Was Loredana Berté zu einer der größten italienischen Rocksängerinnen macht

20.09.2021
Foto:Mauro Baletti © Nar International
Loredana Bertè wird als »Königin des italienischen Rock« apostrophiert. Das greift nicht nur musikalisch zu kurz. Denn sie hat den Status quo nie repräsentiert, sondern als Außenseiterin aus Überzeugung wiederholt infrage gestellt.

Es gibt in der italienischen Sprache den sogenannten absoluten Superlativ, der schwer zu übersetzen ist. Ein Songtitel wie »Sei bellissima« von Loredana Bertè lässt sich nicht einfach mit »Du bist die Schönste« oder »Du bist schöner als alle anderen« übertragen. Stattdessen müssen holprige Wendungen her: »sehr schön«, »wunderschön« und so fort. Das Problem liegt darin, dass der absolute Superlativ im Vergleich zum herkömmlichen Superlativ kein Vergleich ist. Gemeint ist also in diesem Songtitel eine Schönheit, die irgendwie unvergleichlich ist. Die Art von Schönheit, die auch Bertès Schaffen innewohnt. Die Sängerin erreichte zwar nie den internationalen Kultstatus von Cantautori wie Franco Battiato und Lucio Dalla oder konnte Erfolge wie die Schmalz-Rocker Eros Ramazzotti oder Zucchero einheimsen, doch bleibt sie bis heute eine einzigartige Figur in der italienischen Musikgeschichte.

Geboren wird Bertè am 20. September 1950 in der Provinz Reggio Calabria. Gemeinsam mit ihren drei Schwestern wächst sie im Haus der Großmutter auf, derweil die Eltern anderswo ihrem Lehrberuf nachgehen. Der Vater ist gewalttätig, die Mutter abwesend und lieblos, die beiden lassen sich im Jahr 1962 scheiden. Es hält die junge Loredana dementsprechend nicht lange zu Hause und mit erst fünfzehn Jahren siedelt sie gemeinsam mit ihrer auf den Tag genau drei Jahre älteren Schwester Dominica nach Rom über. Das ist nur eben folgerichtig für eine, die kaum eine Dekade später »meglio libera che stupida« (»besser frei als dumm«) singen wird. Die Zeit dort sei die glücklichste ihres Lebens gewesen, soll sie später sagen.

Schon mit zwölf Jahren hatte Bertè mit dem Tanzen angefangen und führt das in der Hauptstadt fort. Nicht aber an der Tanzschule, sondern auf den Brettern des Piper Club, einer Diskothek, in der sich die Beat-Szene der Stadt trifft. Es sind nicht nur musikalisch, sondern auch politisch bewegte Zeiten. Das Jahr 1968 habe sie als Sängerin begleitet, sagte Bertè, obwohl sie »von Politik keine Ahnung hatte«, wie sie zwanzig Jahre später in einem Interview im schwedischen Fernsehen zugibt. Was nur eben nicht heißt, dass sie und ihre Auftritte nicht immer wieder zum Politikum wurden. Denn Bertè macht dem Zeitgeist entsprechend das Persönliche dazu. Auch wenn sie sich im Laufe ihrer Karriere nie selbst als Feministin inszeniert: Ihre (Selbst-)Inszenierung wird in den kommenden Jahrzehnten wieder und wieder Impulse für den feministischen Diskurs in Italien geben.

»Das hat nichts mit Moral zu tun«

Über das Umfeld des Piper hatte die Teenagerin Renato »Zero« Fiacchini kennenlernt, der für lange Zeit ihr kreativer Partner sein sollte. Gemeinsam bringen sie Tanz, Gesang und Schauspiel auf die Bühne, während Loredana Bertè als Teil eines Ensembles das Showgirl Rita Parvone auf ihren Tourneen durch die Welt begleitete. Während eines Aufenthalts in New York wohnt sie einer Aufführung des Musicals »Hair« bei und ist vor allem von der Figur Jeanie beeindruckt. Unter der Führung von Bill Conti tritt sie selbst bei der italienischen Uraufführung des Musicals auf und beginnt so über Umwege auch ihre Karriere als Sängerin – natürlich mit einem handfesten Skandal, denn Jeanie ist auch nackt zu sehen.

