M83 – Synthpop, Kindheit, Eskapismus

14.10.2011
Foto:Tilman Junge & Malte Seidel
__Hurry Up We’re Dreaming__ von M83 ist eines der diesjährigen Höhepunkte in Sachen Synthpop. Seit Jahren schon diese Sparte beackernd, sind M83 eine Art Vorreiter jener Hypemen der letzten Monate, von I Break Horses bis Miracle Fortress.

2011, so die steile These dieses Textes hier, ist das Jahr der Synthpop-Acts. Nachdem sich mit Witch House und Hypnagogic Pop im letzten Jahr alle ein bisschen durch die Blogosphäre gegruselt und Dank Chillwave die WWWElle geritten haben, ist es jetzt mal wieder Zeit für was Echtes. Keine kruden Stilbezeichnungen mehr, Schluss mit den Fantasiegenres. Popmusik, mit Synthies. Da, bitteschön, weiß man doch was man hat.

Große Momente aufblasen
Wenn heute Hurry Up, We’re Dreaming von M83 erscheint, darf man diese sechste LP des Franzosen getrost als Messlatte für alle anderen Synthpop-Veröffentlichungen dieses Jahres sehen. Gonzalez zieht solch opulenten Flächen auf, treibt es stets bis an, aber nie über die Spitze und lässt diese traumtänzerischen Gebilde mit Gewalt und Melancholie gekonnt wieder in sich zusammenfallen. Auffällig ist seit jeher die Verknüpfung von Musik und Natur. Songtitel arbeiten mit Bergen, Seen, Wasser und Wind. Tatsächlich sind Teile des Albums in der Wüste entstanden. »Wenn ich mein Studio nicht mehr sehen kann, nehme ich mein Auto und fahre drei Stunden raus in die Wüste«, erklärt Gonzalez. »Da habe ich eine kleine Hütte, meine Laptops und Synthesizer. Ich bin im Süden von Frankreich geboren worden und haben dort 29 Jahre meines Lebens verbracht. Umgeben von Bergen und Wäldern. Die Natur und die Landschaft inspiriert mich sehr.«
Diese Inspiration bläst Gonzalez auf Hurry Up, We’re Dreaming zu großartigen Momenten auf. Es sind Ideen, die man schon auf Before The Dawn Heals Us heraushören konnte. Gonzalez ist dieses Labeling natürlich vollkommen gleich: »Für mich selbst ist es schon hart, meine Musik zu beschreiben. Umso schwieriger ist es, ein Genre dafür zu finden. Mir ist das egal. Synthpop, dreamy pop, was auch immer.« Vielleicht ist Synthpop auch wirklich nur ein Begriff unter vielen. Nun, wenn man ganz genau hinhört und –schaut, dann kreieren M83 aus Naturnuancen, philosophischen Vocalschnippseln und glitzernden Gänsehautswells einen astreinen Soundtrack zum Eskapismus des prototypischen Großstädter.

»Das mochte ich am Kindsein. Du hast kleine Geschichten erfunden und in ihnen gelebt. Das Leben ist ein großes Abenteuer.«

Anthony Gonzales
Faszination Kindsein
»Als ich aus Frankreich nach L.A. zog, war ich sehr alleine. Das Einzige, was mich am Leben gehalten hat, waren Erinnerungen an meine Kindheit. Ich begann mich an Träume zu erinnern, die ich als Kind hatte. Dinge, die ich für lange Zeit vergessen hatte. Die neue Stadt, das neue Umfeld ließen mich diese Sachen wieder hervorholen«, erinnert Gonzalez sich. Musik als Flucht zurück in die eigene Kindheit. Wie er während des Interviews im Hotel Michelberger in seinem AA-Hoodie auf dem Stuhl hin und herwippt, bei manchen Fragen schmunzeln muss, kauft man ihm das sofort ab.
Auf dem Cover der Single Midnight City war eine bizarre Kreatur mit großen Augen, Rüssel und Fell zu sehen, auf dem Albumcover entpuppt das Monster sich als Kostüm. Ein Junge steckt darunter und sitzt mit einem Mädchen in einem Kinderzimmer. »Es fasziniert mich, ein Kind zu sein. Wenn du darüber nachdenkst, hast du als Kind auch schon immer geträumt und Abenteuer mit deinen Spielfiguren, Kostüme, Verkleidungen erlebt. Man wollte immer jemand anders sein. Das mochte ich am Kindsein. Du hast dich um nichts kümmern müssen, wolltest nur spielen – und konntest das auch machen. Du hast kleine Geschichten erfunden und in ihnen gelebt. Das Leben ist ein großes Abenteuer. Und darum geht es auf dem Album. Jemand anderes, jemand stärkeres und dem echten Leben entkommen.«

Zeitgemäßer Anstrich
Tatsächlich schlagen M83 mit diesem liedgewordenen Eskapismus – wohlgemerkt schon seit dem ersten Album – in die gleiche Kerbe wie all jene Hypemen, die in den letzten zwölf Monaten ebenfalls an melancholischer Landfluchtmusik strickten. Seien es I Break Horses, The Naked & Famous oder Miracle Fortress, die mit wavigem Klängen und digitalen Drums ordentlich Welle machten. Und schon im letzten Jahr konnten Bands wie Miami Horror das Ganze sogar geschickt mit verwaschen-überkontrastiertem Videolook in die Blogs bringen.
Allesamt können sie gut und gerne als die Erben von Zoot Woman, Erasure, Talk Talk oder New Order bezeichnet werden. Denn um das Revival des Synthpop im Jahr 2011 zu verstehen, muss man gut 30 bis 40 Jahre zurückgehen. Natürlich hatte damals sowohl die Klänge als auch die Outfits noch einige Ecken und Kanten mehr, die Idee von computergenerierter Schwermut und einer guten Portion Attitüde und Haltung.
Im Zuge der Retromaniewelle bekommt der 01010-Sound nicht nur ein waschechtes Revival, sondern erhält Dank Einflüssen von überall einen mehr als zeitgemäßen Anstrich. 2011 erfolgt eine durch Zuschaltung von Gitarren, Taktverschiebung oder Kitschkomponenten eine ganz unterschiedliche Auslotung des ursprünglichen Synthpop-Begriffs.