Review

Flora Yin-Wong

Holy Palm

Modern Love • 2020

Alle Musik hat ihren Ursprung im Ritual, argumentierte bereits Jacques Attali Ende der 1970er in seinem bahnbrechenden Werk zur politischen Ökonomie der Musik, »Bruits«. Wie diese Rituale mit unserem persönlichen und kulturellen Gedächtnis zusammenhängen, es beeinflussen und prägen, das haben seit den ersten Burial-Releases vor anderthalb Jahrzehnten zahlreiche Produzent*innen untersucht. Auch Flora Yin-Wong reiht sich in diese noch junge Tradition ein. Nachdem die in London lebende DJ und Autorin vor allem mit Beiträgen zu Compilations wie »Co-Op« und »Mono No Aware« auf PAN bekannt wurde, seziert und abstrahiert sie nun auf ihrer Debüt-LP für Modern Love verschiedene Formen von Tanzmusik aus aller Welt. Auf der zweiten 12" des Doppelalbums sind diese ausschnittsartig in zwei längeren Tracks dokumentiert: »Loci I« und »Loci II« bilden Field Recordings, Gamelan-Aufnahmen, glitchige Radio-Mitschnitte von UK-Garage-Bangern, Clubtoilettengeplapper, aus der Ferne dröhnende Mariah-Carey-Slow-Jams und noch mehr ab – Rituale also, die im Fokus der zehn anderen Stücke von »Holy Palm« stehen. In diesen Tracks werden sie manipuliert und auseinandergezogen, als würde es sich dabei um Erinnerungen fern zurückliegender Rauschzustände handeln. Kaum merklich brechen sie immer wieder durch dröhnende Soundscapes, machen sich bemerkbar und lösen im Innenohr ein vertrautes Fremdeln aus. Grime-Abstraktionen, bräsiger Noise, labyrintisch verflochtene Vocal-Samples – das alles entwickelt eine eigenartige Unwucht, eine wunderbare klangliche Instabilität, welche die Rituale der Musik einer radikalen Neuinterpretation unterzieht.