Eine Weile lang hilft Bertè bei der Musik ihrer mittlerweile unter dem Namen Mia Martini bekannten Schwester Dominica für unter anderem die Single »Bolero« aus, tritt am Theater zunehmend als Sängerin auf und nimmt auch an der Aufführung der ersten italienischen Rock-Oper, »Orfeo 9«, auf. Film und Fernsehen finden zunehmend Interesse an ihr, genauso allerdings der italienische Playboy. Sie sagt allem zu, tritt in einer Reihe von Serien und Filmen auf und lässt sich für das Cover des Magazins ablichten. Der noch größere Skandal für die aufstrebende Künstlerin allerdings heißt »Streaking«, ihr im Jahr 1974 veröffentlichtes Debütalbum.

Der Titel – der englische Ausdruck für »Flitzen« – kommt nicht von ungefähr: Für das Album-Artwork posiert sie unbekleidet. Doch geht die LP auch über die rein visuelle Ebene hinaus mit dem gleichermaßen katholisch wie machistisch geprägten Land auf Konfrontationskurs. Bertè singt fast ausschließlich über Sex und flucht auch noch so explizit, wie das in dieser Zeit sonst allerhöchstens den Männern vorbehalten ist. »Voi dite sempre ›non si fa‹, no, no non è moralità« (»Ihr sagt ständig: ›Das macht man nicht‹, aber nein, das hat doch nichts mit Moral zu tun«) hält sie der Kritik im Song »Parlate di moralità« (»Ihr redet von Moral«) entgegen. Allein, es hilft nichts: Das Album wird kurzzeitig durch die Zensur vom Markt genommen.

Pasta für Warhol

Bertè wäre aber nicht Bertè, wenn sie sich davon abhalten ließe. Nachdem das von Enrico Riccardi produzierte »Streaking« bereits zwischen Proto-Post-Punk, Stadion-Prog-Rock- und Funk-Anleihen oder klassischem Rock auf Blues-Basis den Fokus weniger auf Bertès gesangliche Qualitäten denn vielmehr auf ihre Performance gelegt hatte, folgt im Jahr 1975 »Sei bellissima«. Die Power-Ballade beschert ihr nicht nur die Anerkennung der Kritik, sondern auch ihren ersten großen kommerziellen Erfolg, ruft aber wieder die Zensur auf den Plan. Denn der im Stück besungene Mann sagt ihr ausgerechnet im Bett, dass sie kaum mehr wert sei als nichts. Zuerst ist das Stück, das bis heute als Klassiker der italienischen Rock-Musik gilt, deshalb nur in einer entschärften Version erhältlich. Torch Songs haben in Italien eine lange Tradition, Verweise auf sexuelle Machtstrukturen werden aber nicht gerne gehört.

»Sei bellissima« gibt Bertè die Gelegenheit, ihr größtes Talent auszuspielen: flüsternden Sprechgesang und gellendes Geschrei in ein und derselben Melodie zu vereinen. Selbst in den pathetischsten Balladen bricht sich in ihrem angerauten Gesang ein widerständiger Geist die Bahn. Auf ihrem zweiten Album »Normale o super« spielt sie im Jahr 1976 dieses Talent erstmals voll aus. Begleitet wird sie dabei von ihrem damaligen Lebensgefährten, dem Songwriter und Produzenten Mario Lavezzi. Für fünf Alben arbeiten die beiden miteinander. In dieser Zeit betritt Bertè zunehmend ausdifferenziertere musikalische Pfade: Bedienen sich die ersten Alben noch weitgehend aus allen Stimmungsfarben und Stilen der Rockmusik, veröffentlicht sie mit »E la luna bussò« (»Und der Mond klopfte«) im Jahr 1979 den wohl ersten italienischen Mainstream-Reggae-Song.

Nachdem sie mit – der ebenfalls wegen einer Zeile der Zensur zum Opfer gefallenen – Single »Dedicato« ihren bisher größten Hit gefeiert hatte, verdankte sie »E la luna bussò« einem Besuch in Jamaika, bei dem sie auch Bob Marley live erlebt. Der Song ist einer der wenigen ihrer langen Karriere, der auch außerhalb Italiens für Aufmerksamkeit sorgt, doch wird Bertè darüber nicht vollends zur Reggae-Sängerin. Schon auf dem im Jahr 1980 veröffentlichten Album »LoredanaBertE’« wendet sie sich auf Stücken wie »In alto mare« dem Funk zu, nimmt in New York ein Album mit dem paradoxen Titel »Made in Italy« auf und gewinnt für das Musikvideo der Lead-Single keinen Unbekannten als Mitwirkenden: Andy Warhol steuerte Bilder zu »Movie« bei, nachdem er von Bertè erst mit Pasta bekocht wurde und sie im Gegenzug ins Studio54 mitgenommen hatte.

