Zangerl
Düsseldorf, Mitte der Achtziger: Viele wollen so sein wie Kraftwerk oder NEU!, deshalb treibt man sich rum, im Plattenladen Heartbeat, und lernt Leute kennen, die das auch wollen. So sein wie die, wieso eigentlich nicht? The Crippled Flower entstehen in diesem Zigarettendunst und verziehen sich genauso schnell. Irgendwo vergisst man ein paar Demos, irgendwann finden sie die Kinder. Sie lesen Forming Haze in krakeliger Schrift auf einem Kassettenschuber. Hören das, was war. Und denken sich: Jetzt ist es Zeit.
Christoph Benkeser Zur Review
Rein in die Mitte der World, also: Vogel hören und Vogel sein. Das ist immer noch ein guter Ansatz, um sich dem sogenannten Klang der Natur zu nähern. Und recht bald abzudriften, In The Forest. Dort, wo dieses Tape herkommt. To You They Are Birds, To Me They Are Voices ist angeblich ein Duo zwischen Kuba und Norwegen. Wie das zusammengeht, klären wir ein andermal. Hier, wichtig: Sucata Tapes, ein Setzling des Labels Discrepant. Wer davon schon gehört hat, kann nichts falsch machen. Dem Rest: einen schönen Trip!
Christoph Benkeser
Als Amanda Brown im Jahr 2010 100% Silk als dancigen Not-Not-Fun-Ableger gründete, war die Welt eine andere. Die Leute trugen Neon-Shutter-Shades, lasen VICE und ließen sich auf Raves mit Kuchen bewerfen, statt nur zu filmen. Im Underground diente 100% Silk zunächst als Startrampe für unter anderem Octo Octa und wandte sich später von der 12-Zoll-DJ-Ausrüstung ab und der Walkman-kompatiblen Langstrecke zu. Late Shift Silk versammelt hypnagogische Interpretationen von Genres wie House, Electro und anderen Genres von Menschen, von denen so gut wie niemand je gehört hat. Business as usual, auch nach 15 Jahren.
Kristoffer Cornils
Hin und wieder findet sich unter all dem Bandcamp-Slot noch ein echter Rohdiamant. Ja, auch hier sind 21 Nummern drauf, aber Water Bodies ist dann nochmal anders, nicht nur, weil kein einziger Kerl mitmischt. Neben größeren Namen wie Yetsuby und Flora Yin-Wong schwimmen hier vor allem kleinere Fische wie kc und Lipsticism gegen den Strom an die Oberfläche, und die musikalische Bandbreite reicht von wohligem Ambient bis zu unheimlichen Field Recordings und Downbeats für das Nachhausekommen nach der Clubnacht. Besonders daran ist, dass es gar nicht versucht, so besonders zu sein, und sich einfach nur aufs Wesentliche konzentriert.
Kristoffer Cornils
Endlich mal sagen können: Da war ich damals dabei! Ziúr, Producerin für Planet Mu oder PAN, hat diese Kassette nämlich live gespielt. Am schönen Bodensee, mit dem japanischen Flötenspieler Kenichi Iwasa. Turn Liquid Into Dust ist natürlich achtkanalige Kunsthaus-Musik. Dort kommt sie her, dort muss sie hin. Aber zwischen Videoinstallationen und veritabler Freude an der Erinnerung ist schon wieder ein Jahr vergangen. Auf The Tapeworm erscheint deshalb das, was wir gehört haben. Damals, Drone!
Christoph Benkeser