Die 10 besten Musikbücher des Jahres 2023

01.12.2023
Es wird ja viel geschrieben in diesen Tagen. Auch über Musik. Aber müssen wir das alles lesen? Nein, nicht alles, aber diese Musikbücher von 2023 eben schon.

Es hatten in den vergangenen dreieinhalb Jahren ja sehr viele Menschen sehr viel Zeit. Deshalb erscheinen weiterhin sehr viele Bücher. Die meisten von ihnen werden gar nicht erst fürs Publikum, sondern gleich für den Coffeetable geschrieben und tragen entweder bescheuerte Titel nach Light-In-The-Attic-Formel (»Getanzt wird mit dem Arsch zuerst: Northern Soul in der Flensburger Förde 1966-1987«) oder bestehen aus nicht mehr als ein paar zusammengetackerten Rave-Flyern von anno dazumal. Leute, das haben all die Bäume echt nicht verdient!

Es gibt aber auch nennens- und empfehlenswerte Ausnahmen. Wilde Geschichtenerzählungen aus dem Kontext spinnerten Privatmythologien, ersthafte Lückenauffüllungen in Sachen Musikgeschichte, Theorien zu Past, Present, Future sowie zwischendurch noch solche Bücher, die das gesprochene beziehungsweise geschriebene Wort musikalisch weiterdenken oder gar direkt fotografisch historisierende Standortbestimmungen vornehmen. 

Hier sind 10 Bücher, die den einen oder anderen Baum wert waren. Kristoffer Cornils


Christian Pfluger
Wie Die Lia Laternenmacherin Wurde Und Weitere Geschichten
Ventil • 2023 • ab 26.99€

Christian Pfluger ist ein transmediales Trio: Die Weltraumforscher gibt es dank ihm seit 1981 in Ton, Film, Bild und Text. Zuletzt hat das megalomanische Outsider-Art-Projekt des Schweizers wegen der zahlreichen Compilations zu den internationalen Kassettentäterszenen und Releases auf unter anderem New York Haunted, A Colourful Storm und vor allem Bureau B ein breiteres Publikum gefunden. Zu diesen guten Adressen gesellt sich nun der Ventil Verlag, der mit »Wie die Lia Laternenmacherin wurde und weitere Geschichten aus der Weltraumforschung« Pflugers literarische Psychonautik neben seine kosmisch-gothischen Illustrationen setzt. Das perfekte Buch für alle, die ganz weit weg wollen.

Kristoffer Cornils
Daft Punk
We Were The Robots 2nd Edition (A Disco Pogo Tribute)
Disco Pogo • 2023 • ab 37.99€

Erstes Interview, erstes Cover, erstes Fax, erstes Shooting ohne Helm – das UK-Fanzine Jockey Slut war bei Daft Punk damals ganz nah, sagt zumindest Wikipedia und dort wird ja selten gelogen. Die Wahrheit ist ohnehin nur eine Sekundärquelle entfernt, also reproduziert man schleunigst weiter: alte Interviews, neue Interviews, vollgekritzelte Servietten und noch mehr Fotos, zum Beispiel von den gesammelten Geräten zum ersten, zweiten und dritten Album. Alles super, weil, ich mein: »We Were The Robots«!

Christoph Benkeser
Jamel Shabazz
Faces And Places 1980-2023
Galerie Bene Taschen • 2023 • ab 50.00€

Die fünfte Säule des Hip-Hop sind Fotos. Jamel Shabazz dokumentiert seit über vier Jahrzehnten – und also fast seit Anfang an – die Szene und die Stadt, in der sie einst entstand. »Faces and Places 1980-2023« ist im Grunde ein Ausstellungskatalog des Fotografen, der bereits mit 21 Jahren schlagartig durch das ikonische Bild »A Time of Innocence« berühmt wurde und weniger spezifisch als sein explizit auf Hip-Hop-Kultur fokussiertes Buch »Back in the Days«, fängt dafür aber eben auch das Leben drumherum ein. Denn das tragende Fundament dieser Säulen heißt nach wie vor New York.

Kristoffer Cornils
Joel Selvin
Down Home Music: The Stories And Photographs Of Chris Strachwitz
Chronicle Books • 2023 • ab 34.99€

Über den Blues, den Jazz, den Funk und Soul ist, genauso wie über Hip-Hop ausreichend viel geschrieben worden. Weniger Beachtung bekamen stets die regionalen Traditionen schwarzer US-amerikanischer Musik, die jenseits von Folkways nie ausreichend in Ton und Text dokumentiert wurden. Joel Selvin widmet mit »Arhoolie Records Down Home Music: The Stories and Photographs of Chris Strachwitz« einem DIY-Archivisten von Roots-Musik wie Zydeco und anderen Genres – keine Sorge, ein paar bekannte Namen aus dem Blues etwa sind auch dabei – ein liebevoll aufgemachtes Buch, das mit Text und Ton jede Menge Wissenslücken zu stopfen vermag.