Eine Karriere im Gleitflug, eine Welt voller Möglichkeiten

Bertè ist kaum aufzuhalten, wie auch »Non sono una signora« (»Ich bin keine Dame«) beweist. Das wie so viele ihrer Erfolgssongs aus dieser Zeit wird von Ivano Fossati geschrieben und ist auf dem Album »Traslocando« (»Beim Weiterziehen«) zu finden, für welches sie ihre erste Platin-Auszeichnung erhält. Der Nachfolger »Jazz« toppt das noch, markiert genauso aber eine endgültige musikalische Neuorientierung in Richtung elektronischem Pop – der Titel ist alles andere als wörtlich gemeint.

Doch der Erfolg hält nicht an, und Bertès Karriere geht langsam in den »volo a planare« über, den Gleitflug, von dem Bertè noch in »Non sono una signora« gesungen hatte. Stören mag sie das allerdings nicht, denn schließlich haben ihr die vergangenen Erfolge eine Welt voller kreativer Möglichkeiten eröffnet. Auf der LP »Carioca« tritt sie erstmals – »im Guten wie im Schlechten«, wie sie später scherzt – als Produzentin auf. Ihre Musik ist zunehmend von den Einflüssen Djavans, einem von ihr bewunderten Vertreter der Música Popular Brasileira geprägt, dessen Repertoire sie auch auf »Carioca« neu interpretiert.

Weniger aber wird sie über ein Jahrzehnt nach ihrem aufsehenerregenden Debüt wegen ihrer musikalischen Arbeit, sondern in erster Linie ihrer provozierenden Auftritte wegen wahrgenommen. Bei einer Ausgabe des Festival di Sanremo – die Blaupause für den Eurovision Song Contest – tritt sie als Schwangere verkleidet auf die Bühne. Es ist nicht der einzige ihrer insgesamt zehn Auftritte dort, der für Wirbel sorgt: Im Jahr 1997 etwa wird, Bertè ist es schließlich gewohnt, aus ihrem Song »Luna« die erste Zeile gestrichen: »Vaffanculo luna!« (»Fick dich, Mond!«).

Doch sind es weder die ausbleibenden kommerziellen Erfolge noch die Sittenwacht, die dafür sorgen, dass sich Bertè ab Ende der 1980er Jahre für eine Weile aus der Musikwelt zurückzieht. Denn sie heiratet den ehemaligen Tennisspieler Björn Borg, der sich ihrem Werdegang entschieden in den Weg stellt und dem es wichtiger ist, gemeinsam mit ihr als Gast von George H. W. Bush im Weißen Haus die Hand von Osama bin Laden zu schütteln, als ihren Tourplan einzuhalten. Abgesehen von einem durchwachsenen Sanremo-Auftritt im Jahr 1991 tritt sie während der kurzen Ehe kaum live auf, veröffentlicht keine Musik und leidet offensichtlich unter den Umständen: Im April 1991 wird sie nach einem Selbstmordversuch in eine Mailänder Klinik gebracht, kaum ein Jahr später erleidet sie einen Nervenzusammenbruch.

Im Herzen totale Dunkelheit

Doch die Frau, die einst die Zeilen »meglio libera che stupida« sang, lässt den kontroll- und drogensüchtigen Borg hinter sich, unterschreibt einen Plattenvertrag und geht wieder ins Studio. Vor allem aber versöhnt sie sich nach Jahren der Entfremdung erneut mit Mia Martini und tritt mit der Schwester gemeinsam im Jahr 1993 mit dem Song »Stiamo come stiamo« (»Wir sind, als wären wir«) in Sanremo auf. Die von der mittlerweile auch als Textautorin aktiven Bertè verfassten Lyrics sind impressionistisch und ahnungsvoll. »Stiamo come stiamo usati di seconda mano / Nel cuore un buio totale« (»Wir sind wie gebraucht aus zweiter Hand / Im Herzen totale Dunkelheit«). Das Comeback Bertès scheint ambivalent.

