Records Revisited: Depeche Mode – Violator (1990)

19.03.2020
Das siebente Studioalbum von Depeche Mode ist die perfekte Verbindung von Experiment und Pop, Elektronik und Rock. Eigentlich hätte es aber auch ganz anders ausgehen können.

1990 hätte Depeche Mode genauso gut auch untergehen können. Der Erfolg der letzten zehn Jahre hin oder her – sie waren ein Kind der 1980er Jahre mit ebenjenem Sound. Sie hätten sich einordnen können zu all den Bands, die es nicht in die 1990er Jahre schaffen sollten. Insbesondere das bis dato letzte Studioalbum »Music For The Masses« von 1987 war alles andere als der große Wurf. Nette Synthesizer, starre Strukturen und eine barocke Ansammlung romantisch-verkitschter Harmonien und Melodiestränge, die nur durch Dave Gahans prägnante Stimme gerettet wurden. Depeche Mode waren eine der vielen in diesen synthetischen Jahren erfolgreichen Synthesizerbands, die durch die Wucht von Techno, Elektro, HipHop und dem aufkeimenden Grunge hätten weggeblasen werden können. Stattdessen nahmen sie 1990 mit »Violator« die Welt ein.

Das verdankten sie zum Teil einer genialen bis zufällig-glücklichen PR-Strategie. Angefangen bei der cleveren »Your Own Personal Jesus«-Anzeige, die in Zeitungen völlig ungebrandet zwischen Kontaktanzeigen geschaltet wurde. Erst ohne, später mit einer Telefonnummer, unter der dann die Vorabsingle »Personal Jesus« zu hören war. Bis zum »kleine Autogrammstunde entwickelt sich zur Massenveranstaltung mit Riot Police«-Glücksgriff in Los Angeles. Die geplanten ein paar Hundert Fans wurden 20.000. Es gab Verletzte, ein großes Polizeiaufgebot und nationale Berichterstattung über angeblich aufstandsähnliche Zustände zur Primetime in den USA. Und das genau einen Tag vor Veröffentlichung von »Violator«. So einen PR-Stunt kann man nicht planen.

In der Sackgasse
Dass »Violator« eines ihrer erfolgreichsten Alben wurde, liegt aber auch daran, dass es ihr bestes ist. Und das haben sie vor allem dem Willen zu verdanken, sich nicht in ihrem festgefahrenen Stil und Arbeitsprozess zu verbeißen. Denn dieser hieß bis dato: Martin Gore liefert als zentraler Songwriter der Band detaillierte Demos, die er, Andrew Fletcher und Alan Wilder in mehreren Wochen fest in die Synthesizer einprogrammieren. Zum Schluss darf Dave Gahan die Texte einsingen, die ebenfalls mehrheitlich von Gore stammen. »Die Ergebnisse klangen dann in der Regel genau wie die Demos«, gestand Martin Gore in einer Dokumentation zu den Jahren 1989-1991. Das hatte in der Anfangszeit von Depeche Mode gut funktioniert, zeigte aber bereits auf »Music For The Masses« extreme Verschleißerscheinungen.

Hätten Depeche Mode an diesem Duktus festgehalten, hätten sie ihre Welteroberung – und das hieß 1990 vor allem die Eroberung des US-amerikanischen Marktes – vergessen können. Songs wie »Personal Jesus« mit dem für Depeche Mode vollkommen kontraintuitiven Blues-Riff wären nie entstanden. Und »Enjoy The Silence« wäre eine unscheinbare Lullaby-Ballade geworden, die ihre Schönheit besessen, aber niemals den massiven Erfolg der finalen Dancenummer erlangt hätte. Depeche Mode hatten 1990 eigentlich das Ende ihrer kreativen Sackgasse erreicht. Im Rückblick war das wohl auch der Band bewusst. Denn, wie Andy Fletcher später erklärte, gab es für Depeche Mode eine Regel: »Wir wollten Sounds nie zwei Male verwenden. Und uns gingen zu diesem Zeitpunkt in großem Stil die Sounds aus«. Es ist nicht ganz klar, wer auf die Idee kam – die Manager ihrer Labels Mute oder Depeche Mode selbst – am Ende saßen zumindest Mutes Hausproduzent Mark »Flood« Ellis sowie der DJ und House-Produzenten Françoise Kevorkian im Studio. Und verhalfen Depeche Mode damit, sich selbst zu transzendieren.

