Manchmal kommt eben zusammen, was nicht zusammengehört. Im Jahr 2003 wird nicht nur das Album »Alcachofa« veröffentlicht, es öffnet auch der iTunes Store seine virtuellen Pforten. Es ist der erste digitale Plattenladen, in dem man im großen Stil Musik legal und gegen Bezahlung herunterladen kann. Nicht nur ganze Alben, sondern auch einzelne Songs. Seitdem wird die Relevanz des Formats Album in schöner Regelmäßigkeit in Frage gestellt, die Album-Ära als beendet erklärt. Vor allem in der elektronischen Tanzmusik werden die Funktionen von Track und Album als grundverschieden wahrgenommen. Der eine soll für die Tanzfläche bestimmt sein, das andere für das Wohnzimmer. Die Realität aber sieht ganz anders aus. Die meisten Künstler:innen in Techno und House sehen im Album immer noch eine Art Königsdisziplin der Musikproduktion.
Alcachofa
»Alcachofa« (Spanisch für Artischocke) ist das erste Album des deutsch-chilenischen DJs und Produzenten Ricardo Villalobos. Es erscheint sieben Jahre nachdem er seine erste 12-Inch veröffentlicht hat. Das Album entfacht eine Wirkmacht, die nicht nur seinen Urheber in eine neue künstlerische Richtung hebt, sondern auch die zeitgenössische elektronische Musik insgesamt. Minimal Techno gab es auch vor »Alcachofa« schon. In den 90er-Jahren arbeiteten Robert Hood, Plastikman (Richie Hawtin), das Kölner Kompakt-Label um Wolfgang Voigt und andere an einer skelettierten Variante des Detroit Techno. Davon ist »Alcachofa« sicherlich beeinflusst; wie auch von den Dub-Techno-Experimenten von Basic Channel, dem Projekt von Moritz von Oswald und Mark Ernestus.
Aber die Musik von Villalobos ist so originär, dass musikevolutionäre Gedankenspiele nicht angebracht zu sein scheinen. Villalobos dekonstruiert Microhouse und Minimal Techno, nimmt das, was davon übrig bleibt und setzt es neu zusammen. Seine Tracks pulsieren in einem dubbig-perkussiven Groove. Rhythmus wird zur Melodie und umgekehrt. Tanzbarkeit und experimentelles Edge sind keine Widersprüche mehr. Und unter den rhythmischen Wendungen und Verschlingungen liegt der Pop im Wachkoma.
Andere Sphären
»Easy Lee« und »Dexter« sind die beiden Tracks, die das Album einrahmen – und definieren. Offenbar sieht Villalobos das selbst auch so. 2015 hat er sie auf seinem Label Sei Es Drum noch einmal als 12-Inch veröffentlicht. »Easy Lee« beginnt mit einer Vocoderstimme, die sich aus einem oldschooligen Synth-Pop-Track verirrt zu haben scheint und entwickelt sich zu einem sublimen Techno-Funk-Monster. Die unterschwellige Melancholie in »Dexter« wird von einer fast euphorischen Melodie aufgebrochen. Tracks wie diese stehen exemplarisch für Villalobos‘ Trademark-Sound.
»Alcachofa« ist ein Album voller Gegensätze, dunkel und optimistisch, tanzbar und experimentell. Es markiert den Beginn des Autoren-Techno. Die Neunziger sind vorbei und mit ihnen die Zeit der Anonymisierung von DJs und Produzent:innen. DJs – auch Ricardo Villalobos selbst – würden bald zu Stars werden, mit all den unerwünschten Nebenwirkungen.
»Alcachofa« markiert den Beginn des Autoren-Techno. Die Neunziger sind vorbei und mit ihnen die Zeit der Anonymisierung von DJs und Produzent:innen.
Anfang der 2000er ebbt die erste Welle von Minimal Techno langsam ab. Sie geht fast nahtlos in die zweite über – auch das Verdienst des Einflusses von »Alcachofa«. Dass das meiste aus dieser zweiten Welle nicht der Rede wert ist, kann man Villalobos nicht anlasten. Der schwebt bald schon in anderen künstlerischen Sphären.
Das Album, das vor 20 Jahren bei Playhouse veröffentlicht wurde, erscheint jetzt über Perlon in einer erweiterten 4-LP-Version. Das kann man als Ausdruck der Retromanie und der fortschreitenden Selbsthistorisierung von Techno und House werten. Oder aber auch als Anerkennung für eine Musik, die außerhalb der Zeit steht. Ricardo Villalobos war auf »Alcachofa« vor zwei Jahrzehnten schon da angekommen, wo viele seiner Epigonen heute noch nicht sind.