Die Zeit mit ihrer Schwester wird auch nur von kurzer Dauer sein. Hatte Loredana noch im Jahr 1994 auf dem Song »Amici non ne ho« (»Ich habe keine Freunde«) noch unter Hinweisen auf ihren Suizidversuch ein eindringliches Bild ihrer inneren Verfasstheit gezeichnet, muss sie im Folgejahr den Verlust ihrer Schwester hinnehmen. Dominica stirbt am 14. Mai 1995. Dem Tod waren körperliche Beschwerden vorausgegangen, die Obduktion jedoch ergab, dass die Sängerin an einer Überdosis Drogen gestorben war. Der Verdacht eines Suizids wird nie vollständig ausgeräumt. Für Loredana bedeutet der Tod der Schwester einen schwerwiegenden Einschnitt: »Für zwei Jahre lang habe ich mich zu Hause eingesperrt und die Decke angestarrt.« Dann aber macht sie, weil sie muss, wieder Musik, über der fortwährend der Schatten Dominicas schwebt.

»Die Jahre vergingen und es war mühsam und unvergleichlich hart, diesen Beruf auszuüben.«

Loredana Bertè

Seit den 1990ern bleibt Bertè weiterhin aktiv und produktiv. Sie liefert im Jahr 2005 mit dem Album »Babybertè« ein Karriere-Highlight ab, sorgt wiederholt bei Sanremo wegen unter anderem eines Plagiats für Furore, arbeitet mit etwa Asia Argento, Ivana Spagna und Gigi D’Alessio zusammen und bleibt darüber die große Außenseiterin der italienischen Musikwelt. Nicht immer freiwillig, meistens aber aus Überzeugung. »Ich habe mich immer hinabgestürzt, ich bin in die Dunkelheit gesprungen«, fasst sie im Jahr 2010 ihre Zeit nach Mitte der 1980er in einem Interview für die Fernsehsendung Mr. Fantasy zusammen. »Die Jahre vergingen und es war mühsam und unvergleichlich hart, diesen Beruf auszuüben.« Es habe ihr bisweilen schlicht nicht gefallen, weiterhin zu singen. Mehr noch aber habe ihr die »provinzielle Mentalität« missfallen, mit der sie sich im Laufe ihrer Karriere auseinandersetzen musste.

Nacktheit ja, Widerspruch nein

Aus heutiger Perspektive scheint all das kaum noch mehr zu zählen und das nicht nur, weil sich die Zeiten geändert haben – sondern auch, weil Bertè sie selbst verändert hat. Die junge Frau, die im Jahr 1968 keine Ahnung von Politik hatte, machte selbst welche, ob mit ihren Lyrics oder mit bloßem Körpereinsatz. Mit 71 Jahren ist die mittlerweile mit blau gefärbten Haaren auftretende Bertè mittlerweile wieder in den Charts vertreten und wurde sogar zwischendurch vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Rai Uno mit einer Dokumentation zur »Regina del Rock italiano« (»Königin des italienischen Rock«) gekürt, auch wenn das allein schon in musikalischer Hinsicht zu kurz greift.

Als am 20. September 2020 unter dem ungelenken Titel »70th One Year Celebrating« eine ganzjährige, von einer umfassenden Reissue-Kampagne ihres Frühwerks begleitete einjährige Feier ihres musikalischen Schaffens angekündigt wurde, bot das schließlich Anlass zum Rückblick auf ein knappes halbes Jahrhundert im Showgeschäft. Deutlich wird dabei vor allem, wie selbstbewusst bis gezielt renitent Bertè ihre eigene Stellung als Frau in einer Welt reflektierte, die ihr vielleicht ihr Auftreten nachsah und doch ihre Worte zu zensieren versuchte. Nacktheit ja, Widerspruch nein.

Und obgleich Bertè spät angefangen haben mag, selbst als Texterin in Erscheinung zu treten, zieht sich neben all den klaren Ansagen doch eine Melancholie, bisweilen gar existenzielle Schwere durch ihre Songs – »buio«, »Dunkelheit«, ist ein Wort, das genauso häufig in ihnen auftaucht wie der Mond und die Nacht einen Auftritt darin haben – die selbst in den Momenten noch über sich hinaus wirkt, in denen sich Bertè dem musikalischen Konsens ihrer Zeit angenähert hatte.

Wobei sie gerade das vor allem mit ihrem Frühwerk eben nicht tat. Wie Bertès gleichermaßen ausdrucksstarker wie wandelbarer Gesang selbst formulaischen Rock-Songs ein sonderbares Eigenleben einhauchen konnte, so bewies sie wieder und wieder ein Gespür dafür, die ihr gegebene Palette stilistisch zu erweitern und damit die Musikwelt im Ganzen zu bereichern: Reggae, Funk, brasilianische Musik waren zumindest im italienischen Kontext reine Randerscheinungen, bis sich Loredana Bertè ihnen annahm und ausgehend von ihnen neue Formen schuf. Bis heute scheinen sie irgendwie unvergleichbar.