Es existieren – grob gesagt – drei Stadien, in denen man sich beim mehrfachen Hören eines Songs (oder Albums) befinden kann: Die ersten Male saugt man nur die Atmosphäre auf und lässt sich schlichtweg vom Kerngefühl des Songs treiben; danach will die Komposition verstanden werden und man achtet auf Punkte wie Struktur oder Arrangement; irgendwann kennt man das Stück dann so gut und kann dem Aufbau folgen – wodurch ein neues, eher auf Vertrautheit basierendes Konsumvergnügen entsteht.
Der großartige Singer-Songwriter Alex G schafft es, Phase 3 nie komplett eintreten zu lassen. Durchgehend bewegen sich seine Songs irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Stadium; also zwischen einem puren Treibenlassen und dem Versuch, diese Musik zu begreifen. Doch nie ist man tatsächlich in der Lage, dahinterzukommen. Das Zusammentragen von Notizen, die als Grundlage für Artikel wie diesen hier dienen, funktioniert ganz einfach: Du hörst, bis dir (erstmal) nichts mehr einfällt. Bei Alex G ist das allerdings komplizierter – man könnte ewig zuhören und trotzdem nie das Gefühl bekommen, alles zu verstehen.
Ein perfektes Beispiel ist »Afterlife«, die vorab veröffentlichte Leadsingle zu Headlights, dem neuen Meisterwerk von Alex G. Gefühlte dreitausend Mal habe ich den folkigen, trotzdem außerirdischen Popsong schon gehört – erinnert an die R.E.M.-Alben der frühen Neunziger, wie mein Kumpel Marcus festgestellt hat – und checke weiterhin nur bedingt, wie genau die eigenwillige Gesangsmelodie verläuft; was hier eigentlich Strophe ist und was Refrain; warum dieses Konstrukt aus Mandoline, Hip-Hop-Beat und Schimmersynths so süchtig macht. Gleichzeitig scheint der 32-Jährige eine Art Neuanfang einzuläuten: »When the light came, big and bright, I began another life«. Ein neues Leben also. Mit dem besagten Licht, auf das auch der Albumtitel anspielt, könnte das Major-Label RCA gemeint sein, bei dem der eigentlich so nischige Alex G unter Vertrag steht. Neuerdings, versteht sich. Aber stopp, gehen wir nochmal einen Schritt zurück…
Wer sind die prägendsten Musikacts der Zehnerjahre? Taylor Swift, Kendrick Lamar etc. –, tatsächlich wäre es m. E. nicht übertrieben, auch Alex G in den Ring zu werfen.
Bevor es dazu gekommen ist, dass Alex G mittlerweile als einer der einflussreichsten Indie-Musiker der letzten 15 Jahre gilt – man betrachte: sein gigantischer Online-Fankult, sein radikales Vermischen von Genres, sein humorvoller Umgang mit Sentimentalität – wurde der Philadelphianer in den frühen Zehnerjahren erstmal zur Bandcamp-Legende. Neben Car Seat Headrest, Mac DeMarco und Mitski. Charmante Lo-Fi-Alben wie Trick (2012) gehören bis heute zu seinen populärsten Werken, ließen den Kult um Alex G wachsen und wachsen. Auch die paradoxe Tatsache, dass viele seiner ultraintrovertierten/-rohen Songs zu TikTok-Hits wurden, hängt natürlich damit zusammen, wie immens viele Streaming-Hörer:innen der unscheinbare Alex G heute hat.
Der Real Deal geht nicht in den Ausverkauf
In den letzten Wochen stellte ich Freund:innen gerne mal die Frage, wer die prägendsten/relevantesten Musikacts jedes Jahrzehnts sind, von den Sechzigern bis heute. Bei den Zehnerjahren waren die Antworten meist offensichtlich – Taylor Swift, Kendrick Lamar etc. –, doch tatsächlich wäre es m. E. nicht übertrieben, auch Alex G in den Ring zu werfen. Klar, bezüglich Popularität kommt er nicht ansatzweise an andere Musiker:innen heran, doch die Argumente sind gut. So steht er, nochmal, für wichtige Phänomene: der Indie-Trend weg von Bands und hin zu Solo-Acts; das postmoderne Vermischen von Traurigkeit und Ironie; das noch offensichtlichere Vermischen von Genres wie Country und Soundcloud-Rap; das intensive Rezipieren und Weiterverarbeiten im Internet auf Seiten der Fans (Stichwort Memes). Und so weiter. Gleichzeitig wirkt Alex G wie einfach nur irgendein Typ. »I’m very boring. I don’t do anything«, erzählte er im Interview mit Pitchfork. Alles in allem ergibt diese Mischung eine popkulturelle Figur, die gewissermaßen den Inbegriff eines Indie-Rock-Stars im heutigen Zeitalter darstellt – gerade weil es sich bei Alex G um keinen klassischen Star handelt.
Sein zehntes Album, das Major-Label-Debüt Headlights, ist nun also der endgültige Aufstieg dieses merkwürdigen Indie-Stars; der Beginn eines neuen Lebens, wie Alex G in »Afterlife« zu erklären scheint. Die Platte klingt tatsächlich danach: Auch wenn Headlights etwas Gespenstisches hat, ist es das (bisher) greifbarste Album des Musikers – eine klare Level-Up-Geste, ohne auf offensichtliche Weise aufzustocken. Bei vorherigen Alben wie House of Sugar oder God Save The Animals war es so, dass darauf konventionelle Indie-Folk-Songs zwischen aneckenden Sounderforschungen herausgestochen sind. Doch dieses Verhältnis wurde nun umgedreht: Nicht die leicht zu packenden Stücke stechen auf Headlights heraus, sondern die experimentellen Tracks wie »Louisiana« oder »Bouncen Boy«. Durch ihre Präsenz behält das Album einen interessanten Charakter und fühlt sich nicht wie ein Sellout-Move an. Doch insgesamt ist Headlights definitiv wärmer, seichter, insgesamt noch besser.
Die Platte fühlt sich breiter und offener an, obwohl sie musikalisch weniger abenteuerlustig ist – und macht dadurch deutlich, dass sich experimentelle Musik nicht nur durch digitale Stimmspielereien oder radikale Soundmischungen auszeichnen kann, sondern auch durch eine merkwürdig platzierte Bridge, einen unerwarteten Melodieschlenker, ein plötzliches Durchbrechen der vierten Wand: »Some things I do for love, some things I do for money. It ain’t like I don’t want it, it ain’t like I’m above it«, singt Alex G in »Beam Me Up« und scheint sein neues Dasein als Major-Label-Artist zu kommentieren. Das ist clever und vor allem funny. Noch besser sind diese Meta-Kommentare in »Real Thing«, genau so muss man’s machen: »Hoping I can make it through to April, on whatever’s left of all this label cash«. Ich lieb’s komplett. Dass ihn nie jemand für »the real thing« gehalten hat, erzählt Alex G darin. Sollte nie wieder vorkommen.