Musikjournalismus kann schon schön sein, manchmal aber auch nicht. Neben mieser Bezahlung und fiesen Online-Kommentaren gehört zu den Schattenseiten auch, ständig großartige Musik zu entdecken, für die sich dann niemand interessieren mag. Der Radiojournalist Philippe Cortens hat das mit seinem Label Cortizona auf den Kopf gestellt und bietet eine Plattform für unerhörte Sounds und Platten aus verschiedenen Epochen und Ecken dieser Welt, die sonst unbeachtet bleiben würden.
Cortens wuchs in Belgien auf, wo er mit seinen Händen die Plattensammlung seiner Eltern durchstöberte, während das Ohr an dem Medium klebte, das weiterhin ein wichtiger Teil seines Lebens ist. Wenn er nicht gerade Songs aus den Top 30 auf Band aufnahm, schaltete er bei Krekelgeluiden ein, einer Sendung, in der Moderator Bert Bibber Liebesbriefe seiner Fans vorlas und als deren Kummerkastenonkel fungierte.
Das sollte sich aber bald ändern. »Punk, Industrial und EBM prägten in den frühen 1990er-Jahren meine Art, zu hören, und meine Perspektive auf Musik nochmal«, sagt Cortens heute. »Die Tapes mit der Musik von Negazione, Disorder, Throbbing Gristle, Butthole Surfers, Mark Stewart, Einstürzende Neubauten, Front 242 und Klinik haben mich umgehauen und eröffneten mir schon in jungen Jahren eine aufregende neue Welt des Diggens nach Musik und verrückter Konzerte.«
Spirituality
Watermelancholia
With Strings Black Vinyl Edition
Danza Del Piri-Piri
Cortens hat daraus eine Karriere gemacht. Er arbeitete als Musikredakteur und war für Sender wie Studio Brussel und Klara für die Musikauswahl zuständig. Für den einen stellte er eine Compilation von Live-Aufnahmen von Künstler:innen wie The xx und Jamie Lidell zusammen, für den anderen besorgte er für die Neuauflage einer Live-Aufnahme der belgischen Band Evil Superstars. Heutzutage veranstaltet er Konzerte und arbeitet als Kurator.
Und natürlich ist Cortens, zu dessen eigenem Schaffen auch einige Musikdokumentationen gehören, Inhaber eines Labels. Cortizona wurde im Jahr 2017 nach einem Zufallsfund gegründet: »Ich entdeckte die originale Reel-to-Reel-Version von ›Planètes‹ von Jean Hoyoux«, sagt er. »Die wunderbare, faszinierende Musik in Kombination mit Hoyoux’ erstaunlicher Lebensgeschichte hat mich denken lassen, dass der perfekte Moment für die Labelgründung gekommen war, und ich den Rest einfach auf mich zukommen lassen sollte.«
Zu einer Überraschung gehören immer zwei
Nachdem er damit die erste offizielle Wiederveröffentlichung dieses Kultklassikers der belgischen elektronischen Musik der frühen 1980er-Jahre an den Start gebracht hatte, legte Cortens schnell mit weiteren Wiederveröffentlichungen von nicht minder wegweisendem Material los: Ein Live-Mitschnitt der Jazz-Giganten Freddie Hubbard Quintet aus dem Jahr 1973 als audiophile Vinyl-Sonderpressung, ein weiteres Hoyoux-Album und die »Noises«-Compilation aus dem Jahr 1977 gehörten zu den ersten Cortizona-Katalognummern.
Eine intime Aufnahme von Frederik Croenes »Cul de sac«, einer Suite aus vier postminimalistischen Klavierstücken, markierte im Jahr 2019 dann als erste Veröffentlichung mit zeitgenössischer Musik einen Wendepunkt in der Geschichte des Labels. »Ich war hin und weg, als Frederik die Kompositionen live in seinem Gartenschuppen für mich spielte, ich musste dieses Stück Glück einfach auf Vinyl veröffentlichen«, erinnert sich Cortens.
»Meistens geht die Kunst, die ich liebe, gegen den Strich und hat eine sehr spezielle Perspektive auf die Welt.«
Philippe Cortens
Seit der Veröffentlichung von »Cul de sac« ist Cortizona zu einer Art Hybrid-Label geworden. Hier trifft eine Zusammenstellung von Aufnahmen der Avant-Jazz-Sängerin Patty Waters aus den 1970er-Jahren auf eine Platte, auf der Andrew McKenzies The Hafler Trio fertige Versionen von Stücken präsentiert, die ursprünglich mit Genesis P-Orridge entstanden sind, da findet sich sich die verspielte Improvisationsmusik der Komponistin Pak Yan Lau neben dem Meta-Pop von Céline Gillain wieder.
Auf die Frage nach dieser unbekümmert-anarchischen und – zumindest vordergründig – etwas verwirrenden Mischung aus musikalischen Ansätzen und Ästhetiken zuckt Cortens mit den Schultern. »Ich will nicht zu sehr in Genres oder an eine musikalische Richtung denken, in die das Label gehen muss«, erklärt er. »Ich lasse mich gerne von Musik und Kunst im Allgemeinen überraschen. Meistens geht die Kunst, die ich liebe, gegen den Strich und hat eine sehr spezielle Perspektive auf die Welt.« Wenn er einen Ratschlag für sein Publikum habe, dann: »Wagt es, euch überraschen zu lassen!«
Herausragendes aus Belgien
Mehrere Künstler:innen, darunter Céline Gillain genauso wie das ehemalige Evil-Superstars-Mitglied Tim Vanhamel mit seinem Plunderphonics-Beatmaking-Projekt Comité Hypnotisé und die Konzeptkünstlerin Ann Eysermans, kehren immer wieder zu Cortens’ Label zurück. »Ich versuche, eine Beziehung des gegenseitigen Vertrauens aufzubauen, die hoffentlich zu fantastischen Platten führt und Raum für die Erschaffung weiterer atemberaubender Musik gibt.« Dieser nachhaltige Ansatz und Cortens’ Leidenschaft für das Eigenwillige spiegeln sich in den fantasievollen und detaillierten Artworks wider. Es sind Alben, die auch in vielen Jahren noch in den Crates herausstechen werden.
Eigenwilligkeit ist sowieso das Schlüsselwort für eine Menge Musik, die in den letzten Jahrzehnten aus Belgien gekommen ist. »Der Philips-Pavillon auf der Expo 1958 mit Werken von Varèse und Xenakis, Front 242, New Beat, die Sherman Filterbank, die Antwerpener Free-Music-Gang um WIM und Fred Van Hove, Decap-Orgeln, die Punk- und New-Wave-Szene in den 1970er- und 80er-Jahren: Belgien hat eine ziemlich reichhaltige, verrückte und aufregende Musikgeschichte und es ist immer noch viel los hier, also denke ich, dass das auch ein bisschen bei Cortizona mitschwingt«, sagt Cortens.
Er weist jedoch ebenso darauf hin, dass Veröffentlichungen von Twinkle³ zusammen mit David Sylvian und Kazuko Hohki sowie Alben von Bernard Szajner und BRAHJA sein Label zu einem ausgesprochen internationalen machen. So steht zwar ein Konzert für die nächste Ausgabe des stets verlässlichen Festivals Meakusma in der belgischen Stadt Eupen an, andere Zukunftspläne indes haben mit Japan oder afrikanischer Electronica zu tun. »Aber ich möchte auch nicht zu viel verraten«, lacht Cortens. Ein guter Musikjournalist weiß schließlich, wann er die Klappe halten und die Musik für sich sprechen lassen muss.