Review

Roly Porter

Kistvaen

Subtext • 2020

Um selbst noch nach dem Tod gen Sonne blicken zu können, bestatteten die neolithischen Bewohner Südenglands manche ihrer Angehörigen in tonnenschweren Steingräbern, die aus mehreren mannsgroßen Felsenplatten zusammengesetzt und in Richtung unseres Zentralgestirns ausgerichtet wurden. Die meisten dieser 4.000 bis 5.000 Jahre alten »Kistvaen« sind heute leer oder in den Tiefen des Dartmoors begraben. Zahlreiche Mythen und Geschichten der Populärkultur ranken sich um diese Gegend, manche wahr, die meisten erfunden. Faszinierend bleiben indes die immer wieder gehobenen archäologischen Funde und die aus ihnen abgeleiteten Riten, denen Menschen hier nachgingen, als am anderen Ende der Welt gerade die Indusschrift erfunden wurde. Über die genaue Bedeutung der Kistvaens besteht nach wie vor Unklarheit. Roly Porter interpretiert sie auf seiner mittlerweile vierten Arbeit für das famose Bristoler Label Subtext als Zeitportale, als Spiegel archaischer Geisteszustände, die in ihrer emotionalen und sozialen Tragweite bis heute relevant sind – der Tod beschäftigt uns schließlich immer noch so sehr, dass wir fieberhaft nach naiven technologischen Auswegen suchen, etwa im Transhumanismus oder in virtuellen Realitäten. Die sechs Stücke dieses Albums schaffen durch das Aufspannen von kolossal dröhnenden Klangkulissen, Field Recordings und partieller Folk-Instrumentierung einen Brückenschlag zwischen prähistorischen Motiven von Vergänglichkeit und Wiedergeburt und zeitgenössischem Sounddesign, das jeden Beat zugunsten absorbierender Räumlichkeit hinter sich gelassen hat. Nicht zuletzt wegen der ehrfurchtgebietenden und sorgsam inkorporierten Stimmen von Mary-Anne Roberts (Bragod), Ellen Southern (Dead Space Chamber Music) und Phil Owen (Gesangsforscher) ist »Kistvaen« eine in jedem Sinne profunde Erfahrung, die mit der Wucht von Äonen vergegenwärtigt, dass der Tod wohl tatsächlich nur ein Übergang ist.