Records Revisited: Gil Scott-Heron – Pieces Of A Man (1971)

19.04.2021
Man nannte ihn den »Godfather of Hip Hop«, weil er über Drogen, Rassismus und die Divided States of America textete. Mittlerweile ist das erfolgreichstes Album von Gil Scott-Heron 50 Jahre alt – und aktueller denn je.

Der Mensch kommt zur Welt, lebt und stirbt. Niemand verlässt diesen Kreislauf, egal wie groß das Bedürfnis ist, ihn zu durchbrechen. Deshalb erzählt der Mensch, woher er kommt und wie er lebt – mit seinen Worten und Handlungen und als Antwort auf die Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Gil Scott-Heron, der 1949 in Chicago zur Welt kommt und 2011 in New York stirbt, hat in seinen 62 Lebensjahren viel erzählt. Von einer Nation, die auf den Grundpfeilern von Rassismus und falschen Versprechen gebaut ist. Von einer Zukunft, in der die politische Ermächtigung seiner »Brüder« und »Schwestern« Realität wird. Und von Kindern, denen es einmal besser geht, weil sie nicht mehr wegen ihrer Hautfarbe umgebracht werden.

Scott-Heron wird als Kind einer Schwarzen Opernsängerin und eines jamaikanischen Fußballers geboren. Die Eltern trennen sich, er wächst bei seiner Großmutter in Kentucky auf. Zuhause hört er Platten von Billie Holiday, in der Schule ist er einer der wenigen »Nicht-Weißen«, wo die Diskriminierung seiner Hautfarbe so tief verankert ist wie das Second Amendment in den Schädeln der Rednecks. Die Flucht aus dem Süden nach New York führt zur Offenbarung. In Harlem trifft Scott-Heron auf Beat-Poeten wie Amiri Baraka, der Ende der 1960er Jahre zu einer der zentralen Köpfe der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegungen gehört. Als am 4. April 1968 Martin Luther King Jr. ermordet wird und über 100 Städte brennen, sitzt Scott-Heron am Campus des Lincoln-Colleges in Pennsylvania. Er schreibt auf, was er sieht, was er hört. Und was er sich vorstellt: »The revolution will not be televised«

Mit »The Revolution Will Not Be Televised« knallt Gil Scott-Heron einer Nation den Spiegel vor die Fratzen, die zu sehr mit hyperkapitalistischem Konsum beschäftigt sind, um sich um die Revolution zu kümmern.

Am Lincoln-College trifft Scott-Heron auf den hochbegabten Brian Jackson. Während der eine an Texten tüftelt, sitzt der andere am Rhodes-Piano und spielt: Funk, Jazz, R’n’B. Scott-Heron bekommt die Gelegenheit, seine Gedichte zu vertonen, die ohnehin einem inneren Rhythmus folgen, mit Worten jonglieren – und von einer Realität erzählen, die nicht zur Primetime über den Bildschirm flimmert. Als Geschichts- und Politik-Student, der zu der Zeit einen riesigen Afro trägt, saugt er die popkulturellen Referenzen der Sechziger auf, und legt sie auf eine politische Protestmusik der Siebziger um. Nachdem er mit 20 seinen ersten Roman »The Vulture« veröffentlicht, klingelt sein Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Bob Thiele. Jener Mann, der drei Jahre zuvor mit »What A Wonderful World« einen Welthit schrieb und mit den Jazz-Granden wie John Coltrane zusammenarbeitete, will ihn im Studio sehen. Es ist Zeit für die Revolution.

