Review

Achim Wollscheid & Bernhard Schreiner

Calibrated Contingency

Baskaru • 2015

Eine neue Veröffentlichung von Achim Wollscheid kann man getrost als Ereignis bezeichnen. Das von ihm und Ralf Wehowsky betriebene Avantgarde-Label Selektion war in den 1980er und 1990er Jahren einsamer Brückenkopf im Niemandsland, der sich jeder kulturindustriellen Vereinnahmung oder Zuschreibung im Kategorienwald zwischen Jazz, Pop und Klassik entzog. Ralf Wehowsky, Kopf der stil- und haltungsprägenden Hausband P16.D4, macht nach wie vor mit postdadaistischen Noise/Cut-Up-Dubs auf sich aufmerksam; um Achim Wollscheid war es jedoch vor gut zehn Jahren still geworden, als Architektur den Brennpunkt seiner multimodalen Kunst übernahm. Der Experimentalfilmer Bernhard Schreiner dagegen ist bislang vergleichsweise kaum auf Tonträgern aufgefallen. Wie die beiden vielseitigen Frankfurter sich wohl zusammengefunden haben für ein Konzert beim Steirischen Herbst 2011, das beantwortet dieses Album im Nachhinein mit »ausgezeichnet«. Zwar sah das Setup aus zwei Laptops mit Spule, Radio und Grenzflächenmikrofon als Live-Klangquellen schon damals nach überschrittenem Verfallsdatum aus. Besonders über Kopfhörer hinterlässt diese Dreiviertelstunde allerdings einen ganz anderen Eindruck.Achim Wollscheid und Bernhard Schreiner servieren eine abgestimmte Menu-folge zwischen maschinenkommunikativer Ursuppe und strömendem Äther, in deren vielstimmigen, aber nie bruitistisch chaotischen Fluss aus sirrenden, klingelnden, brummenden Wellen, geknülltem Glitch und rumpelnden Kaskaden garniert mit vielen feinen Sweeps sich ohne vorzeitige Sättigung eintauchen lässt. Merklichen Anteil am Genuss hat die Aufnahmetechnik: Die vier in horizontaler Reihe positionierten Lautsprecher wurden im Konzertraum aufgenommen, inmitten des Grazer Publikums (ein gesittetes; das hatten wir bei K.F. Whitman auch schon anders). Den elektrischen Klängen verleiht das nicht nur ein auffällig klares, lebendiges Stereobild, sondern auch den entscheidenden Kick Wärme. Die Fetzen, aus denen Achim Wollscheid seit jeher seine Musik baute, zucken nicht mehr gar so schreckhaft zwischen den Dimensionen umher. Wir werden ja alle nicht jünger.

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