Irgendwie ironisch: Da hatten zwei Jahre lang alle ausreichend Zeit, dicke Bücher zu schreiben, und dann kommen sie raus und es hat kaum jemand die Ruhe zum Lesen. Ein Glück, dass Papier geduldig ist. In den folgenden zehn Büchern aus dem Jahr 2022 wurde auch viel Zeit investiert, ob nun für intensive Recherche und akribische Auswertung oder weil ihre Sujets selbst ein gehöriges Alter vorweisen können.
Der Berliner Tresor schenkte sich zum 31. Geburtstag – 2021 war ja irgendwie niemandem so wirklich zum Feiern zumute – selbst ein Buch, das noch gemeinsam mit der in diesem Jahr verstorbenen Regina Baer zusammen erarbeitet wurde. Sie ist nicht die einzige in dieser Liste, die zu früh von uns gegangen ist: Natürlich gehörte das neue Buch über J Dilla in diesem Jahr (oder nächsten, wann ihr eben dazu kommt) ebenso zur Pflichtlektüre wie das zu Biggie und unser aller greatest love of all, Whitney Houston.
Es sind nicht die einzigen Beispiele sorgfältiger Geschichtsschreibung: Ob nomadische Soundsysteme, feministische Musikgeschichte, Turntable-Design oder der French Touch und ein Kraftwerk-Album: Die Top 10 Bücher des Jahres 2022 bieten allerdings Einsichten in die Vergangenheit. Gut, dass Quincy Jones uns da noch ein paar Ratschläge für die Zukunft mitgibt. In der kommen wir dann hoffentlich auch dazu, all diese Bauziegel aus Papier zu lesen. Kristoffer Cornils
Selbst wandelnde J-Dilla-Lexika, die jede Sample-Quelle im Schlaf aufsagen können, werden hier noch etwas lernen. »Dilla Time: The Life And Afterlife Of J Dilla, The Hip-Hop Producer Who Reinvented Rhythm« stellt nicht nur die Geschichte und Musik J Dillas in ihre historischen Kontexte, sondern zoomt sprachlich wie grafisch tief in die Rhythmusmagie von James DeWitt Yancey rein. Dan Charnas ist mit dieser umfassenden Monografie, für die er über 150 Personen interviewt und noch jede B-Seite unters Mikroskop gelegt hat, ein seltenes Meisterwerk gelungen.
Kristoffer CornilsEigentlich wurde alles über Whitney Houston gesagt. Nur noch nicht von allen. Weil der ehemalige Los Angeles Times-Reporter Gerrick Kennedy keine klassische Biografie über die »am meisten ausgezeichnete Künstlerin« geschrieben hat, geht »Didn’t We Almost Have It Al – In Defense Of Whitney Houston« trotzdem durch – zum Beispiel als Spiegel für die Medienwelt und was sie aus der »I Will Always Love You«-Sängerin gemacht haben. Spoiler Alert: nichts Gutes!
Christoph BenkeserDas Auge hört mit und niemand weiß das besser als Gideon Schwartz. Nachdem der Experte für Audio-Design schon mit »Hi-Fi: The History of High-End Audio Design« einen ziemlichen Klopper für den Verlag Phaidon vorlegte, lässt er mit »Revolution – The History Of Turntable Design« nun gleich den nächsten vor. Schwartz macht gut 70 Jahre Designgeschichte anhand von allerhand sehr verschiedenen Plattenspielern nachvollziehbar und tut das auf anschauliche Art und Weise: Zu seinen Texten gesellen sich gut 300 Bilder. Ein 1200er lässt sich darauf zwar nicht balancieren, doch bietet dieses Buch für Hi-Fi-Nerds und Desing-Freaks gleichermaßen ein rüttelfestes Fundament.
Kristoffer CornilsDie Pandemie beziehungsweise die damit einhergehenden Auflagen haben das Interesse an Free-Tek und nomadischen Soundsystemen neu entfacht und wer könnte allen Zuspätgeborenen bessere Einblicke in die Mechaniken einer herumziehenden Boxenwand verschaffen als Harry Harrison? Der hat sich inzwischen auf dem Land niedergelassen, reiste als Mitglied des Soundsystems DiY dereinst aber auf den Bassfrequenzen durch die Welt. »Dreaming In Yellow. The Story of the DiY Sound System« erzählt niemals wirklich nüchtern und nur manchmal ernüchternd von der großen Aufbruchsstimmung der Neunziger.
