Records Revisited: The Magnetic Fields – 69 Love Songs (1999)

07.09.2019
Über die Liebe im Pop ist alles gesagt – spätestens seit Stephin Merritt sich mit vermeintlicher Pastiche die Musikgeschichte aufwischte und seine »69 Love Songs« in Wagnerschem Ausmaß in der Repetition der Warhol-Factory aufgehen ließ.

Man nennt ihn ein Genie. Einen Visionär. Den großartigsten Songwriter der USA. Manche vergleichen ihn mit Randy Newman, andere mit Cole Porter oder Oscar Wilde. Dabei will Stephin Merritt niemals so sein wie sie. Er will einfach nur sein Ding machen, an der Ukulele herumeiern und in schummrigen Gay-Bars über Liebe schreiben. Diesen einen place to be, an dem sich das Mastermind der Band The Magnetic Fields so gerne reibt wie rollige Katzen an raumhohen Kratzbäumen. Dass dieser immer in braun gekleidete Typ aus New York es geschafft hat, den Popzirkus aus seinem Dornröschenschlaf zu küssen, hat 20 Jahre später niemand vergessen. Denn 1999 schießt Stephin Merritt der Liebe einen Pfeil durchs Herz, um sie in Form von »69 Love Songs« wieder aufstehen zu lassen.

Die Liebe weiß zunächst nichts von ihrem Glück. Merritt fällt im New York der 1990er Jahre zwar als kettenrauchender Thirtysomething-Songwriter mit Brummbär-Stimme und Mut-zur-Lücke-Lyrics auf, produziert in Bands wie Future Bible Heroes, The 6ths oder The Magnetic Fields allerdings Alben, die sich so anhören, als hätte man Ariel Pink und die Beach Boys in einen Kaugummiautomaten gesteckt, ordentlich dagegen getreten und die bunten Pillen auf der Straße verteilt. In dieser Hinsicht sei »69 Love Songs« ein »career-defining move« gewesen, sagt Merritt in einem Interview. Ein Schritt in eine neue Richtung, ohne dabei den vergangenen Weg zu vergessen. Die neue Platte sollte anders werden. Und ein bisschen größer. 100 Songs schlägt Merritt vor. Die Plattenfirma attestiert ihm Größenwahn. Und besteht darauf, das Ganze auf 69 Songs zu beschränken. So ließe sich immerhin die Sex-Anspielung vermarkten, meinen die Leute von Merge Records Dabei geht’s auf dem Album gar nicht ums Rammeln. Nicht mal um Liebe. Sondern um Liebeslieder, was ziemlich cheesy klingt. Und als Idee unter normalen Umständen damals so kreativ wie heute ist – nämlich gar nicht.

Hier will jemand nicht auf dem verkorksten One-Night-Stand von letzter Woche rumreiten, sondern eine umfassende Aussage über Lovesongs treffen.

Tatsächlich ist die Platte anders. Allein ihr Umfang, 69 verdammte Liebeslieder über Liebeslieder, drückt aus: Hier will jemand nicht auf dem verkorksten One-Night-Stand von letzter Woche rumreiten, sondern eine umfassende Aussage über Lovesongs treffen, sie als Ganzes angehen, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und die schönste Sache der Welt, dieses durchgesessene Sofa der Popgeschichte, neu überziehen. »Ich mag die Idee von Liebesliedern in riesigen Mengen, weil das die Idee des Liebeslieds auf den Kopf stellt. Das kennt man sonst nicht«, sagt Merritt. Diese Absicht unterstreicht er nicht nur in seinem Notizheft, sondern auch mit den musikalischen Ambitionen des Albums.

Genres, Stile, Instrumente – Merritt mischt sie als kichernde Glücksfee einmal durch, streift Space-Rock, irischen Folk und Pop-Balladen aus den Eighties, um im nächsten Moment den schmalzigsten Gassenhauer am Piano runterzuklimpern. Zwischendrin lässt sich’s in der Disco fiebern und in Cowboy-Stiefeln über Shoegaze brettern. Kinderlieder jonglieren mit Adult-Only-Metaphern und ja, irgendwann kommt auch Reggae vor. Alles geht, weil nichts muss. »Punk Love«, »World Love«, »Experimental Music Love«! Einzig über Rap und Heavy Metal traut sich Merritt nicht drüber – seine Stimme sei dafür »not really suited«.