Thiele hat kurz zuvor Flying Dutchmen Records gegründet und verschafft Scott-Heron seinen ersten Plattenvertrag. 1970 erscheint eine Live-Aufnahme aus einem New Yorker Kellerclub. Nur mit Conga-Begleitung rezitiert Scott-Heron ein Lied, das ihn berühmt machen und 1971 auf seiner ersten Studioaufnahme zur kapitalismuskritischen Hymne ausproduziert wird. Mit »The Revolution Will Not Be Televised« knallt er einer Nation den Spiegel vor die Fratzen, die zu sehr mit hyperkapitalistischem Konsum beschäftigt sind, um sich um die Revolution zu kümmern. Manche verstehen den Song als Drohung zum Aufstand, zur Loslösung von einer apathischen Öffentlichkeit, die Scott-Heron als »muckracker«, als Skandalmacher gewaltsam hervorrufe. Doch der Autor widerspricht. Der Song sei ein Aufruf an die schwarze Gemeinschaft, die Besessenheit vom amerikanischen Materialismus aus dem Kopf zu kriegen und auf das Hecheln nach dem »American Dream« zu scheißen, um sich stattdessen mit sozialen und politischen Themen zu beschäftigen.

Es zeigt sich, dass Gil Scott-Heron das Talent hatte, gesellschaftspolitische Themen in Songs zu verpacken, die nicht wie ein Master-Seminar in politischer Theorie klangen, aber dazu führen konnten, sich für eines einzuschreiben.

»Gleichzeitig war das Satire«, erklärt Scott-Heron Jahre später. »Die Leute versuchten zu argumentieren, dass es eine militante Botschaft in dem Song gab«, sagt er zu Brad Schreiber, Autor von »Music Is Power«. »Aber wie militant kann man wirklich sein, wenn man singt: ›The revolution will not make you look five pounds thinner?‹« In dieser Aussage zeigt sich, dass Scott-Heron das Talent hatte, gesellschaftspolitische Themen in Songs zu verpacken, die nicht wie ein Master-Seminar in politischer Theorie klangen, aber dazu führen konnten, sich für eines einzuschreiben. Schließlich müsse man zuerst das Denken verändern, bevor man sein Leben ändern könne, so Scott-Heron, denn »die Revolution ist keine Sache, die einfach passiert.« Wenn dieses Verlangen nach Wut klang, dann nur, weil ihr Kummer und Leid vorausgingen. Vom titelgebenden Song des Albums über seine Hymnen-Hommage an »Lady Day and John Coltrane« bis hin zu »The Prisoner«, der neuneinhalb Minuten Ballade, streift der 21-jährige Scott-Heron durch düstere Hinterhöfe und persönliche Abgründe. Die Enttäuschung von einer Welt, die sich nicht ändert, prallt hier bedingungslos auf die Machtlosigkeit der Einzelnen, die sie nicht ändern wollen.

Scott-Heron hält seine Verzweiflung nicht zurück, sondern schüttet sie aus, um die Möglichkeit der Veränderung in sich selbst zu suchen – und andere in dieselbe Richtung zu führen. Es ist eine gewaltlose Katharsis, ein Angebot zum Nachdenken, eine Möglichkeit zur inneren Veränderung, um äußere folgen zu lassen. Hört man »Pieces Of A Man«, würde man nie auf die Idee kommen, sich urplötzlich ein Bandana ins Gesicht zu ziehen, um den nächsten Walmart zu plündern. Das Album zündet keine Molotov-Cocktails, weil Wut keinen Antrieb verschaffen, zu schnell verpuffen und in eine unterdrückte Traurigkeit übergehen würde. Man spürt vielmehr den Schmerz, den Scott-Heron offenlegt als würde er an einem aufgeschnittenen Brustkorb hantieren. Auf Ebene der Emotionalität, die von privater Enttäuschung in öffentliche Verletzlichkeit führt, fußt das Potenzial dieser Platte. Darin findet man seine Aktualität. Über 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung muss man sich diesem Schmerz noch immer stellen. Es hat sich vieles getan, aber nichts verändert. Noch nicht, würde Scott-Heron sagen – weil es noch viel zu erzählen gibt.

Gil Scott-Heron
Pieces Of A Man HHV Exclusive Transparent Green Vinyl Edition
BGP • 1971 • ab 24.99€