Kristoffer CornilsGeschichtsschreibung ist nicht monolithisch und deshalb auch niemals erschöpfend. »These Girls, Too – Eine Feministische Musikgeschichte«, herausgegeben von Juliane Streich und veröffentlicht bei Ventil, ergänzt und erweitert die historischen Interventionen, die der Sammelband »These Girls - Einträge in die feministische Musikgeschichte« durch hundert weitere Einträge, die den Frauen und Gender-Renegat:innen der Musikgeschichte gewidmet sind. Stilistisch wie inhaltlich ergibt sich ein heterogenes Miteinander verschiedener Herangehensweisen und Perspektiven, was wiederum als publizistisches Statement verstanden werden kann. Diskursiv und lehrreich, fun und nahbar. Kristoffer Cornils
Kristoffer CornilsDas Buch könnte man sich wegen seines Covers an die Wand tackern. Weil das Teil mit 336 Seiten aber so viel wiegt wie fünf vorgekaute Cheeseburger, blättert man durch – und bleibt hängen. Sogar wer Biggie auf ewig als Legende feiert, sollte zwischen Widmung und Verzeichnis ein paar News zum Nerden finden. Schließlich hat Justin Tinsley nicht nur seinen ehemaligen Nachbarn, Freund:innen und DJs ein Mikro unter die Nase gehalten, sondern sich auch mit der Familie des »besten Rappers aller Zeiten« (© Billboard) unterhalten.
Christoph BenkeserViel, sehr viel Tinte wurde über Daft Punk vergossen, selten aber jemand hat die ganze Geschichte von hinten aufgerollt. Martin James hat es aber nun getan und schöpfte dabei nicht allein aus vielerlei Quellen und Gesprächen, sondern ebenso aus seinen eigenen Erfahrungen. »French Connections« folgt auf seine Neuauflage seiner Drum’n’Bass- beziehungsweise Jungle-Bibel »State of Bass« und beweist erneut, dass James ein ebenso kenntnisreicher wie nüchterner Erzähler ist, der sich – obwohl er selbst den Begriff French Touch erfand – nicht als Protagonist einklinkt und stets um ein nuanciertes Bild besorgt ist. Akribischer ließe sich die Herleitung der Geschichten dieses Phänomens kaum aufschreiben.
Kristoffer CornilsQuincy Jones produzierte sich von Aretha bis zum Prinzen von Bel Air durch die Popgeschichte, staubte 27 Grammys ab und hält einen Ehren-Oscar (whatever that is!) – natürlich hat der Mann mit knapp 90 Lenzen einiges erlebt. Mit »12 Notes On Life And Creativity« spielt er sich einmal über die Klaviatur seines Lebens und gibt tolle Ratschläge wie »Verwandle deinen Schmerz in ein Ziel« oder »Tu, was noch nie zuvor getan wurde.« Wer sich durch die 192 Seiten nicht mit Erfolg schmökert, ist selbst schuld!
Christoph BenkeserDie Zukünfte von gestern sind heute schon wieder Vergangenheit und doch hallen die Visionen von dereinst noch weiter nach. Steve Tupai Francis’ Auseinandersetzung mit Kraftwerks Album »Computerwelt« aus dem Jahr 1981 bringt dieses in diesem wie gewohnt schmalen und doch dichten Band aus Bloomsburys 33 ⅓-Reihe in den Zusammenhang mit Posthumanismus, Kybernetik und Kulturanthropologie. Das zentrale Thema, das er in den sieben ebenso stilprägenden (»Nummern«!) wie vorausschauenden (»Computerliebe«!) Stücken ausmacht, ist das der transition, des Übergangs zwischen verschiedenen Zuständen genauso wie der damit einhergehende Wandel.
Kristoffer CornilsEndlich wieder mal ein Blick in die Urknall-Vergangenheit von Techno! Tresor-Gründer Dimi Hegemann hängt seinen Kopf zwar nicht aufs Cover von »Tresor: True Stories. The Early Years«, darf aber wie Regina Baer, Thomas Fehlmann und Jeff Mills auch in der Erinnerungskiste wühlen. Der ganze Bums ist schließlich ein paar Jährchen her. Damit sich die 49,99,- auch wirklich lohnen, hat man dem Coffee-Table-Schmökerdings 400 Fotos, Faxe und Flugblätter spendiert, die ganz sicher noch niemand gesehen hat. Was soll man sagen: true story!
Christoph Benkeser