Dass »Violator« eines ihrer erfolgreichsten Alben wurde, liegt aber auch daran, dass es ihr bestes ist. Und das haben sie vor allem dem Willen zu verdanken, sich nicht in ihrem festgefahrenen Stil und Arbeitsprozess zu verbeißen.

Vertrauen in die Disruption
»Violator« ist nur aufgrund dieser beiden das geworden, als was es heute noch gilt: Durchbruch und Neuerfindung von Depeche Mode. Blueprint-Synthese aus Experiment und Pop, Bluesrock und Synthesizermusik. Eines der größten Alben, das auch 30 Jahre später noch absolut frisch klingt. Zugegeben, François Kevorkian wird zwar oder nur als Fußnote genannt. Er war als Mixing Engineer jedoch der Frickler im Hintergrund, der entscheidend zur Soundperfektion beitrug, wie es Martin Gore in der Dokumentation herausstrich: »François war in allem, was er tat, so unglaublich pedantisch. Manchmal verschwand er einfach zwei Tage unter seinen Kopfhörern und bastelte an einer Hihat«.

Das treibende Momentum in dieser neuen Konstellation war bekanntermaßen Flood. Er hatte zuvor sowohl mit Rock- als auch Synthesizerbands gearbeitet. In Depeche Mode sah er die Chance einer Fusion der widerstrebenden Konzepte. Ein paar Jahre später würde er das mit Primal Scream perfektionieren. Flood war für Depeche Mode Visionär, Tutor und Disruptor. »Flood sagte uns quasi, dass unsere ganzen vorgefertigten Ideen, wie wir Musik machen, Scheiße sind«, erinnerte sich Andrew Fletcher an die Zusammenarbeit. Und auch Gahan gestand, dass alles, was Flood anbrachte, komplett neu für sie war. Flood selbst erinnert sich in seinen Vorträgen daran, dass insbesondere Martin Gore anfangs nicht gerade glücklich mit dieser Entwicklung war. »Enjoy The Silence« soll er bis zur Veröffentlichung des Albums abgelehnt haben. Das prägnante Riff für »Personal Jesus« hat er nur nach penetrantem Bitten von Flood ein einziges Mal durchgängig auf einer elektrischen Gitarre eingespielt. Eigentlich wollte er das Riff, wie gewohnt, als Loop sampeln und über die Synthesizer spielen. Gore ist dabei hoch anzurechnen, dass er Flood machen ließ. Dass er über seinen eigenen Schatten gesprungen ist und sein Ego untergeordnet hat. Für einen erfahrenen, erfolgreichen Songwriter ist das alles andere als selbstverständlich.

Von Schönheit und Dynamik
Darüber hinaus verstand Flood bestens, die einzelnen Fähigkeiten der Bandmitglieder herauszuarbeiten und zu aktivieren. Gore war klar der bessere Songwriter. Oftmals lieferte er die perfekte Melodie in einem einzigen Take. Doch Alan Wilder war Gore um Längen voraus, was das (Selbst-)Verständnis der aktuellen Musikszenen sowie die technischen Möglichkeiten betraf. Wenn Gore das Grundgerüst und das Narrativ von »Violator« geschrieben hat, gestaltete Alan Wilder den gesamten klanglichen Innenausbau.

Depeche Mode
Violator - The 12" Singles Collection
Sony • 2020 • ab 183.99€
Erst dieses neu geordnete Zusammenspiel ließ »Violator« entstehen. Die perfekten Melodien von Gore, die Sex verheißende Stimme Gahans, Fletchers punktgenaue Umsetzung an den Synths gab es bereits in den Jahren davor. Durch Alan Wilders neu entfesselte – von Flood aktiv geförderte – Experimentierfreude wurde das alte Erfolgsrezept jedoch in eine neue Dimension befördert. Denn wenn im Vordergrund die Melodien Gores eine fast universelle Schönheit spiegelten, sicherte Wilder mit seinen Myriaden an dynamischen, seltsamen Soundschnipseln den Spannungsbogen jedes Songs. Zuvor starre Songgebilde begannen zu fließen und zu rotieren.

Flood hat diese interne Reorganisation von Depeche Mode angestoßen und die Band damit nicht nur vor dem Vergessen bewahrt. Er hat in Depeche Mode den Höhepunkt ihres Schaffens, das Maximum ihrer Kreativität freigeschaltet. Er hat es geschafft, eine etablierte Band mit etabliertem Sound in die Wildnis zu schicken und glänzen zu lassen.


Die Musik von Depeche Mode findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/depeche-mode-pop/i:A435D2N186S6U9.)