Kristoffer Cornils
Kate Bailey
Diva: Celebrate The Power And Creativity Of Iconic Divas Of Opera, Stage, Popular Music, And Film
V&A • 2023 • ab 34.99€

Im Jahr 2023 feierte Britney Spears auf gleich mehrere Arten ein Comeback und brachte damit etwas Exzentrik in ein Popgeschäft, dessen größte Stars mittlerweile Hochglanzprodukten aus Teflon gleichen. Spears hat – neben etwa Aretha Franklin, Prince und Rihanna – natürlich auch einen Gastauftritt in der von Kuratorin Kate Bailey herausgegebenen »Diva: Celebrate the Power and Creativity of Iconic Divas of Opera, Stage, Popular Music, and Film«. Es ist ein vergleichsweise kurzes und doch reichhaltiges Buch über einen Begriff, der oft Anwendung findet und bisher nur selten untersucht wurde.

Kristoffer Cornils
Matt Anniss
Join The Future: Expanded & Updated Edition
Velocity Press • 2023 • ab 19.99€

Die Vergangenheit ist auch nur aktualisierte Erinnerung in der Gegenwart, deshalb: Neuauflage des Bleep-Bass-Standardwerks »Join The Future«. Der verkappte Jungleist Matt Anniss trug dafür schon für den ersten paar hundert Seiten viele Interviews mit zum Beispiel den Leuten von Warp, LFO und so weiter zusammen. Jetzt sind es noch ein paar mehr Seiten und Interviews, außerdem gesellt sich zum Vorwort auch ein Nachwort, schließlich hat noch immer jemand etwas zu erzählen und mussten ein paar Erzählstränge über die Vergangenheit korrigiert werden. Frauen sind in dem Buch zwar nicht so, die waren in den späten Achtzigern aber sicher einfach woanders.

Christoph Benkeser
Noel Meek & Mattin
Homage To Annea Lockwood
Recital • 2023 • ab 26.99€

Annea Lockwood verabschiedete sich in diesem Jahr mit einem beeindruckenden Album von ihrer langjährigen Partnerin Ruth Anderson und Room40 legte mit »The Glass World« das wohl beste Album der neuseeländischen Klangkünstlerin und Komponistin neu auf. Fehlt noch: das Buch. Die Profi-Nerds Noel Meek und Mattin haben im Austausch zwischen NZ und dem Baskenland eine »Homage to Annea Lockwood« vorgelegt, die auf einem langen Interview mit ihr basiert und sogar von einer CD begleitet wird, auf der Kompositionen zu hören sind, die auf der Struktur des Gesprächs basieren. Das ist schließlich sehr, sehr Lockwood.

Kristoffer Cornils
Rick Rubin
The Creative Act: A Way Of Being
Canongate • 2023 • ab 31.99€

Ich kenn Rick Rubin als Zottelbär, der eigentlich alle Platten dieser Welt produziert hat und jetzt immer mal wieder bei TikTok auftaucht, wo er als schrulliger Sonnenbrillen-Gandalf seine Geheimnisse ausplaudert, zum Beispiel: »The Creative Act«. Es geht ums Sein, das Menschliche, ein Universum! Davon braucht man als Künstlerin, die man entweder ist oder zu sein beabsichtigt, eher mehr als wenig. Deshalb hat das Buch 432 Seiten und wiegt so viel, wie es wiegt und alle, die es gelesen haben, sagen, dass man es gelesen haben muss. Rick Rubin, Leute!

Christoph Benkeser
Simon Reynolds
Futuromania: Elektronische Träume von der Zukunft
Ventil • 2023 • ab 28.99€

Der Retromane Simon Reynolds hat ein Buch namens »Futuromania« über die sogenannte Zukunft geschrieben und dafür konsequenterweise ein paar Essays aus der Vergangenheit abgestaubt – von Donna Summer bis Boards of Canada. Sein Zwischenfazit: »Die Zukunft hat ihren Glanz verloren.« Ja, puh, wenn der 60-jährige Dude das sagt, wird es wohl stimmen. Dass spannende Mukke gerade nicht nur aus Europa und den Staaten kommen muss, haben ihm ein paar kluge Köpfe zwar schon erklärt, aber so viel Zukunft hat er, Achtung O-Ton: »gar nicht mehr vor mir (lacht!)«.

Christoph Benkeser
Tine Fetz / Daniel Scheider
Places: Vergangene Orte der Berliner Club- und Subkultur
Ventil • 2022 • ab 21.99€

Hast du gewusst, dass David Lynch eine Uni in der Ex-Spionagestation auf dem Berliner Teufelsberg gründen wollte? Ähhhhjein? Genau wegen dieser oder anderer Nutzloses-Nerd-Wissenschaft sollte man »Places« über die Hauptstadt-Subkultur kaufen. Da geht’s in den zweisprachig wiedergegebenen Texten von Daniel Schneider schließlich um die Neunziger, Berlin sowieso und weil es dort früher neben Ostgut, Walfisch und dem alten Tresor noch ein paar andere Clubs gab, gibt es auch eine schöne Karte mit vielen Bildern – alle gezeichnet von Tine Fetz, für die allein man die Kohle locker machen kann.

Christoph Benkeser