Records Revisited: Godspeed You! Black Emperor – Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven (2000)

09.10.2020
Das zweite Album des Projekts Godspeed You! Black Emperor ist ein Werk voller Widersprüche und Zweifel. Vor allem liefert es den Soundtrack zur Komplexität menschlicher Existenz im aufkeimenden Dogmatismus.

Es gibt Kunstwerke, die machen einen sehend. Sie schaffen es, das Unbekannte, Unverständliche und Unglaubliche einzufangen und vor die Füße zu spucken. Bei Godspeed You! Black Emperor ist es nicht selten das Monströse und Weggedrängte, das sie einfangen und in befremdlichen Zungen singen lassen. Auf ihrem dritten Studioalbum »Yanqui U.X.O.« (Constellation, 2002) entsandten sie uns in den prosperierenden Markt des War On Terrorism, der kurz zuvor im Irak ins Rollen kam. Der sogenannte Embedded Journalism hatte zu diesem Zeitpunkt die Kriegsberichterstattung längst zum Popkorn-TV-Spektakel kommerzialisiert. Gebrüder Grimm Märchen fürs Abendprogramm.

Mit Godspeed You! Black Emperor (GY!BE) dagegen saßen wir plötzlich ungeschützt unter herannahenden B2-Bombern, bevor die Splitter um sich schlugen. Die kanadische Band machte dies gänzlich ohne Texte (abgesehen vom abschließenden Stottern des heute aus heiterem Himmel rehabilitierten Georg W. Bush). Godspeeds Kanvas war (und ist) die Wall of Sound. Damit standen sie den zum gleichen Zeitpunkt ins Rampenlicht tretenden Mogwai aus Glasgow nahe. Wo bei Mogwai jedoch die geborstene innere Welt nach außen explodierte, ließen GY!BE die überkomplexe Welt in uns strömen und zwischen zu engen Schädeldecken widerhallen. In beiden Fällen galt: Wenn ein Bild mehr als tausend Worte sagt, lässt reiner Klang mehr als tausend Bilder fühlen.

Vereint in den Widersprüchen
Zwei Jahre zuvor hatte das Kollektiv aus Montréal uns mitten im nordamerikanischen Albtraum abgesetzt. »Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven« ist das Spiegelbild der Welt nach der Dotcom-Blase. Inmitten des Bankrotts eines Traums. Nicht nur in den USA verloren sich Existenzen. Das kanadische Montréal, nach wie vor Heimat der Band, lag ausgeblutet am Boden. Es war ein Moment, in dem Träume platzten, sich das bisschen Erfolg in Mittellosigkeit wandelte. In dem nur perverser Reichtum in seinem bedingungslosen Opportunismus noch reicher wurde. In dem Hoffnung und Scheitern einander verzahnten. Es ist der Moment, der bis heute andauert.

GY!BE zeichneten dieses unsichere, zutiefst erschöpfte und zugleich nie endende Wanken der Menschen ins erhoffte Glück in wechselnden und verschmelzenden Gefühlsbilder nach. Laut, leise, schnell, langsam, apathisch, wütend, resignierend, hoffnungsvoll, gläubig, rebellierend. Auf eine klare Abgrenzung der Zustände wurde verzichtet, weil alles in Abhängigkeit steht, sich durchdringt. Es gibt kein Entweder-oder. In den verstörendsten Momenten bilden sie eine grausame Balance heraus. GY!BE ordnen sich dieser Komplexität der Verhältnisse selbst in ihren Liner Notes zu »Yanqui U.X.O.« unter, wenn sie gestehen: »Godspeed You Black Emperor is complicit, is guilty, is resisting.«

»Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven« kann so als Kommentar auf die unheilvolle und beständige Verquickung von Religion, Politik und Kapital verstanden werden, die wenigen nützt und viele bindet.

Was nach der resignierenden Binsenweisheit klingt, nach der alle nur Rädchen im System sind, birgt jedoch auch Hoffnung. Denn GY!BE stellen damit fest, dass eine Mitschuld den Widerstand nicht negiert. Agieren im Widerspruch und aus dem Widerspruch heraus, dort verortet sich das Kollektiv seit eh und je. Und lässt es vereinzelt auch in Songtiteln wie »Static« durchschimmern. »Static« und seine Substantivform »Stasis« stehen gemeinhin für »Stillstand«, das Fehlen jeglicher Veränderung. Historisch betrachtet, beschreibt »Stasis« jedoch auch bürgerkriegsähnliche Zustände im alten Griechenland. David Bryant, Gitarrist bei GY!BE, fügte dem 2003 in einem Interview mit dem Goon Magazin noch eine weitere Ebene hinzu. »It’s about degrees of motion, where for instance even immobility can be rendered mobile. Static, the radio kind, is anything but static. It’s moving too fast for us to perceive.«

Gefangen im American Dream
»Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven« erzählt dieses Leben im Widerspruch und in den Wechselwirkungen als grundlegenden Daseinszustand, der im vermutlich ältesten Spannungsfeld der Menschheit verweilt: Religion, Macht und Ausbeutung. Das Artwork beinhaltet zwei Zeichnungen des kalifornischen Künstlers William Schaff, die diesen seit Äonen konstanten und zugleich sich beschleunigenden Schwebezustand illustrieren. Der Glaube wird in Form von Religion zum Machtinstrument, das selbst nichts anderes als Geschäftsmodell ist. Nicht ohne Grund können die großen Kirchen dieser Welt ohne weiteres mit Fortune 50 Unternehmen mithalten. Die Mormon Church allein wiegt 70 Mrd. USD, während die drei größten katholischen Kirchen (Vatikan, Deutschland und Australien) mehr als 81 Milliarden auf die Waage bringen.

Zugleich ist die Monetarisierung selbst Religion. In den USA steckt auch das hinter dem sogenannten American Dream. Denn dieser nährt sich maßgeblich vom Wohlstandsevangelium, das insbesondere in einflussreichen evangelikalen Kirchenströmungen propagiert wird. Demnach ist finanzieller Reichtum ein direktes Zeichen für die Liebe Gottes. Diese kann durch Abgaben an die Kirche weiter gesteigert werden. Ein lukrativer Kreislauf aus Selbstbestätigung, beruhigtem Gewissen und Bereicherung. Denn im Umkehrschluss haben es die sozioökonomisch Abgeschlagenen dann auch nicht anders verdient.

Godspeed You Black Emperor
Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven!
Constellation • 2000 • ab 27.99€
»Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven« kann so als Kommentar auf die unheilvolle und beständige Verquickung von Religion, Politik und Kapital verstanden werden, die wenigen nützt und viele bindet. Vielmehr noch erläutert das Album jedoch, dass es eben keine einfachen Antworten auf die Komplexität der menschgemachten Existenz gibt. Und das wir damit (in unseren Timelines) endlich mal klar kommen sollten.


Die Musik von Artis findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/.)