69 Mal Chaos in Zigarettenlänge

Aber hoppla! Lässt das nicht den Verdacht zu, dass sich hier jemand ungeniert am Medizinschrank der Popgeschichte bedient? Da ein Schluck vom leckeren Hustensaft aus 1969, dort ein paar bunte Pillen aus den Achtzigern – alles nur, um den gesamten Scheiß auf einer Platte zusammenzuwerfen und als postmodernes Gebräu neu aufzukochen? Natürlich nicht. Die musikalische Fülle des Albums ist ein Geniestreich. Führt Merritt zu einzelnen Genres hin, untergräbt er sie gleichzeitig mit überspitzter Einfachheit. Er verzerrt sie, schneidet Grimassen, schnippelt an ihnen rum. »69 Love Songs« lässt sich nicht auf die Nachahmung von Stilen ein. Das Album ist davon so weit entfernt wie Morrissey von der Vernunft. Dafür sehen wir hier die große Kunst, eine anerkennende und kritische Parodie der Musikgeschichte miteinander zu verschmelzen. Was brächte es schon, Stile einfach nur nachzumachen? Nichts, will man meinen. Aber sie zu kennen, und durch die eigene Lesebrille abzubilden – das ist der Beginn von …

Es ist ein Album für alle hoffnungsvoll Verliebten und hoffnungslos Verlorenen.

… genialem Dilettantismus. Merritt vergleicht Liebe mit Jazz, Gin und geiler Unterwäsche. Er nietet dem Chef-Semiotiker Ferdinand de Saussure um, weil sich Orchideen nicht mit Bulldozern erforschen lassen (»The Death of Ferdinand de Saussure«). Und er singt zu Synth-Pop-Quietschereien über eine ziemlich lange Hundeleine, die keine Hundeleine ist (»Fido, Your Leash is Too Long«). Themen springen über Themen springen über Themen. Alles nicht so ernst gemeint, und doch ehrlich wie Fruchtlikör aus Oldenburg – gerade weil die Texte sich einer einfachen Erklärung mit Ironie und Wortspiel entziehen. »69 Love Songs« ist ein Sammelsurium an Pointen. Ein Universum, belebt von Personen, Tieren oder anderen Gegenständen, die Merritt erfindet, sie in diese Welten wirft und dann zusieht, was mit ihnen passiert.

Gleichzeitig sind die Songs wie gemacht für die Aufmerksamkeitsspanne von begehrenden Millennials. Merritt erzählt den Großteil seiner Geschichten bei einer schnellen Zigarette, orientiert sich noch öfter an der Zwei-Minuten-Marke und sollten doch mal fünf draufgehen, muss es den Aufwand auch wert sein. Wo andere zehn Minuten auf der Gitarre schrammeln, ins Lagerfeuer starren und sich über den American-Fucking-Dream auskotzen, zielen seine Songs wie mit einer 44er Magnum ins Schwarze. Ritsch, ratsch, bum! Das hat weder was mit Wortkargheit noch mit Pragmatismus zu tun. Stephin Merritt kann Langeweile einfach nicht ab. Und verrät uns auch wieso. Als Kind habe seine Mom oft Musik von Folk-Sängerin Judy Collins gehört. Ein prägendes Erlebens »wegen der stilistischen Abwechslung in ihren Songs« – im Gegensatz zu Bob Dylan, dessen »beschissene Platten« er hasste, »weil Dylan immer nur sang und Gitarre spielt«.

Ob er das ernst meint? Vielleicht. So sicher kann man sich bei Stephin Merritt nie sein. »69 Love Songs« steht ohnehin für sich. Es ist ein Album für alle hoffnungsvoll Verliebten und hoffnungslos Verlorenen. Für alle, die noch an diese eine große Sache glauben, die sich durch den Pop zieht wie Kaugummi in den Haaren. Für jene, die bangen, und streiten und still und heimlich heulen, weil sich das Tinder-Date mal wieder als Upfuck herausgestellt hat. Es ist ein Album für die, die von dieser Erfindung namens Liebe träumen, aber wissen, dass die ganze Chose nicht so wie im Film funktioniert. Weil Merritt vieles ist, aber kein Blender. Und so sägt er mit seinem Camel-Bariton auch 20 Jahre später ein paar Herzen durch und zeigt, was das mit der Liebe wirklich ist: Ein Chaos. Ein wunderschönes Chaos.